Bücher der Saison

Frühjahr 2005

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison. Von Thekla Dannenberg, Anja Seeliger
06.04.2005. Erfahrung schlägt Jugend, zumindest in diesem belletristischen Frühling! Der Trend geht zum Zweitroman. Thomas Kling, zu früh verstorben, wird noch einmal für seinen letzten Gedichtband gefeiert. Der Zweite Weltkrieg beherrscht die Sachbücher, aber auch die Idee von einem Leben ohne Arbeit. Wir haben dagegen keine Mühen gescheut, gesichtet und gesiebt, und die besten Neuerscheinungen des Frühlings ausgewählt.
Erfahrung schlägt Jugend, zumindest in diesem belletristischen Frühling! Bekannte Könner wie Pamuk, Andruchowytsch, Huelle oder Semprun teilen die Aufmerksamkeit unter sich auf. Dann kommen Eigengewächse wie Andreas Maier, Uwe Tellkamp oder Martina Hefter, die alle mit ihren zweiten Romanen dagegenhalten. In der Lyrik besticht Thomas Kling, dann übernimmt Schweden. Zu den wichtigsten Sachbuchthemen gehört mal wieder der Zweite Weltkrieg, dem wir ein eigenes Kapitel widmen. Wir haben die Literaturbeilagen ausgewertet und stellen Ihnen hier in den "Büchern der Saison" die interessantesten Neuerscheinungen vor.

Romane

Die Gefeierten

Ein großer, ein europäischer Roman sogar: In seltener Eintracht schwärmen die Kritiker von Orhan Pamuks Roman "Schnee" in dem der Autor einen Dichter in eine abgelegene türkische Provinzstadt schickt, wo Mädchen wegen eines Kopftuchverbots Suizid begehen und Schauspieler einen Putsch inszenieren. Extreme Inhalte, doch weit und breit keine "marktschreierischen Effekte", schnurrt die FR und lauscht entspannt dem gedämpften Ton des Schneefalls. Für die SZ ist Pamuks Werk alles zugleich, Gesellschaftsporträt und Liebesgeschichte, politische Parabel und Inspiration zur Poesie, Nahaufnahme der gegenwärtigen Türkei und Blick aus der "Weltperspektive". Die taz sieht das nationale Drama der Türkei aufgeführt, und die NZZ kostet mit süßem Schmerz den "bitteren Humor eines Moralisten".

Auch mit seinem neuen Roman "Zwölf Ringe" bleibt Juri Andruchowytsch der postmoderne Lieblings-Ukrainer der hiesigen Kritiker. Andruchowytsch schickt den österreichischen Fotografen Karl-Joseph Zumbrunnen ins "Wirtshaus auf dem Mond" in den Karpaten, lässt ihn dort auf Oligarchen, Intellektuelle und Stripteasetänzerinnen treffen und schließlich umkommen. Die im Nachhinein etwas "trivial" wirkende Handlung ist gar nicht wichtig, beschwichtigt Ilma Rakusa in der NZZ, sie kann sich ganz auf die überbordenden "literarischen (und anderen) Anspielungen" konzentrieren. Kollege Hubert Spiegel widmet dem Buch die Aufmacherseite der FAZ-Frühlingsbeilage, fühlt sich an Italo Calvino und Bram Stoker und deren "magischen Realismus" erinnert und beobachtet ansonsten fasziniert aus dem Lesesessel, wie Andruchowytsch seine Figuren tanzen lässt.

