09.11.2006. Literatur / Sachbuch & Politisches Buch
Geschichte
Literatur /
Sachbuch & Politisches Buch
Geschichte György Dalos' Buch über
Ungarn-Aufstand "1956" lieben alle, ob nun
Zeit,
FR, oder
NZZ. Letztere lobt diesen groß angelegten zeitgeschichtlichen Essay als "kunstvoll, geistreich und oft witzig". Die
Zeit schätzt Dalos' klaren und differenzierten Blick, etwa auf den tragischen Zauderer
Imre Nagy. Der
FR haben es auch die eindringlichen Schilderungen aus dem Alltagsleben des chaotischen Budapest angetan. In der
SZ lobt
Gerd Koenen die "leicht distanzierte Empathie" des Autors, die genau richtig sei, um die sich überstürzenden Ereignisse darzustellen. Etwas zu wenig Beachtung finden seiner Meinung nach die "elementare Wut und
exzessive Brutalität" der Aufständischen, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs geführt hätten.
Grundseriös und absolut fair finden die Rezensenten
Paul Lendvais packenden Bericht
"Der Ungarnaufstand 1956" und betonen, dass der ungarisch-österreichische Journalist
analytische Klarsicht bestens verbindet mit einer geradezu atemlos lebendigen Schilderung der Ereignisse. Eine umfassende Darstellung, durchsetzt mit aufschlussreichen Nahaufnahmen: von den Straßenkämpfen, den
Kreml-Intrigen oder der tragischen Rolle des amerikanischen Senders Radio Free Europe. Die gesamte Kritikergarde fühlte sich bestens informiert!
Saul Friedländer legt mit
"Die Jahre der Vernichtung" dem zweiten Teil seines Werks über "Das Dritte Reich und die Juden", die erste wirkliche, weil alle Dimensionen der Vernichtung umfassende Darstellung des
Holocaust vor, möchte die
Zeit behaupten. Die
FAZ nennt das Buch ein "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" und bescheinigt dem knapp 900 Seiten umfassenden Band auch die Eindringlichkeit und Richtigkeit eines
Kunstwerks. Die
NZZ sieht die Holocaustforschung vom Kopf auf die Füße gestellt, weil Friedländer auch die Opfer zu Wort kommen lässt. Überraschend kommt das alles nicht: Schon der erste Band über "Die Jahre der Verfolgung" von 1933 bis 1939 galt als das beste Buch zum Thema.
Noch ist das Gen nicht entdeckt, das britische Historiker so meisterlich über Geschichte schreiben lässt.
Tony Judt jedenfalls scheint es zu besitzen. Die
Zeit rühmt die narrativen Qualitäten seiner
"Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", seine Ironie und die wohldosiert eingestreuten Anekdoten. Hier wird, was bisher noch selten geschehen ist, der gesamte Kontinent ausgewogen behandelt, stellt die
FAZ zufrieden fest, der auch der
unorthodoxe Blick Judts gefällt. Elegant und packend ist das alles schon, gibt die
NZZ zu, vermisst aber eine übergreifende These.
PolitikEin "
Vermächtnis für Europa", einen Aufruf, den Islam radikal neu zu diskutieren, sieht die
FAZ in der Autobiografie
"Mein Leben, meine Freiheit" der Islamkritikerin
Ayaan Hirsi Ali, die nach den Querelen um ihren Asylstatus die Niederlande verlassen hat und in den USA übergesiedelt ist. Ungeheuerlich erscheint dem
FAZ-Rezensenten Christian Geyer, wie radikal Hirsi Ali den Islam als Religion und nicht nur seine kulturellen Erscheinungen in Frage stellt. Fesselnd und reflektiert findet die
FR die Lebensgeschichte der aus Somalia stammenden Politikerin dargestellt. Sie mochte zwar nicht alle Positionen der Autorin teilen, konnte ihnen nach der Lektüre aber auch nicht mehr jegliche Überzeugungskraft absprechen, vor allem ihrer Kritik am exzessiven Multikulturalismus.
Von einer Reise nach Indien hat der
New-York-Times-Kolumnist
Thomas Friedman eine umwälzende Erkenntnis mitgebracht:
"Die Welt ist flach", alle ökonomischen Hürden, Grenzen und Mauern sind eingeebnet. Die Rezensenten haben das Buch neugierig zur Hand genommen, waren am Ende aber nicht gleichermaßen überzeugt. Die
FR findet Friedmans - nicht ganz neue - Einsichten in die globale Umverteilung des Wohlstands in fesselnde und kluge Reportagen eingebettet. Die
FAZ allerdings hatte für Friedman nur Spott übrig: Sie fand diese Vision
ökonomischer Gleichmacherei platt.
PhilosophiePeter Sloterdijks ambitionierte Weltgeschichte des
Zorns hat den Rezensenten imponiert, überzeugt hat sie
"Zorn und Zeit" nicht ganz. Sloterdijk will im Zorn nicht das Ventil für unbefriedigte Wünsche sehen, sondern eine bedeutende anthropolgische Konstante. Einige schöne Pointen hat die
SZ in dieser mit Achill beginnenden Geistesgeschichte gefunden, besonders spannend fand sie die Passagen zu Zorn und Rache der Bourgoisie, die Sloterdijk mit
Alexandre Dumas' "Graf von Monte Christo" unterfüttert habe. Ihr fehlt allerdings die Unterscheidung von Zorn, Hass und Ressentiment. Die
FAZ stört sich daran nicht, sondern sieht den Zorn als produktive Triebfeder
der Menschheitsgeschichte rehabilitiert.
