Bücherbrief

Bücherbrief April 05

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
26.04.2005. Ein Monat ist vergangen, seitdem wir die Bücher der Saison vorgestellt haben. An die dreihundert Bücher wurden in der Zwischenzeit besprochen. Wir haben den Berg der Neuerscheinungen gesichtet, bestiegen und vermessen und stellen Ihnen hier die vier Prozent vor, die wir auf dem Gipfel erblickt haben.
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Weitere Anregungen finden Sie hier in den Büchern der Saison.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!


Als die Toleranz unterging


Für die FAZ stimmt hier "einfach alles". Louis de Bernieres macht sich in seinem epischen Roman "Traum aus Stein und Federn" daran, die Geschichte vom Ende des Osmanischen Reiches und der Geburt der modernen Türkei mit den Mitteln der Literatur zu fassen. Bernieres durchsetzt die Geschichte eines kleinen Dorfes im Südwesten Anatoliens, wo zur Jahrhundertwende Türken und Griechen, Christen und Muslime nebeneinander leben, mit kurzen Kapiteln, die den Aufstieg Mustafa Kemal Attatürks, aber auch den Völkermord an den Armeniern beschreiben. Ein "großes" Werk, dieses Panorama aus bewegten Familiengeschichten und grausamen Schlachtenszenen, detaillierten historischen Abrissen und phantasievollen Erzählungen.


Genozid

Der Völkermord an den Armeniern vor neunzig Jahren beschäftigt derzeit Politik wie Feuilletons. Einige Neuerscheinungen bieten nun frischen Diskussionsstoff. Rolf Hosfeld beschreibt die "Operation Nemesis" vor allem als gigantische Umverteilung von Reichtum und benennt Täter und Profiteure, bemerkt die taz, die wie die FAZ das Buch für gelungen hält. Wolfgang Gust dokumentiert mit "Der Völkermord an den Armeniern" einer Auswahl an Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, wie gut informiert das Deutsche Reich über die Vorgänge war und wie es die Gräueltaten des Verbündeten mit Blick auf die Kriegsräson gebilligt hat. Die SZ lobt die Zusammenstellung als "wesentlichen Beitrag" zur Erinnerungsarbeit. Taner Akcam analysiert in seinem neu aufgelegten "Standardwerk" (taz) die türkische Haltung zum Völkermord anhand türkischer Quellen. Die SZ bedauert allerdings, dass neuere Forschungsergebnisse in der unverändert gebliebenen Edition von "Armenien und der Völkermord" nicht berücksichtigt werden. Huberta von Voss' "Porträt einer Hoffnung" in dem sie die Lebensbilder einzelner Armenier in der Diaspora versammelt, beeindruckt die taz, während die SZ argwöhnt, hier werde versucht, Sympathie für die Armenier zu wecken.


Im eigenen Roman

Hallgrimur Helgason ist der neue Stern an Islands naturgemäß nicht gerade überfülltem Schriftstellerhimmel. Sein nach "101 Reykjavik" () zweiter auf Deutsch erschienener Roman "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" bringt aber auch die Augen der deutschen Kritiker zum Glänzen. Ein alternder Schriftsteller wacht in seinem eigenen Werk auf und muss nun mit den selbst gezeugten Geschöpfen fertig werden. Alle Zeitungen haben darin die Anspielung auf Islands literarischen Übervater und einzigen Nobelpreisträger Halldor Laxness entdeckt, die FAZ entdeckt sogar noch zahlreiche weitere Metaebenen in dem anspielungsreichen Roman. Aber auch ohne Hintergrundwissen kann man hier eine "pfiffige Fabel" genießen, beruhigt die NZZ. Und alle schließen sich der SZ an, die der "sprachlich virtuosen" Übertragung einen nicht geringen Anteil am großartigen Gesamteindruck zuspricht.


Trauernder Idealist

Wladimir Makanin gehört mit Wladimir Sorokin und Wiktor Pelewin zu dem "Räumkommando", das die ideologischen Überreste des untergegangenen Sowjetregimes entsorgt, wie die NZZ so schön feststellt. Allerdings sei Makanins Wertsystem noch intakt, weshalb sie ihm die Trauer über den Niedergang der Ideale in den drei Erzählungen von "Der kaukasische Gefangene" auch voll und ganz abnimmt, sei es vor dem Hintergrund des Tschetschenienkriegs oder in einer sibirischen Strafkolonie. In der Frage, ob Makanin ein "Meister der mittleren Form" oder doch ein "Monumentalist der knappen Form" ist, herrscht gelassene Uneinigkeit zwischen NZZ und FAZ. Felsenfest überzeugt dagegen ist die SZ, dass Makanin zumindest mit der Titelgeschichte in jeder Anthologie russischer Erzählungen des 20. Jahrhunderts vertreten sein wird.


Stilvolle Spannung

Die eingeschworene Fangemeinde von Fred Vargas weiß natürlich schon, dass ihr neuer Kriminalroman "Der vierzehnte Stein" mittlerweile auf Deutsch erhältlich ist. Der Rest erhält die Chance, mit Jean-Baptiste Adamsberg einen Mordkommissar kennenzulernen, der durch rätselhafte Methoden und noch rätselhaftere Fälle besticht. Diesmal ist er persönlich in einen Mord verstrickt, wodurch Vargas ihrer Figur mehr Tiefe verleihen kann als je zuvor, wie die Zeit notiert, die sich nach der intensiven Spannung wohlig im Rezensentensessel vergräbt. Zum Niederknien wiederum findet sie Vargas' Sprache, mit der die französische Autorin ihrem Ziel, die "reine Musik der Erzählung" zu finden, so nah wie noch nie gekommen sei.