Scheinbar mühelos schüttelt Martina Hefter in "Zurück auf Los" den Erwartungsdruck ab, der sich seit dem gefeierten Erstlingsroman "Junge Hunde" aufgebaut hat. Die Geschichte um Trennung und Verlust spielt sich ausschließlich im Kopf der Protagonistin ab, staunt die FR, die sich an Hefters "poetologischer Raffinesse" gar nicht sattlesen kann. Die SZ konkretisiert: die starken Affekte werden von der "feinnervigen", ordnenden Sprache gleichsam gezügelt und wirken dadurch nur noch intensiver. (Hier eine) Mit "Das Gefühl am Morgen" legt Rainer Merkel ebenfalls seinen zweiten Roman vor, er verlegt die Handlung aber nicht in die siebziger, sondern in die achtziger Jahre zurück. Nach der Lektüre der "bis ins Letzte durchdachten" Liebesgeschichte feiert die FR Merkel als einen der "spannendsten deutschsprachigen Autoren". Die FAZ beobachtet fasziniert, wie sie an der Hand Merkels ins "psychopathologische Zentrum" des Jahrzehnts vordringt, und die Zeit sieht das Buch als Entwicklungsroman, etwas "Anstrengenderes und Interessanteres" als eine bloße Liebesgeschichte.

Mit Bewunderung wurde Jorge Sempruns Roman "Zwanzig Jahre und ein Tag" aufgenommen. Im Mittelpunkt des Buches steht der Mord an Gutsbesitzersohn Jose Maria, der von aufgebrachten Landarbeitern bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs erschossen wird, die eigentliche Handlung des Romans aber spielt in den fünfziger Jahren des Franco-Regimes, erklärt die NZZ. Sie ist beeindruckt, wie es Semprun gelingt, neben dem "harten politischen Kern" eine "bezaubernd melancholische Atmosphäre" zu erzeugen. "Ein großer Roman über ein fast vergangenes Jahrhundert", befindet die Zeit. "Man mag sich als Jude auf der Welt verlieren, der Liebe seiner Mamme aber entkommt man nicht so schnell." David Bezmozgis' Erinnerung an die Ankunft seiner lettischen Familie im Kanada der achtziger Jahre und natürlich die titelgebende Cousine "Natascha" hat sich bei NZZ und taz gleichermaßen eingeprägt. Während die Schweizer in der "luziden Melancholie und seinem lakonischen Witz" schwelgen, gefällt den Berlinern vor allem die Abwesenhheit jeglicher Sowjetnostalgie.


Die Umstrittenen

Heftige Reaktionen löst "Der Eisvogel" in der Kritikergemeinde aus. Uwe Tellkamps langerwarteter zweiter Roman ist für die taz nichts weniger als die "Enttäuschung der Saison". Die Geschichte rund um eine Terrorgruppe von rechten Geistesaristokraten, die in Deutschland einen "Kasten- und Ständestaat" herbeischießen will, halten die meisten für banal, nur die SZ sieht hier einen "enorm plastischen Gesellschaftsroman" vorliegen. Für die Form gibt es überwiegend Lob, die FR spricht von handwerklichen "Finessen", die Zeit bestaunt die "unbändige Sprache", die SZ lauscht dem "raffinierten Stimmenchor", nur die taz gibt sich auch hier unversöhnlich und wettert gegen Tellkamps "pseudoflirrenden, pseudosinnlichen" Stil. Hier eine

Schreibt die bisher als Lyrikerin bekannte Silke Scheuermann nun unerhört gute oder unheimlich schlechte Kurzgeschichten? Die taz will Scheuermanns gnadenlos genau beschriebene "Reiche Mädchen" die in der Liebe alles falsch machen, am liebsten herzen und wachrütteln. Schöner kann man vom Glück und all den anderen Illusionen des Lebens nicht schreiben, pflichtet die FAZ bei. FR und SZ sind gänzlich anderer Meinung. Die eine konstatiert "gespreizte Geschwätzigkeit", die andere langweilt sich bei der verzweifelt um Originalität bemühten "Frau-zu-Frau-Prosa" zu Tode. Ist Andreas Maier mit "Kirillow" () nun auf einer "neuen Stufe des Könnens" angelangt, wie die Zeit meint, oder haben wir es stattdessen mit "Anmaßung und Renommiersucht" zu tun, wie die SZ höhnt? Der Weg einer Gruppe Studenten vom Geschwätz zur Gewalt behandelt das Missverhältnis von Rhetorik und Tat. Für die angeregte taz ein politischer Roman, der alle Versuche, politisch zu werden, "lustvoll zerlegt", für die entnervte SZ ein unerträglicher "Verhau aus einer weltanschaulichen Tragödie und der absurd-komischen 'Trilogie des laufenden Schwachsinns' nach Eckhard Henscheid".