Die
FAZ ist existenziell berührt. Selten ist ihr so Tiefes, Erschütterndes und Substanzielles zum Thema
Menschsein und
Freiheit untergekommen - und das auf handlichen 90 Seiten - wie
George Steiners Essay
"Warum Denken traurig macht". Und schreiben könne der Mann! Leichthin und dicht, wuchtig und zart, bezwingend poetisch und tief philosophisch. Die
Zeit will das Ganze allenfalls als persönliches Bekenntnis durchgehen lassen und kann der Argumentation Steiners nur selten folgen.
ReiseEine untergegangene Kulturlandschaft hat
Martin Pollack mit seinen
"Sarmatischen Landschaften" wieder aufleben lassen:
Sarmatien, das einige zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ansiedeln, andere zwischen Geografie und Historie, Mythos und Poesie. Voller Neugier haben sich die Rezensenten auf Erkundungsreise in diesen riesigen Kulturraum begeben, den dreiundzwanzig Autoren in Erzählungen, Essays und Reportagen eröffnen. Die
NZZ erfreut sich an den gewaltigen Sprüngen durch die Ukraine, Litauen und Weißrussland, von zersiedelte Stadtränder in brachliegende Dörfer. Die
SZ genießt die stimmungsvollen Beschreibungen, hadert allerdings mit einigen Ausführungen zur weißrussischen Nation.
Fünf Jahre war
Charles Darwin als Passagier auf der Beagle unterwegs, besuchte Patagonien und die
Galapagos-Inseln und umrundete die Welt. Seine auf der
"Fahrt der Beagle" gemachten Beobachtungen führten schließlich zur Evolutionstheorie, von der die
Zeit in dieser
kongenialen Neuübersetzung schon eine feine Nuance zu verspüren glaubt. Ansonsten genießt sie einfach die lakonische Inspiration und rhythmische Fluidität von Darwins Sprache, mit der die Schönheit Haitis oder das Erdbeben von Conception ohne Umwege in den heimischen Lesesessel transportiert werden. Hier lässt sich studieren, wie empirische Forschung idealerweise funktioniert und stilistisch grandios präsentiert wird, schwärmt die
SZ.
EssaysWolf Lepenies ist der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Wenn sich die
taz den vorliegenden klugen
Großessay über die Beziehung von
"Kultur und Politik" in Deutschland so ansieht, kann sie dieser Auszeichnung nur zustimmen. Besonders die Kulturschaffenden haben die Politik
in fataler Weise gering geschätzt, behauptet Lepenies, was die meisten Kritiker auch recht überzeugend dargestellt finden.
SZ und
FAZ hätten einiges allerdings gerne ausführlicher erklärt bekommen.
Von den unter der Frage
"Was ist ein Klassiker?" versammelten literaturkritischer Essays
J. M. Coetzees aus den vergangenen zwanzig Jahren bewundert die
SZ besonders diejenigen zur deutschen Literatur. Souveränität und Akribie gehen bei dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger eine besonders fruchtbare Verbindung ein, lobt sie. Der
NZZ gefallen vorwiegend die Studien zu Kafka oder Dostojewski, für sie Etüden in intellektueller Gewissenhaftigkeit.
GesellschaftMit ihrer ethnografischen Feldforschung zu "
cosmobilen"
Putzfrauen in privaten Haushalten hat
Maria Rerrich offenbar einen Nerv getroffen. Alle Kritiker betonen die Wichtigkeit und Aktualität der an Fallbeispielen reichen Studie
"Die ganze Welt zu Hause". Erstaunen erregt auch die durchweg gute Ausbildung dieser Avantgarde der Globalisierung. Ob sie selbst zur fortschreitenden internationalen Vernetzung der Dienstleistungsbranche beitragen, gibt leider keiner der Rezensenten zu. Was wahrscheinlich bedeutet, dass der Anteil
illegal Beschäftigter tatsächlich so groß ist, wie Rerrich behauptet.
KunstIm Rembrandt-Jahr hat
Gary Schwartz' "Rembrandt-Buch" am meisten Aufsehen erregt, eine reich bebilderte Darstellung des Malers und seiner Epoche, die nach einhelliger Meinung der Rezensenten durch ausgewiesenen Sachverstand und hohen Unterhaltungswert glänzt. Die
NZZ fühlt sich von Schwartz bestens über Rembrandts Epoche, sein Leben, sein Genie und seine
revolutionären Maltechniken informiert. Die
SZ freut sich über die Aufklärung einiger langlebiger Irrtümer. Nur in der
Zeit vermisst Kunsthistoriker Martin Warnke die tiefere Analyse.
Die ambitionierte
"Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland" umfasst ingesamt acht Bände. Der von
Andreas Beyer herausgegebene, klar gestaltete sechste Band wird seiner Aufgabe mehr als gerecht, schwärmt die
SZ. Einleuchtend wird ihr hier vor Augen geführt, dass Klassik und Romantik keine Gegensätze sind. Die Begeisterung der
Zeit entzündet sich am brillant geschriebenen Einleitungsessay, brennt durch den gesamten Bildteil mit Beispielen aus
Architektur,
Skulptur,
Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Kunsthandwerk auf hoher Flamme, bis sie mit der ungemein hilfreichen Bibliografie noch einmal auflodert.
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