13.01.2020. Maren Kames zündet ein poetisches Feuerwerk mit David Bowie und Friedrich Schiller, Dorota Maslowska rappt rhythmisch, rau und unbändig über das Leben in Warschauer Plattenbauten, Tim Flannery entfaltet ein funkelndes Panorama der ersten 100 Millionen Jahre Europa und Ulrich Pfisterer erdet Raffael. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturDorota MaslowskaAndere LeuteRoman
Rowohlt Berlin Verlag. 160 Seiten. 18 Euro
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Dieser Roman ist ein "
dröhnendes High-
Energy-
Erlebnis", jubelt im
Dlf-Kultur ein hingerissener Carsten Hueck über den neuen Roman der polnischen Autorin Dorota Maslowska, die ihren literarischen Durchbruch 2000 als 18-Jährige mit "Schneeweiß und Russenrot" feierte. Drei Tage lang lässt uns Maslowska in die Schicksale der Bewohner einer
Warschauer Plattenbau-Siedlung blicken, die sich in Drogen und Affären flüchten und alle in einer Versuchsanordnung aus Liebe und Betrug miteinander verbunden sind. Hier lernt der Leser mehr über die Demokratiemüdigkeit, den Hass und die
Hoffnungen der Abgehängten als aus manchem soziologischen Forschungsbericht, versichert Tomasz Kurianowicz in der
Zeit. Ein einziges, von Olaf Kühl grandios übersetztes "Rap-Gedicht", so der beeindruckte Kritiker. "Rhythmisch, rau, unbändig, herablassend und wütend", meint auch Carsten Hueck, der selten so sprachgewaltig von einer kaputten Gesellschaft gelesen hat. Ein "messerscharfes,
dichtes Gesellschaftsporträt",
lobt Julia Riedhammer im
RBB Kultur.
Louise ErdrichDie Wunder von Little No HorseRoman
Aufbau Verlag. 509 Seiten. 24 Euro
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So unbekannt, wie Felix Stephan in seiner
SZ-Kritik schreibt, ist Louise Erdrich hierzulande gar nicht: Erst vergangenes Jahr erschien ihr Roman
"Der Gott am Ende der Straße" auf Deutsch, gerade wurde ihr Roman
"Der Gesang des Fidelis Waldvogel" für die
ARD verfilmt. Jetzt ist ihr im amerikanischen Original bereits 2001 erschienener Roman "Die Wunder von Little No Horse" ins Deutsche übertragen worden und die KritikerInnen sind begeistert: Erdrich, als Tochter eines Deutschen und einer Indianerin in North Dakota geboren, erzählt die Geschichte des
imaginären Indianerreservats Little No Horse und seines Seelsorgers Father Damien, der mit seiner Identität hadert, denn:
Er ist in Wahrheit eine Frau. Wie Erdrich vom Zusammenstoß der Kulturen erzählt, von den Konflikten zwischen Ureinwohnern und Einwanderern, findet Stephan subtil. Zudem lobt er, dass sie die
Sprache der Ojibwe gelernt hat und deren tradierte Mythen und Erzählformen in ihren Texten weiterleben lässt. Auch
FAZ-Kritikerin Sandra Kegel empfiehlt den Roman als szenen- und ereignisreiches, zugleich berührendes Porträt des Lebens im Reservat. Im
Swr2 und in
3Sat stehen weitere Kritiken online.
Bachtyar AliPerwanas AbendRoman
Unionsverlag. 288 Seiten. 22 Euro
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Bachtyar Alis Roman "Perwanas Abend" ist im irakischen Original bereits 1998 erschienen, der Roman ist aber ohnehin zeitlos, wie die KritikerInnen versichern. Der kurdische Autor führt uns in eine von Krieg,
religiösem Fanatismus und Patriarchat geprägte Zone, die Kurdenregion im irakischen Norden in den späten Achtzigern und erzählt von der Wut der jungen Khandan über den Tod ihrer Schwester Perwana.
FAZ-Kritikerin Lena Bopp staunt, wie Ali dabei Traumbilder,
magischen Realismus, historischen Hintergrund und das
Gift des Krieges verdichtet und zugleich Leichtigkeit und Trost vermittelt.
Zartes und Schönes kann der Autor so kraftvoll imaginieren, wie einen entsetzlichen Blut-Karneval, lobt in der
FR Anja Ruf. In der
SZ hebt Martin Ebel die differenzierten Figuren hervor und die reiche Symbolik des Romans, der ihn auf drastische Weise lehrt, was systematische Gewalt mit einer Gesellschaft macht.
Katharina HackerDarf ich Dir das Sie anbieten?Minutenessays
Berenberg Verlag. 120 Seiten. 18 Euro
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Genial und verführerisch ist ja allein schon der Titel: "Darf ich Dir das Sie anbieten?" Und so
schwebend und lakonisch paradox, berichten die Rezensenten, ist das ganze Buch. Elke Schlinsog fühlt sich in
Dlf Kultur an den
Enzensberger der besseren Zeiten erinnert, der fähig war zu ironisch-präziser Wahrnehmung der Gegenwart. Hacker gehe es allerdings auch um Grundsätzlicheres, das Älterwerden, unser Verhältnis zu Tieren (auch Stofftieren) und auch den Tod.