Auch bei Eva Menasses Debütroman herrscht Lagerbildung unter den Rezensenten. Ihre Familienburleske "Vienna" lässt sich die SZ "wie eine luftige Mehlspeise mit dezent alkoholisiertem Kompott" auf der Zunge zergehen, während am Nebentisch die Zeit über Wiener "Schmäh und Pointen" wiehert. Die NZZ hat bei dem "kreuzbraven" und vor "Harmlosigkeit" strotzenden Buch dagegen nichts zu lachen, und auch die FR ermüdet die Anekdotendichte eher. Die findige taz entdeckt aber selbst hier, wo andere schon verzweifeln, ein "systematisches Konstruktionsprinzip".

Sich an Thomas Mann und seinen Hans Castorp aus dem Zauberberg heranzuwagen und ihm ein Vorleben als Student in Danzig anzudichten, das ist verwegen, darin sind sich alle Rezensenten einig. Und für beinahe alle ist Pawel Huelles Husarenstück durch und durch gelungen. Die taz kann erleichtert melden, dass mit "Castorp" kein "epigonales Rankenwerk" entstanden sei, die SZ beobachtet voller Wonne, wie der "gewitzte" Huelle einen Zauberberg "in verkleinertem Maßstab" erschafft und die NZZ reist einfach gern in die Belle Epoque. Nur die FAZ sieht unbeeindruckt zu, wie dem Zauberberg entlehnten Motive hilflos mit ihren Stummelflügeln wedeln, "wie Küken, die noch nicht richtig flügge sind". (Hier können Sie ein wenig reinlesen.)


Die Enttäuschungen

Christoph Heins Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" um den Werdegang des 1993 von der Polizei erschossenen RAF-Mitglieds Wolfgang Grams gilt als durchweg misslungen. Nur die FR sieht darin ein "Lehrstück", die anderen Zeitungen sind maßlos enttäuscht. Hein mache sich zum "Sprachrohr" der RAF-Mythologisierung, grantelt die SZ, die FAZ bemängelt "leblosen Pseudorealismus" mit hölzernen Dialogen, die Zeit sucht in der minutiös recherchierten Geschichte vergeblich nach ästhetischer Anstrengung, die NZZ sieht Hein nur haarscharf am Kitsch vorbeischrammen, und der taz gilt Heins Studie zu Recht und Gerechtigkeit als "ehrpusselig".

Keine Freude hatten die Rezensenten mit Michael Crichtons Ökothriller "Welt in Angst" Das Handlungsgerüst nutzt Crichton, um seine wissenschaftliche Recherche zum Thema Klimakatastrophe auszubreiten, klagt die FAZ, die sich mit der "Faktenhuberei", blassen Figuren und hölzernen Dialogen gründlich gelangweilt hat. Die taz meint: "Zahlenden Mitgliedern von Greenpeace und dem World Wildlife Fund wird dieser Roman nicht besonders gefallen, aber eingeschworene Michael-Crichton-Fans werden ihn mit Sicherheit hassen."


