09.04.2004. Franziska Gerstenberg und Dorota Maslowska brachten die Kritik fast zum Weinen (vor Glück!). A. L. Kennedy weiß, wie sich ein Mörderwal fühlt, der einen Brief öffnen will. Dies ist ein großer literarischer Frühling. Wir haben die besten Bücher ausgesucht.
Müssen die
Zeiten schlechter werden, damit die
Literatur besser wird? In diesem Frühjahr sind uns so viele atemlos gefeierte Romane aufgefallen, dass nur zwei Möglichkeiten bleiben: Entweder alle Rezensenten stehen
unter Speed. Oder diese Saison geht in die
Literaturgeschichte ein. Wir ordnen die Literatur systemtheoretisch in die Felder "Leben heute", "Liebe und Begierde" , Tod", "Vergangenheit und Zukunft" und "prachtvolle Neuübersetzungen". Sogar ein
literarisches Meisterwerk hat diese Saison zu bieten:
Les Murrays Versroman "Fredy Neptune". Auch
andere literarische Genres sind stark vertreten, etwa die
Reportage. Bei den
Sachbüchern fiel uns zum Beispiel ein wunderbarer Band über die
Urgeschichte New Yorks auf, bei den
politischen Büchern überwiegt das Nachdenken über Deutschland. Und auch ein paar sehr schöne
Kinderbücher hat diese Saison hervorgebracht.
Und da der Perlentaucher so oft nach dem Wunder seiner Existenz befragt wird: Es finanziert sich unter anderm durch die Provisionen unserer Partnerbuchhändler, wenn Sie über den Perlentaucher bestellen. Romane - Leben heute Debüts zuerst! Franziska Gerstenbergs Erzählband
"Wie viel Vögel" () hat die
NZZ fast zum Weinen gebracht. Franz Haas ließ jede Deckung fallen und feierte eine junge ostdeutsche Autorin, die ganz ohne ostalgischen Rückblick auf ihre Kindheit in der DDR auskommt, die statt dessen "Momentaufnahmen aus dem
neuesten Deutschland" liefert und mit "leuchtenden Bildern und
funkelnden Wendungen" die Alltagsmisere im Osten beschreibt. Auch die
taz zeigt sich beeindruckt von der
Präzision, mit der Gerstenberg die unterschiedlichen Fluchtversuche ihrer kraftlosen jungen Leute beschreibt. Und die
FAZ, die dem Buch den
Aufmacher der Frühjahrsbeilage widmete, wundert sich, in wievielen Facetten Gerstenberg den
grauen Himmel über Deutschland
schillern lässt.
Ein wahrer Lorbeerteppich wurde für
Dorota Maslowska ausgebreitet. Ihren Debütroman
"Schneeweiß und Russenrot" () schrieb sie mit achtzehn Jahren, in Polen wurde er ein Bestseller.
NZZ und
FAZ sind fasziniert von dem
"farbenprächtigen Jugendslang" des jungen Andrzej, der - von seiner Freundin verlassen - auf der Suche nach
tröstlichen Drogen eine namenlose Stadt durchstreift. Richard Kämmerlings rühmt Maslowskas "stupendes Sprachvermögen". Wir "werden
Zeuge von Poesie", erklärt Adam Olschewski in der
NZZ.
Der kroatische Autor
Zoran Feric bringt in seinem Roman
"Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzchen" () den
Mord an einer Transsexuellen, Elemente des
Schauerromans und den
Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zusammen. Die Kritik war hingerissen: eine "Balkanversion von Twin Peaks", freute sich die
FAZ, mysteriös, doch werde die blutige Realität nie zugedeckt von Esoterik. Die
Zeit lobt die bizarre Verbindung von
Witz und Wahn und charakterisiert die Kunst des Autors gruselig als "Pathologie am lebendigen Leib".
Dreiunddreißig Kapitel, in denen der Ich-Erzähler, ein
"heiliger Franziskus des Hausrats" (
SZ) und "gläubigen Sitzpinkler" (
FAZ) dreiunddreißig Mal aufsteht, sich Frühstück macht und dem Leser mitteilt, was ihm dabei so durch den Kopf geht. Klingt nicht gerade wie ein Heuler. Aber
Nicholson Bakers Roman
"Eine Schachtel Streichhölzer" () hat die Rezensenten einfach
glücklich gemacht. Der Mann kann eben schreiben. Nach einer Weile entfaltet das Buch "metaphysische Feuerkraft" schwärmt Thomas E. Schmid in der
Zeit. "In seiner Harmlosigkeit sensationell", findet es Ina Hartwig (
FR). Baker gießt einen fast
überirdischen Glanz über die Trivialitäten des Alltags, staunt Thomas Steinfeld in der
SZ.