Hitlers Liebling

Heinrich Breloers Begleitband zu seiner "Faction-Dokumentation" über den nationalsozialistischen Rüstungsminister und Architektenstar Albert Speer kann durchaus für sich alleine stehen, lobt die NZZ. In "Speer und Er" vertieft und strukturiert Breloer seinen Film mit zahlreichen zusätzlichen Materialien. Hier liegt das gelungene Ergebnis der "Rechercheleidenschaft" des Regisseurs vor, diagnostiziert sie glasklar. Breloers seinerseits "präziser und überzeugender" Diagnose, nach der Speer kein kultivierter Nazi, sondern eher ein phantasie- und gefühlloser" Verbrecher gewesen ist, kann sie sich voll und ganz anschließen.


Hart aber fair

Wenig Schmeichelhaftes über die Ostdeutschen hat Christoph Diekmann, selbst in der DDR aufgewachsen, aus den Gesprächen erfahren, die Rita Kuczynski vor allem mit mittel- und osteuropäischen Deutschlandkennern geführt hat. In "Ostdeutschland war nie etwas Natürliches" bezeichnet der polnische Historiker Adam Krzeminski den einstigen "moskowitischen Musterschüler" DDR als "Furz der Geschichte", und Sonja Margolina spöttelt, dass der ostdeutsche "homo sowjeticus" den früheren russischen Übervater einfach nur durch einen westdeutschen ersetzt hat. Doch bei aller Rigorosität bleiben die Analysen immer fundiert, lobt Diekmann mit mühsamer, aber professioneller Neutralität in der Zeit.


Arm

Der Anführer der Spiegel-Bestsellerliste wird von den Rezensenten zwar kritisch beäugt. Mit der "Kunst des stilvollen Verarmens" scheint Alexander von Schönburg jedoch einen Nerv getroffen zu haben, gibt die Zeit zu, auch wenn die "gedankliche Bescheidenheit" ihr stellenweise die Schuhe auszog. So weit, so gut, seufzt die NZZ versöhnlich, nur der recht ansehnliche Preis erscheint ihr spitzfindigerweise wenig stilvoll.


Kirsch komplett

Die FAZ erhebt ihr Glas auf Sarah Kirsch, den knurrenden "Tiger im Regen", die der Natur mit ihren Gedichten die Idylle raubt, um ihr dafür die Schönheit zurückzugeben. Für die vorliegende unschlagbar preiswerte "volkstümliche" Ausgabe der "Gesammelten Gedichte" () kann sich die FAZ, die schon die fünfbändige Werkausgabe im Schrank hat, naturgemäß nur verstohlen erwärmen. Die SZ dagegen kann den fehlenden Datierungen ganz unverblümt Positives abgewinnen. Damit könne man nämlich unvoreingenommen beobachten, wie die Bedeutung des lyrischen Werks mit der Generation des Lesers zusammenhänge. Die NZZ freut sich schon auf die Prosa-Gesamtausgabe, vermutet sie doch in der großen Dichterin eine noch größere Prosaistin.


Frühvollendet

Eine "verlegerische Großtat", jubelt die FAZ. Erstmals liegt eine umfassende und dazu "wunderbar bibliophile" Auswahl der Gedichte Attila Jozsefs auf Deutsch vor Lebenslang ein Außenseiter, von seinen ungarischen Zeitgenossen verkannt, warf sich der Frühvollendete mit 32 Jahren vor einen Zug. In Ungarn wurde nun 2005 zum Gedenkjahr des Dichters erklärt. Seine Lyrik hat Weltrang, da sind sich die Kritiker einig. Mit der Übersetzung des Bandes allerdings kann sich niemand so recht anfreunden, die NZZ tadelt streng die "ungelenke" Syntax, die FR findet sie stellenweise "spröde", die FAZ gibt sich versöhnlicher und hofft, dass diese Pionierleistung zumindest den Beginn der Wiederentdeckung eines lyrischen Genies darstellt.


Canetti unplugged

Die FR preist Sven Hanuscheks Pionierbiografie "Elias Canetti" nicht nur als kenntnisreiche Einführung in Leben und Werk, sondern auch als Gegengift zu den verklärenden Selbstauskünften des maskenreichen Schriftstellers. Lustvoll folgt sie Hanuschek, der erstmals Einblick in den unveröffentlichten Nachlass hatte, wie er Mythen zerlegt und Frauengeschichten aufdröselt. Als "titanisches Unterfangen" würdigt die FAZ den 800-Seiten-Brocken, und auch die NZZ hält das Porträt für sehr "souverän", selbst wenn sie die einzelnen Werke Canettis in ihrer Bedeutung anders gewichten würde.


Brinkmann revisited

Rolf-Dieter Brinkmann wäre vor wenigen Wochen sechzig geworden. Der Literaturbetrieb würdigt den Geburtstag seines ehemaligen enfant terribles gleich dreifach. In der um 26 Gedichte und ein "Unkontrolliertes Nachwort" erweiterten Neuauflage von Brinkmanns Lyrikband "Westwärts 1&2" macht die taz einige "echte Entdeckungen". Fast noch besser findet sie, wie Brinkmann auf den 5 CDs von "Wörter Sex Schnitt" "singt, zischt, brüllt, skandiert, flüstert, stöhnt, ächzt". Der WDR hatte Brinkmann 1973 ein Tonbandgerät zur Verfügung gestellt, das dieser als wunderbares Spielzeug entdeckte. Herausgekommen ist ein Hörspiel, "das sich in einem riesigen Steinbruch verläuft", notiert eine aufgeregte SZ, die den mutigen Verlegern für diese Preziose überaus dankbar ist. Fröhlich verfolgt sie dann in "The Last One" () Brinkmanns gut gelaunten Auftritt auf dem Cambridge Poetry Festival. Vier Tage später wurde er in London von einem Auto überfahren.