06.11.2017. Jürgen Beckers Assoziationsschübe, Oswald Eggers Märchenland im
"Val di Non" und Simon Werles Neuübersetzung der "Fleur du Mal".
LyrikVon einem ganzen Jahrhundert, begonnen beim Steckrübenwinter des Ersten Weltkrieges bis zur italienischen Woche beim Discounter, von Alltäglichem und Ungewöhnlichem, von Erinnerungen und Stimmungen erzählt uns
Jürgen Becker in seinem neuen Journalgedicht
"Graugänse über Toronto" Für
FR-Kritiker Martin Oehlen ist die Lektüre der zwischen Betörendem und Banalem oszillierenden Beobachtungssplitter
besser als Sternenstaub. In der
taz staunt Eberhard Geisler über die Unverdrossenheit des Autors, der Erinnerungen an den Einmarsch der Roten Armee und die Vertreibung seiner Familie mit Aktuellem, Asylanträgen, Klimakonferenzen und Fremdenhass mischt, in der
Welt erliegt Herbert Wiesner der "Schönheit und dem Schauder" dieser sinnlichen "
Assoziationsschübe" und in der
SZ kann Christoph Bartmann von der "Ruhe und Sanftmut" des Langgedichts gar nicht genug bekommen und empfiehlt, dies stets griffbereit zu haben, um bei Gelegenheit immer wieder ein/zwei Sätze daraus und darin zu lesen, denn das sei Freude und Labsal.
Von der Kriegskindheit bis in die Gegenwart, vom Mord in Sarajewo bis zu Musils Fliegerpfeil-Erlebnis erzählt uns
Harald Hartung in seinem vier Kapitel umfassenden Gedichtband
"Das Auto des Erzherzogs" In der
FAZ ist Christian Metz zwar tief gerührt von der Traurigkeit, die ihm aus Hartungs Versen über Tod und Vergänglichkeit entgegenweht, zugleicht verströmen die Gedichte aber auch eine große Wärme, meint er. Mit "
ergreifender Schlichtheit", "zärtlicher Melancholie" und "schelmischem Humor" schaut Hartung in die "schmalen poetischen Zwischenräume" des Alltags, lobt der Kritiker. Dass
"Psalmen" überraschend modern wirken können, zeigt der gleichnamige Gedichtband von
Uwe Kolbe, versichert
SZ-Kritiker Johann Hinrich Claussen. Der Berliner Lyriker erscheint ihm wie ein Jazzer, der traditionelle Formen des biblischen Psalms mit modernen Rhythmen und "zeitgenössischen" Klängen mixt, dabei zwischen "schnoddrigem" und hohem Ton switcht und in seinen schlichten Versen aus der Perspektive eines "
Heiden, der Gott verpasste" singt. "Anregend" und "assoziationsreich", findet Claussen das.
Mit
Oswald Eggers "Val di Non" betritt
Zeit-Kritiker Björn Hayer "Märchenland", in dem Steine gebären und Schnee auch mal Füße "verbrühen" kann. Da ergeht einer eine Landschaft und zugleich die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache, lobt ein zutiefst beeindruckter Paul Jandl in der
NZZ. Marie Luise Knott widmete dem Band des Südtiroler Dichters, der in diesem Jahr mit dem Georg-Trakl-Preis ausgezeichnet wurde, im
Perlentaucher eine
Tagtigall. Ebenfalls gut besprochen wurde
Thomas Kunsts Gedichtband
"Kolonien und Manschettenknöpfe" :
SZ-Kritiker Tobias Lehmkuhl tanzt zu den Versen des Dichters, der ihm mit kindlicher Begeisterung wie ein DJ von Carports und Delphine erzählt und verschiedenste Klang- oder Bildelemente mixt. In der
FAZ meint allerdings Harald Hartung: Die bemühten extravaganten Einfälle sind allenfalls "schlechter Surrealismus".
Bereits im Sommer ist
Doris Runges Gedichtband
"Man könnte sich ins Blau verlieben" erschienen. Immerhin
FAZ-Kritiker Wulf Segebrecht hat sich von dem diffusen
nordischen Blau der Dichterin verzaubern lassen, die ihm hier leise und unaufdringlich von Eisblumen am Fenster, einem zerstrittenen Paar beim Frühstück oder ihren lyrischen Begegnungen mit
Emil Nolde oder
Wilhelm Lehmann zwischen Dünen, Watt und Flut erzählt. Immer wieder vernimmt der Kritiker in den minimalistischen, lange nachhallenden Versen auch politische und kritische Töne über den "höllischen Zustand der Welt". Beim
SWR ist ein Beitrag zu Doris Runges jüngstem Gedichtband zu
hören. Keine Gedichte, aber faszinierende
Einblicke in Dichterhäuser entdeckt
FAZ-Kritiker Alexander Kosenina in dem von
Bodo Plachta mit Fotografien von
Achim Bednarz herausgebenen Bildband
"Künstlerhäuser" Auf diesem chronologischen Streifzug durch verschiedenste Dichterhäuser, etwa in Gerhart Hauptmanns Domizil auf Hiddensee, im prächtigen Anwesen der von Arnims in Wiepersdorf oder in Arno Schmidts bescheidener Bargfelder "Arbeitslandschaft" spürt man die "Aura der Genies", versichert der Kritiker. Auch Arno Widmann, der das Buch
vom Nachttisch räumte, war fasziniert.
Hätte
Baudelaire die
"Blumen des Bösen" auf Deutsch verfasst, er hätte wie
Simon Werle gedichtet, schwärmt ein völlig überwältigter Heinz Schlaffer in der
SZ. "So viel Baudelaire war nie!", fügt ein nicht minder hingerissener Andreas Isenschmid in der
Zeit hinzu und attestiert dem Übersetzer ein "
Maximum an Wörtlichkeit". Während Werle für Isenschmid Baudelaires "Wut- und Gluttexten" in einem ganz eigenen Ton alle
Nuancen der Sehnsucht, der Verzweiflung, des Schmerzes, des
Eros und der
Ekstase ablauscht, lobt
FAZ-Kritikerin Lena Bopp insbesondere die Konzentration des Übersetzers auf das Klangbild der Texte. Einig sind sich die KritikerInnen vor allem in der Nähe zum Original, die Werle bewahre. Auf
Deutschlandfunkkultur glaubt Rainer Moritz: Trotz kleinerer Schwächen wird dieser zweisprachige Band zur "maßgeblichen Referenz" der nächsten Jahre werden.
Aus den übersetzten Gedichtbänden sei außerdem noch auf den Lyrikband des niederländischen Kinderbuchautors
Ted van Lieshout hingewiesen,
"Wo bleibt das Meer?" den Nico Bleutge empfiehlt, auf die bis zum Haiku verknappten Verse
Ryszard Krynickis in
"Sehen wir uns noch?" und
Pia Tafdrups erstmals aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzten Gedichte in
"Tarkowskis Pferde" Weitere Gedichtempfehlungen in unserer Lyrikkolumne
Tagtigall und unter dem Stichwort Lyrik 2017 in unserer Buchdatenbank.