Bücherbrief

Aus Blitz und Donner gemacht

05.12.2015. Was will Lyrik, fragt Monika Rinck, Serhij Zhadan rast mit uns in der Achterbahn durch die Ukraine, Shumona Sinha liefert sich eine erbitterte Auseinandersetzung mit den Asylbehörden und Uwe Neumahr ermuntert uns zur Lektüre von Miguel de Cervantes - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Dezember.
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Literatur

Monika Rinck
Risiko und Idiotie
Streitschriften
Kookbooks Verlag 2015, 272 Seiten, 19,90 Euro



Wenn sich die bislang vor allem als Lyrikerin bekannte Monika Rinck in "Risiko und Idiotie" in mehreren Essays der Herstellung, Beschaffenheit und Wirkung von Lyrik widmet, dann lesen die Rezensenten gebannt, was sie zu sagen hat. Zur dichterlichen Randexistenz etwa, der verlockenden "Freiheit des Privatsprachlichen" und der Gefahr, als "U-Bahn-Murmler" zu enden. "Das alles ist ungeheuer turbulent, atemberaubend klug, auch mal überkandidelt, dabei immer anregend, gebildet, stolz, überschwänglich und traurig", staunt Ina Hartwig in der SZ und freut sich, Rinck in ihren Texten als "radikale Zeitgenossin" zu begegnen. Ein großer Wurf ist der Band auch für Christian Metz, der in der FAZ hervorhebt, dass Rinck nicht nur eine Bestandsaufnahme von Lyrik und lyrischem Wollen heute liefert, sondern auch zur Auseinandersetzung über Lyrik aufruft. Den Kleist-Preis, der der Autorin in diesem Jahr verliehen wurde, hat sie jedenfalls verdient, sind sich die Rezensenten (und Tobias Lehmkuhl, der Rinck in der Zeit porträtiert) einig.

Serhij Zhadan
Mesopotamien
Roman
Suhrkamp Verlag, 362 Seiten, 22,95 Euro



In seiner Heimatstadt Charkiw, zwischen dem ukrainischen Dnjepr im Westen und dem russischen Don im Osten, erkennt Serhij Zhadan ein modernes Babylon, von dessen Bewohnern er in "Mesopotamien" so eindrücklich erzählt, dass den Rezensenten beinahe schwindlig wird. Nicht einfach als Meisterwerk, sondern schlichtweg als "Wucht" erscheint Volker Breidecker (SZ) das Buch, als "rasante Achterbahnfahrten" beschreibt Jörg Plath im Dradio Kultur die darin geschilderten Episoden, und in der Zeit bezeichnet Katharina Döbler den Autor als "poetische Urgewalt". Beide heben auch den an Gogol erinnernden schwarzen Humor hervor. In neun raffiniert miteinander verwobenen Episoden entwirft Zhadan ein poetisches, "oft ziemlich pasolinihaftes" und auf den ersten Blick erstaunlich unpolitisches Panorama seiner Heimatstadt, stellt Harald Jähner in der FR fest. In der NZZ staunt Ilma Rakusa über die Fähigkeit des Autors, alle Register zu ziehen, vom Ordinären zum Sublimen, vom Saloppen zum Emphatischen.

Shumona Sinha
Erschlagt die Armen!
Roman
Edition Nautilus 2015, 128 Seiten, 18 Euro



Das Buch der Stunde, ruft Marie Schmidt in der Zeit. Die 1973 in Kalkutta geborene Shumona Sinha emigrierte 2001 nach Paris, wo sie als Dolmetscherin in einer Ausländerbehörde arbeitete. Ihre Erfahrungen verarbeitete sie in einem Roman, dessen provokanter, Baudelaire entliehener Titel "Erschlagt die Armen!" ihren heillosen Zorn auf die Welt widerspiegelt. Niemand kommt ungeschoren davon, erzählt eine beeindruckte Claudia Kramatschek in der NZZ: nicht die Flüchtlinge, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben politische Verfolgung und Folter erfinden und der Dolmetscherin oft genug mit Chauvinismus begegnen. Nicht die Asylbehörde, der das reale Lebenselend nie elend genug zu sein scheint. Und auch nicht die Hauptfigur, die Dolmetscherin, die ihre eigene Rolle in diesem ganzen System hasst. Hier gibt es kein vorsichtiges Abwägen, sondern präzise Beobachtung und Wut, ausgedrückt in der Sprache einer Autorin, die als Lyrikerin begann. Sehr gute Besprechungen auch im Deutschlandfunk, der Berliner Zeitung und im Standard.