Zwiespältig, aber doch mit Interesse aufgenommen wurde
Thorsten Beckers türkische Familiensaga "Sieger nach Punkten" (), ein Roman, dem die
FR "Ironie und
feinen Humor" bescheinigt, während die
FAZ, auch wenn sie die Eleganz der Sprache lobt, nach einer Weile ermüdete und "türkische
Geschichtsklitterung" witterte. Ebenfalls gut besprochen wurden
Monica Alis Debütroman über die
Bangladesher Immigrantenszene in der Londoner
"Brick Lane" (),
DBC Pierres "Jesus von Texas" (), der Gewinner des diesjährigen Booker Preises, und
Rujana Jegers "Darkroom" (), ein Roman, der laut
SZ trocken witzig die Dynamik einfängt, die sich zwischen dem allgegenwärtigen Krieg und dem Privaten in
Kroatien entwickelt.
Romane - Liebe und Begierde Auf das liebevollste wurde
A.L. Kennedys Roman
"Also bin ich froh" () aufgenommen. Die
taz war zu Tränen gerührt von der Liebesgeschichte, in der ein
gewisser Cyrano de Bergerac wie der
flammende Dornbusch im Alten Testament leuchtend auf dem Küchenstuhl seiner Angebeteten sitzt. Die
NZZ ist begeistert vom Zusammenstoß eines romantischen Helden mit einer modernen Heldin, die sich beim Sex fühlt wie ein "
Mörderwal, der verzweifelt versucht, einen Brief zu öffnen". Stilhöhe und Gedankentiefe sind einander ebenbürtig, staunt die
FAZ.
Gar nicht romantisch, sondern durchtränkt vom
französischen Geist der Essays und Traktate des
18. Jahrhunderts (
SZ) ist
Undine Gruenters letzter Roman
"Der verschlossene Garten" (). Es ist ein Roman über die Liebe, über eine
Menage a trois, die am Ende scheitert. Die Rezensenten von vier großen Tageszeitungen waren tief ergriffen.
Klugheit und
Anmut der Geschichte werden gelobt, Goethe, Stendhal und La Rochefoucault als Vergleich bemüht. Heinrich Detering rühmt in der
FAZ die Zartheit und Geschmeidigkeit der Sprache Gruenters. Fasziniert beschreibt er, wie die Autorin scheinbar unversöhnliche Gegensätze ignoriert - "Sinnlichkeit und Intellektualität", eine poetische Sprache und Wörter wie
"Scheidenpessar" - ohne dass ein "peinlicher Bruch" entsteht.
Sehr gut besprochen wurde das Debüt des Briten
Adam Thirlwell.
"Strategie" () ist ein Roman über
Sex, ein "absolut zeitgemäßes Buch", wie die
taz meint, dass einen unterhaltsamen, aber auch ernüchternden Blick auf die körperliche Liebe zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirft. Auch die
SZ hatte viel Spaß beim Lesen, warnt jedoch, der Leser müsse bereit sein, sich der
"Erzähl-Domina" zu unterwerfen.
Auch
Ulrike Draesner hat sich in ihrem neuen
Erzählband "Hot Dogs" (
bestellen) auf das "prekäre Terrain des Begehrens" (
FR) begeben. Geradezu unheimlich findet die
FAZ diese Geschichten über "
Liebe und Begierde im Zeitalter ihrer reproduktionstechnischen Überflüssigkeit".
Romane - Tod Jedes Jahr ein neues Buch von
Stewart O'Nan, doch
"Halloween" () hat eingeschlagen, wie sonst nur ein sensationelles Debüt oder ein frisch übersetzter Klassiker. Worum geht's? In einem Städtchen in der amerikanischen Provinz leiden zwei Teenager an den Folgen eines schweren Autounfalls. Drei ihrer Freunde sind dabei ums Leben gekommen. Und diese
drei Toten führen den Leser durch den Roman ... In der
FAZ zeigt sich Richard Kämmerlings tief beeindruckt von dieser "Abkürzung zur Great American Novel durch den
Thrillerwald". Der "sanfte Hexenmeister" O'Nan, schreibt der
Schriftsteller Georg Klein bewundernd in der
SZ, lehrt uns alte Europäer, die die Bedeutung von Fasching und Karneval vergessen haben, den amerikanischen Totenkult. "Detailgesättigt" und spannend findet die
Zeit den Roman, und auch
taz und
FR sind begeistert.
Sehr gut besprochen wurde auch
Marcus Jensens Roman
"Oberland" (), der einen Vertreter der Generation Golf durch die siebziger und achtziger Jahre bis in den
Selbstmord begleitet.
Romane - Vergangenheit und Zukunft Glänzende Kritiken gab es für
Michael Frayns "Das Spionagespiel" (), ein Roman über zwei Jungs, die während des Zweiten Weltkriegs in der englischen Provinz eine Verschwörung wittern: die Mutter des einen, so scheint es, ist eine
deutsche Spionin. Elegant, kunstvoll und geschmeidig wechselt Frayn zwischen kindlicher und erwachsener Erzählweise hin und her, lobt Ulrich Greiner in der
Zeit. Die
taz nennt das Buch einen feinen Roman über das
Übel des Erwachsenwerdens.
Sechzehn Männer kämpfen bei einem
Turnier im
"Paradies der Schwerter" () gegeneinander, nur einer überlebt.