Die Wiederentdeckten

Mit großem Interesse wurde die Entdeckung von Patrick Hamiltons 1941 erstmals erschienen Roman "Hangover Square" rund um den hoffnungslos Trinkenden und Liebenden George Bone aufgenommen. Das Buch profitiert von Hamiltons Erfahrung als Bühnenautor: Er hat die Theaterstücke "Rope" und "Gaslight" geschrieben, ersteres wurde von Hitchcock, letzteres von Cukor verfilmt, erklärt die NZZ. Hier können Sie ein wenig reinlesen. Marcel Schwobs in "Das gespaltene Herz" versammelte Geschichten von 1891 hat die Rezensenten von FR, FAZ und Zeit in die Knie gehen lassen. Wer Robert Louis Stevenson, Jules Verne oder Mark Twain mag, wird mit diesem Buch auf seine Kosten kommen. Stellvertretend für alle sei hier Michael Jeismann (FAZ) zitiert: Lassen Sie sich in einen Schwindel versetzen ob der Art, wie Schwob Präzision und Märchenhaftigkeit zusammenbringt; lassen Sie sich, wie seinerzeit schon die Surrealisten, davon mitreißen, wie er den Moment inszeniert, "in dem eine realistische Szene mit großer Selbstverständlichkeit ein zweites Gesicht erhält". Lassen Sie sich begeistern von Schwobs "historisch-literarischer Freihändigkeit", und freuen Sie sich über die schöne und "sorgfältig edierte" Ausgabe.


Lyrik

Die Elegien der Kritiker auf Thomas Klings Gedichtband "Auswertung der Flugdaten" werden vom viel zu frühen Tod des Dichters überschattet. Er selbst hat seine Erkrankung schon seit längerem in seine Texte implementiert. Die "funkeln kalt in technischer Bläue", wie Hubert Winkel in der Zeit ergriffen notiert. Als unerhört gelungen beschreibt er den dritten Teil des Bandes, in dem Kling die Gattungen Essay und Gedicht ertragreich miteinander verschränkt. Michael Braun lässt sich in der NZZ von der Reibungshitze erwärmen, die entsteht, wenn Kling Sprachpartikel aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringt und bestaunt derart in Stimmung gebracht die "Bildfügungen von intensiver Leuchtkraft".

Nach den großartigen, wortkargen Gedichten von Tomas Tranströmer möchte die FAZ am liebsten ergriffen schweigen und des "Verschwindens der Subjektivität" gedenken, dem man in "Das große Rätsel" anscheinend so nahe kommt wie selten zuvor. Natürlich verstummt die FAZ nicht so leicht, und so erfahren wir auch von den Vorzügen der angemessen nüchternen Übersetzung von Hans Grössel. Die "Strahlung" von Gunnar Ekelöfs Versen wird noch lange spürbar sein, orakelt die NZZ, nachdem sie den letzten Band "Färjesang/Fährgesang" der großen Werkausgabe des schwedischen Großmeisters aus dem Münsteraner Kleinheinrich Verlag goutiert hat. Sie hätte sich bei einem derart belesenen Autor wie Ekelöf noch mehr Anmerkungen gewünscht, die Übertragung hingegen überzeugt nach anfänglichen Zweifeln doch durch ihren eigenen Rhythmus. Die FR betont zwar raumgreifend die außerordentliche Bedeutung Ekelöfs, geht aber kurioserweise auf den vorliegenden Band nicht näher ein. Vielleicht hat sie kein Exemplar mehr erhalten. Hier können Sie Ihres


Kinderbücher

Joke van Leeuwen hat in ihr Kinderbuch "Weißnich" genug Einfälle gesteckt, dass es "für dreißig Bücher reicht", flötet Konrad Heidkamp in der Zeit hingerissen. Seine Kollegen stehen ihm in der Begeisterung für das aus seiner eigenen Geschichte gefallene gelbnasige Wesen in nichts nach. Die SZ lässt sich von der niederländischen Autorin gern ihr ganzes Können vorführen, wenn diese von einer Geschichte zur anderen springt, Fotos neben Comics stellt oder Buchstaben zum Tanzen bringt. Und die FAZ verspricht ganz lapidar Lese- und Augengenuss pur.

Die "ungemein echten Typen" haben es der FR wirklich angetan. Für sie ist David Almonds "Feuerschlucker" die Geschichte rund um einen Jungen in einer englischen Kleinstadt, der nicht nur mit der Kubakrise, sondern auch mit einem unheimlichen Mann konfrontiert wird, ein "Glanzstück" der Jugendliteratur. Die SZ kann nur beipflichten, während sie fasziniert beobachtet, wie perfekt sich "Mystizismen und Nüchternheit" die Waage halten.


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