Perlentaucher-Leser konnten sich in einem
"Vorgeblättert" ein Bild machen: "Gegen das Sterben von alten Leuten ist nichts einzuwenden, nur dagegen, daß sie auch anderntags noch tot sind und auch wochenlang danach, gar nicht mehr aufhören damit."
Maren KamesLuna lunaSecession Verlag. 108 Seiten. 35 Euro.
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Selten werden lyrische Bände so gefeiert wie Maren Kames' Langgedicht "Luna Luna". Ein "poetisch-musikalisches
Gesamtkunstwerk", jubelt etwa im
Dlf-Kultur Michael Braun, den schon die Aufmachung des Buches - weiße Lettern auf schwarzem Papier - in Entzücken versetzt: Wie "funkelnde Sterne am Texthimmel", meint er. Und auch inhaltlich scheint ihm dieser von Liebeshoffnungen, Ich-Spaltungen und Kriegsvisionen erzählende Assoziationsreigen wie eine "Mondfantasie", in der auch die Stimmen von
Annie Lennox,
David Bowie oder
Friedrich Schiller erklingen. Als grenzüberschreitend virtuos, erhellend und berauschend feiert auch
FAZ-Rezensent Christian Metz den Band und meint nach seiner riskanten lyrischen Reise durch Clips und Sounds:
Von wegen Ende der Lyrik! Wie eine mit Dialogen und Lyrics jonglierende Teufelsaustreibung erscheint
Welt-Kritiker Richard Kämmerlings das Buch, das er kurzerhand zum Gedichtband des Jahres kürt.
Sachbuch
Tim Flannery
EuropaDie ersten 100 Millionen Jahre
Insel Verlag. 380 Seiten. 28 Euro
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Vor vierzehn Jahren schlug
Tim Flannerys Klimageschichte
"Wir Wettermacher" ein wie eine Bombe. So schockierend wie spannend erzählte der australische Paläoontologe darin, mit welchen Konsequenzen sich das Klima über die Jahrtausende wandelte. In seinem neuem Buch verfolgt er geologisch und biologisch Vor- und Frühgeschichte Europas zurück bis zu jener Zeit, als der Kontinent noch eine
von Dinosauriern bevölkerte Inselgruppe war: Es geht um Asteroideneinschlägen, die Entwicklung der Arten wie
Riesengiraffen oder Minielefanten und die Entwicklung der Hominiden. Bisher wurde die deutsche Fassung des Buch nur im
Dlf Kultur besprochen, wo Johannes Kaiser das Buch als "vielfältig, abenteuerlich, klug" feierte. Der
Guardian bewunderte das reiche und kraftvolle Panorama, das Flannery ihm eröffnete. Die
London Review of Books widmete dem Buch einen
Essay, in dem sie fasziniert nachzeichnete, was Flannery über das Aufeinandertreffen von
Neanderthalern und Homo Sapiens zusammengetragen hat. Naturgeschichtlich, lernt die
LRB, kann Europa nicht für Reinheit stehen, sondern nur für "Hybridität, Immigration,
Transformation".
Ulrich PfistererRaffaelGlaube, Liebe, Ruhm
C.H. Beck. 384 Seiten. 58 Euro
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Zum 500. Todestag von
Raffael ehrt die Berliner Gemäldegalerie den italienischen Renaissancekünstler mit einer großen
Ausstellung seiner Madonnen. Der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer zieht es hingegen vor, in seinem Buch den
Malergott zu erden und den Menschen hinter dem rätselhaften Künstler in den Blick zu nehmen. Kein leichtes Unterfangen, wie Stefan Trinks in der
FAZ einwendet: Denn viele Fakten über Leben und Wirken Raffaels sind nicht überliefert. Dennoch erscheint ihm Pfisterers an Michael Baxandalls Kunstsoziologie angelehnte Erkundung von Raffaels Karriere und der
Kunstindustrie der Hochrenaissance originell und kurzweilig. Auch Pfisterers Exkurse zum Raffael-Kult und dem "
Eros der Inspiration" findet Trinks spannend.
FR-Kritiker Christian Thomas stolpert zwar über Formulierungen wie "Superkünstler" und "showpieces", dem Maler kommt er hier aber dennoch näher: Er lernt, wie Raffael jedes Detail lebendig machte und eine neue Sicht auf den Menschen begründete, in der der Kritiker nicht nur ein lustvolles,
erotisches Sehen erkennt, sondern die Anfänge der Pornografie.