Tobias Meißners Roman hat Lorenz Jäger (
FAZ) verstört - er hat keine literarische Kategorie dafür gefunden. Imponiert hat dem Rezensenten die Erfindung immer
neuer Motive für die Teilnahme an den blutigen Kämpfen, und fast verblüfft fühlt er sich am Ende auch über die Gegenwart unterrichtet. Auch Christoph Bartmann (
SZ) war trotz der teils hölzernen Sprache
fasziniert.
Einen "ungeheuer spannenden" Großroman über den Kampf zweier tragikomischer Helden gegen die
Kräfte des Kapitals und des Marktes empfiehlt die
NZZ.
Thomas Rosenbooms "Neue Zeiten" () spielt zwar im Amsterdam des Jahres 1888, aktuell scheint er dennoch zu sein. Auch die
SZ schwärmt von der "detailverliebten Opulenz" des Buchs und findet es einfach "wunderbar" und dazu noch "vorzüglich" von
Marlene Müller-Hass übersetzt.
In
Gilles Roziers Roman
"Eine Liebe ohne Widerstand" () versteckt ein "Ich" einen
jüdischen Schneider vor den Nazis. Seine Schwester verliebt sich derweil in einen Nazi-Offizier. Leider konnten die Rezensenten den Mund nicht halten und haben einige Details verraten, die wohl zum Spannendsten des Romans gehören. So bleibe lange Zeit unklar, ob die "namenlose, hybride Erzählerfigur"
ein Mann oder eine Frau ist. Doch "die Frage nach Mann oder Frau entpuppt sich als ganz so banal und zum Verwechseln ähnlich wie jene nach
Jude oder Goi", schreibt ein faszinierter Volker Breidecker in der
SZ. Auch
FAZ und
FR haben den Roman sehr gelobt.
Ist
Christoph Heins "Landnahme" () nun das große Wende-Epos? Der Roman zur
deutschen Einheit?
Taz und
FR nicken heftig mit den Köpfen, beschwören die intelligente Konstruktion des Romans, der formal so perfekt sei wie ein
goldener Schnitt. Die
FAZ jedoch vermisst eine politische Perspektive in dieser Geschichte über einen "mürrischen Agenten der Anpassung", der nach der Vertreibung in der DDR landet und versucht, dort heimisch zu werden. Die
SZ findet den Roman "zäh". Da bleibt wohl nur: selber lesen.
Die schärfsten Verrisse handelte sich
Thor Kunkel mit seinem Roman
"Endstufe" () ein. Rowohlt hatte das Manuskript über die
Nazi-Pornoszene abgelehnt, der Eichborn Verlag hat es nun veröffentlicht. Für Robin Detje (
SZ) ist es ein "offen
revanchistischer und antiamerikanischer" Roman. Die
taz hat sich zwar streckenweise unterhalten, konnte aber am Ende die Leier von den "armen, verführten Deutschen" nicht mehr hören. Und
FAZ-Rezensent Richard Kämmerlings ekelt sich förmlich vor dem
"verschwitzten Kasino-Ton" der Protagonisten.
Prachtvolle Neuübersetzungen Das ist kein Buch, erklärt
Brigitte Kronauer in der
SZ, das "ist
ein Orkan, in dem man "überspült und durchbraust" wird.
Victor Hugos Roman
"Die Arbeiter des Meeres" () über einen Fischer, der ein Boot bergen will, um die Hand der
Reederstochter Deruchette zu erobern, beweise "mit Glanz, Orkan und Gloria, zu welchen
archaischen Erschütterungen, ja Herrlichkeiten Literatur fähig ist". Vor allem die Literatur des 19. Jahrhunderts! Joseph Hanimann rühmt in der
FAZ Rainer G. Schmidts "prachtvolle Neuübersetzung" dieses "ozeanischen Werkes", das zu Hugos besten Romanen zähle. Wir sind entzückt von den enthusiastischen Kritiken und regen ein Porträt
Mirko Schädels an, der mit seinem Ein-Mann-Verlag
Achilla Presse - der Himmel weiß wie - die erste ungekürzte deutsche Übersetzung dieses Klassikers finanzierte.
Mit größtem Lob bedacht wurden außerdem
Elisabeth Edl für ihre Neuübersetzung von und ihr höchst hilfreiches Nachwort zu
Stendhals "Rot und Schwarz" (),
Claudia Ott für ihre unvergleichliche Neuübersetzung von
"Tausendundeine Nacht" (
homepage, ) und
Swetlana Geiers Übersetzung von
Dostojewskis "Brüder Karamasow" (): Eine echte Alternative zum Original, schwört Ilma Rakusa in der
NZZ. Paul Ingendaay rühmt in der
FAZ das "vibrierende Deutsch" der Übersetzung. In der
FR erklärt Yaak Karsunke die Karamasows für "reaktionär". Wen zum Teufel kümmert das? Soll er doch künftig die
Beigbeders der Saison () besprechen.
Romane /
Lyrik, Krimis, Reportagen, Kinderbücher /
Sachbücher /
politische Bücher