Najem Wali
Bagdad
Erinnerungen an eine Weltstadt
Carl Hanser Verlag, 416 Seiten, 26 Euro



Längst haben wir uns an die Bilder und Berichte einer von jahrzehntelangen Kriegen völlig zerrütteten Stadt gewöhnt. Dabei konnte Bagdad es einst als internationale Metropole an Flair und Strahlkraft mit London und Paris aufnehmen. Najem Wali lässt diese Zeit wieder aufleben und zeichnet den Abstieg der Stadt nach: auf den "verlogenen Karneval der Baath-Partei" unter Saddam Hussein, der die Stadt unpoetisch und kalt werden ließ, folgten bewaffnete Konflikte, angefangen mit dem Krieg gegen den Iran, vor dem der Autor 1980 nach Deutschland floh. Den Sprüngen und Abschweifungen ist bisweilen nicht leicht zu folgen, meint Christian H. Meier in der NZZ, der dennoch staunt, wie es Wali immer wieder "eindrucksvoll gelingt, Topografie und Biografie ineinanderfließen zu lassen". Auch Sonja Zekri zeigt sich in der SZ von Walis "elegantem Erzählstrom" mitgerissen. Als eine "fantastische, lehrreiche und bisweilen melancholisch stimmende Entdeckungsreise" und also solche "so leicht wie genial" beschreibt Sigrid Brinkmann das Buch im DLF.

Eimear McBride
Das Mädchen ein halbfertiges Ding
Roman
Schöffling und Co. Verlag, 256 Seiten, 21,95 Euro



So richtig erstaunt sind die Rezensenten nicht, dass Eimear McBride fast zehn Jahre lang nach einem Verlag suchen musste, der ihren Debutroman "Das Mädchen ein halbfertiges Ding" herausbringt. Schließlich drückt sie die Empfindungen der Figuren ohne Rücksicht auf Grammatik in Lauten, Wortfetzen und Bildern unmittelbar aus. Diese kühne, experimentelle Sprache ist zweifelsohne eine Herausforderung - aber eine, die sich lohnt, erklärt Carola Ebeling in der taz tief beeindruckt und zollt der Übersetzerin Miriam Mandelkow Hochachtung dafür, wie sie die kaum erträgliche Intensität verlustfrei ins Deutsche übertragen hat. Die Geschichte zweier Geschwister und ihrer rigide religiösen Mutter inszeniert die Autorin "mit der nötigen Wucht, aber ohne jeden billigen Kitzel", hebt Angela Schader in der NZZ hervor. "Die Vollkommenheit dieses Buchs liegt in seiner virtuos gestalteten Rohheit und Wildheit", stellt Sabine Peters im DLF ergriffen fest: "Es ist, als sei der Roman aus Blitz und Donner gemacht."

Karl-Heinz Ott
Die Auferstehung
Roman
Carl Hanser Verlag, 352 Seiten, 22,90 Euro



Der Tod des Patriarchen führt die vier Geschwister wieder im Elternhaus zusammen, wo sie darauf warten, dass der Anwalt eintrifft und das Testament verliest. Diese Konstellation nutzt Karl-Heinz Ott in seinem Roman "Die Auferstehung" zum Porträt nicht nur einer entfremdeten Familie, sondern auch der Donaugegend um Ulm, der Generation der 68er und ihrer Lebensentwürfe sowie der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre, stellen die Rezensenten angetan fest. Das Buch "brilliert mit scharfkantigen Miniaturen und wunderbaren Dialogen, mit vielen kleinen, ironisch eingefärbten Szenen", schwärmt Martin Zingg in der NZZ. Auch Martin Oehlen (FR) hat großes Vergnügen an diesem bisweilen schreiend komischen "Schaulaufen der gescheiterten Existenzen". "Voll verquerem Humor" steckt die Geschichte laut Claus-Ulrich Bielefeld (Welt), für den das Buch "ein schönes Kunststück" ist, oder, wie sich Stephan Lohr auf SpOn ausdrückt: "Gewissermaßen großes Kino, Verfilmung dieses Romans dringend empfohlen."


Sachbuch

Ulrich Raulff
Das letzte Jahrhundert der Pferde
Geschichte einer Trennung
C. H. Beck Verlag, 461 Seiten, 29,95 Euro



Hundert Jahre ist es gerade mal her, dass das Pferd endgültig aus der Zivilisation verschwand, aus der es noch einmal hundert Jahre zuvor nicht wegzudenken war. Ohne das Pferd als Transportmittel, Arbeitskraft und Kriegsgerät ist der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft kaum vorstellbar. Als "kentaurischen Pakt" bezeichnet Ulrich Raulff, Direktor des Literaturarchivs Marbach, diese jahrtausendelange Partnerschaft, die er in seiner Studie "spielerisch, aber stets mit gebotener Ernsthaftigkeit", wie Harry Nutt in der FR schreibt, nachzeichnet. Besonders beeindruckend macht das Buch die offenkundige persönliche Verbindung des Autors zum Thema, heben Urs Hafner (NZZ), Jakob Hessing (Tagesspiegel) und Cosima Lutz (Welt) hervor. "Nach der Lektüre sieht man die Geschichte durch die Optik belehrter Hippophilie", stellt der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel in der Zeit fest. Und heute? Da sind Pferde vor allem "ein treuer und unverzichtbarer Beistand der weiblichen Pubertät", so Raulff im Gespräch mit Joachim Scholl im Dradio Kultur.