Quinn SlobodianGlobalistenDas Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus
Suhrkamp Verlag. 522 Seiten. 32 Euro
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Mit großem Interesse haben die Kritiker Quinn Slobodians historische Darstellung der
Ideen des Neoliberalismus gelesen. Der kanadische Historiker, dessen Schwerpunkt vor allem auf deutscher Geschichte liegt, bringt nicht nur Klarheit in den allgegenwärtigen, aber unscharfen Begriff des Neoliberalismus, sondern überrascht in dieser vom Wien der Zwanziger bis zum Aufstieg Chinas reichenden "
brillanten Ideengeschichte" auch mit erhellenden Thesen, schreibt Jens Balzer im
Dlf-Kultur: So datiere Slobodian die Geburtsstunde des Neoliberalismus auf den
Zerfall der alten Imperien nach dem Ersten Weltkrieg oder zeige, warum es kein Zufall sei, dass sich Neoliberale sehr gut in nichtdemokratischen Systemen zurecht fänden und sie sogar begrüßten - so wie das
Südafrika der Apartheit oder das
Chile unter der Diktatur Pinochets: Staatliche Systeme sollen für sie nur gute Rahmenbedingungen für Konsum und Handel garantieren, bürgerliche Freiheiten verzichtbar, lernt Balzer. Gegen diese These könnte man allerdings einwenden, dass einige Protagonisten des Neoliberalismus wie
Hayek vor Diktaturen gerade fliehen mussten, und dass
Wilhelm Röpke ohne Zwang (er war nicht Jude oder in einer linken Partei) Nazi-Deutschland verließ.
Götz Aly schreibt darüber in "Volk ohne Mitte" (
Leseprobe im
Perlentaucher). In der
Zeit empfiehlt Thomas Assheuer das Buch. Weitere Besprechungen in
ZDF, NDR und auf h
sozkult.de. Gut besprochen wurde auch
Grègoire Chamayous "Die unregierbare Gesellschaft" (Bestellen): Selten wurde der Neoliberalismus als Ideologie so "spannend und pointiert" geschildert, meint etwa Martin Hubert im
Dlf.
Vittorio Magnago LampuganiBedeutsame BelanglosigkeitenKleine Dinge im Stadtraum
Klaus Wagenbach Verlag. 192 Seiten. 30 Euro
(
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Nach der Lektüre dieses Buches wird vermutlich niemand mehr auf der Straße so einfach an Pumpen, Brunnen, Pollern oder Telefonzellen vorbeigehen. Zu diesen sogenannten "
Mikroarchitekturen" nämlich begleitet uns der italienische Architekt und Stadtwissenschaftler Vittorio Lampugnani auf seinen in 22 Kategorien unterteilten Spaziergängen durch Berlin, Paris, Zürich, London, Neapel oder Bilbao - und zwar sprachlich gekonnt,
wissens- und
anekdotenreich, wie etwa
FAZ-Kritikerin Alexandra Wach versichert. Dank des "akribischen Flaneurs" wird sie beim nächsten Stadtbesuch in Neapel besonders auf den von Goethe gepriesenen schwarzen Lavabodenbelag achten. Auch Bernhard Schulz (
Tagesspiegel) wird das Buch künftig als "
Vademecum" mit sich führen, nicht nur um sich wehmütig noch einmal an Telefonzellen und Litfasssäulen zu erinnern, sondern auch um viel Neues zu lernen: Dass die Straßen im 19. Jahrhundert in Paris und London mit Holz gepflastert wurden, wusste er bisher nicht. Als "
opulenten Hingucker"
empfiehlt Frank Dietschereit im
RBB-Kultur das Buch. Und in der
taz entdeckt Brigitte Werneburg bei Lampugnani auch tiefergehende Reflexionen.
Richard MabeyDas Varieté der PflanzenBotanik und Fantasie
Matthes und Seitz Berlin. 342 Seiten. 38 Euro
(
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Schon das schöne Cover dieses Buches wirkt einladend - und wenn wir
Dlf-Kultur-Kritikerin Susanne Billig glauben, verspricht es nicht zu viel: Richard Mabey gilt als Neubegründer des englischen
Nature writings und nimmt uns mit auf eine ausgiebige
Reise durch die Pflanzenwelt, erzählt anhand von dreißig Porträts aus der Natur- und Kulturgeschichte von vertrauten ebenso wie von exotischen Pflanzen und bindet dabei historische Zeugnisse und kunstgeschichtliche Einlassungen mit ein: die Kritikerin liest von Grannenkiefern, die
über 5000 Jahre alt sind, vom Ginseng, der einst "höher gehandelt wurde als Gold", von wandernden Eiben oder Orchideen, die "Insektenduftstoffe imitieren". Dass Wissenschaftler und Gartenexperten ebenso zu Wort kommen wie der britische Lyriker und Romantiker
William Wordsworth, gefällt der Kritikerin. Ein "geistreiches, anschauliches" und "wunderschönes" Buch, das nicht zuletzt zu einem ganz neuen Verständnis der Pflanzenwelt führt, schließt die Rezensentin.