Uwe Neumahr
Miguel de Cervantes
Ein wildes Leben
C. H. Beck Verlag, 394 Seiten, 26,95 Euro



2016 wird nicht nur Shakespeare-, sondern auch Cervantes-Jahr: Am 23. April jährt sich der Todestag der beiden großen Dichter zum vierhundertsten Mal. Der Romanist Uwe Neumahr hat mit "Ein wildes Leben" nun eine Biografie des spanischen Nationaldichters Miguel de Cervantes vorgelegt. In seinem "klugem" Versuch, das Leben des Autors und Lebenskünstlers von allen möglichen und unmöglichen blinden Flecken, Auslassungen und Unwahrheiten zu säubern, kommt Neumahr dem Rätsel Cervantes erstaunlich nahe, meint Paul Ingendaay in der FAZ beeindruckt. Als "schwungvoll erzählt, mit gesicherten Anekdoten gewürzt, kurzweilig, 'wild', wie das Leben des Protagonisten selbst, empathisch und nicht mit vorlautem Urteil selbstgefällig geschrieben", beschreibt Harald Loch die Lektüre im Buchhandlungs-Blog Der Zauberberg. Und nicht zuletzt, da sind sich die Rezensenten einig, verführt die Biografie zum (Wieder-)Lesen von Cervantes selbst, von dem neben dem "Don Quixote" vor allem zahlreiche Novellen zu entdecken sind.

Tiphaine Samoyault
Roland Barthes
Die Biografie
Suhrkamp Verlag, 871 Seiten, 39,95 Euro



Zum hundersten Geburtstag hat Tiphaine Samoyault eine umfassende Biografie des großen Schriftstellers und Theoretikers Roland Barthes vorgelegt - laut Rezensenten eine lohnende Lektüre, nicht zuletzt durch die Auswertung bisher unbekannter Quellen wie Barthes' tagebuchartigem Terminkalender und seinen legendären Karteikarten. In der SZ attestiert Fritz Göttler der Darstellung eine "tolle Mischung aus Unerbittlichkeit und Diskretion", während Tilman Allert die Studie in der Welt als "vorzüglich geschrieben, spannend im Aufbau" sowie "im Duktus unheroisch distanziert" lobt. Wer angesichts der überwältigenden Materialfülle ein paar Seiten überspringen und neu ansetzen möchte, wird von Jürgen König im Dradio Kultur ermutigt: "Roland Barthes selber hat solches Lesen ausdrücklich empfohlen." Barbara Vinken hat die Lektüre zu einem Zeit-Essay über Barthes angeregt. Und für den Standard hat sich Ruth Renée Reif mit Samoyault unterhalten.

Perry Anderson
Das italienische Desaster
Suhrkamp Verlag 2015, 80 Seiten, 7,99 Euro

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Korrupte Selbstversorgung der Politiker, gerontokratische Besitzstandwahrung der Gewerkschaften, schrumpfende Wirtschaft und schwindendes Vertrauen in die staatlichen Institutionen - damit ist in groben Zügen "Das italienische Desaster" umrissen, das sich der altlinke britische Historiker Perry Anderson in seiner gleichnamigen Studie vornimmt. Ursprünglich im Frühjahr 2014 als großer Artikel in der London Review of Books veröffentlicht, ist der Text nun auch auf Deutsch erschienen. Und das schmale Büchlein hat es in sich, versichern die Rezensenten. Die Pointe von Andersons Analyse besteht darin, dass er Italien keineswegs als Sonderfall betrachtet, sondern als besonders eindrückliches, geradezu tragikomisches Beispiel für Probleme, die ganz Europa betreffen, meint Jürgen Kaube in der FAZ. Das erschütternde Bild, das Anderson mit "geradzu liebevoller Verachtung zeichnet", ist für Gustav Seibt (SZ) ein "Kabinettstück von geradezu furchterregender Brillanz".

Carlo Rovelli

Sieben kurze Lektionen über Physik
Rowohlt Verlag, 96 Seiten, 10 Euro



Wo kommen wir her? Was können wir wissen? Das sind große Fragen, vielleicht die größten. Der Physiker Carlo Rovelli nimmt sich ihrer an und nimmt dafür die gesamte Physik der Moderne in den Blick, von Einsteins Relativitätstheorie über Max Planck und die Quantenmechanik bis zur Loop-Theorie - und das alles in sieben kurzen Lektionen auf nicht einmal hundert Seiten. Als "ein kleines Buch der Euphorie und der Schönheit... des Glücks, der Erregung" beschreibt Fritz Göttler (SZ) den Band begeistert und staunt, wie bewusstseinserweiternd Rovellis Denkanstöße sind. "Ich bin hingerissen davon, und ich möchte, dass alle es sind", schwärmt Arno Widmann in seiner Perlentaucher-Kolumne Vom Nachttisch geräumt und verrät, sich das Buch gleich zehnfach zum Verschenken besorgt zu haben. Etwas reservierter äußert sich Ulf von Rauchhaupt in der FAZ, der neben dem Gewinn durch die bündige Erläuterung auch auf die Risiken der subjektiv begründeten Konzentration und Kompression des Stoffes hinweist.

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