09.04.2001. Zu den vielbesprochenen Frühlingsdebütanten gehört vor allem Annette Pehnts Roman "Ich muss los" über einen schüchternen Stadtführer, der Limonadebrunnen und Honigfrauen zusammenbringt. Die SZ lobt die prägnante Sprache der Autorin, die FAZ hat hier ein witziges und böses Stück Literatur gefunden, und für die Zeit ist Annette Pehnt glattweg vom Himmel gefallen.
Literatur Es ist Frühling, beginnen wir mit den Debütanten. Zu den vielbesprochenen
Frühlingsdebütanten gehört vor allem Annette Pehnts Roman "
Ich muss los" über einen schüchternen Stadtführer, der
Limonadebrunnen und
Honigfrauen zusammenbringt. Die
SZ lobt die
prägnante Sprache der Autorin, die
FAZ hat hier ein
witziges und böses Stück Literatur gefunden, und für die
Zeit ist Annette Pehnt glattweg
vom Himmel gefallen.
Mit viel Lob wurde auch Irene Ruttmans Debütroman "
Das Ultimatum" bedacht, in dem sich ein Liebespaar 1958 entscheiden muss, ob es in
Ostberlin bleiben oder in den
Westen fliehen soll. Der
Zeit gefällt daran, dass die Autorin nicht aus späterem besseren Wissen schreibt, sondern die
Motive ihrer Protagonisten genau ausleuchtet. Die
SZ fand hier im
besten Sinne schlichte Prosa.
Sehr gut besprochene Debüts wurden weiter Nika Bertrams "
Der kahuna modus", ein
experimenteller Roman über eine
Comic-Zeichnerin, den die
SZ (die in ihrer Literaturbeilage sehr viele Debüts besprochen hat) in der
Tradition von Konrad Bayer sieht, Ramona Diefenbachs
hochelegantes Debüt "
Das Spiegelhaus", ein Roman über die
gegenseitige Verlockung dreier vierzehnjähriger Mädchen und eines pädophilen Mittdreißigers und Norbert Zähringers Roman "
So", dessen Geschichte eines
Ostberliner Bankräubers sich laut
SZ liest, als hätten die Marx Brothers einen Roman geschrieben.
Die beiden am
überschwänglichsten gefeierten Autoren zwar die Vierzig weit überschritten, gelten aber dennoch als Außenseiter in der Szene: Georg Kleins Detektivgeschichte "
Barbar Rosa" bewundert die
FAZ, die dem Buch ihre Aufmacher widmete, für das
virtuose Spiel mit literarischen Anspielungen. Die
SZ warnt vor
würgend-widerlichen Passagen, bekennt aber auch, dass dieses "Gruselkabinett"
verführerisch ist. Und die
Zeit behauptet schlicht: "Niemand schreibt derzeit Vergleichbares".
Mit
allergrößtem Respekt wurde auch W.G. Sebalds "
Austerlitz" besprochen. Das Buch erzählt die Geschichte eines Mannes, der durch den
Holocaust seine Eltern, ja sogar seine
Identität verlor und sich auf Spurensuche begibt. Die
NZZ findet das Erinnerte hier so
lebendig geschildert, "als würde es gerade geschehen", und die
FR lobte in ihrem Aufmacher Sebalds
Sprachmusik.
Viel besprochen wurden weiter Milan Kunderas
Heimkehrergeschichte "
Die Unwissenheit", Don DeLillos Roman über "die
Überwindung des Todes durch die Aufhebung der Zeit" (
Zeit) "
Körperzeit" , John Fosses "
Melancholie", ein Künstlerroman und
schwerer Fall von Weltliteratur (
SZ), Haruki Murakamis "
Naokos Lächeln", dem die
Zeit in ihren Aufmacher bescheinigt,
sehr direkt über Liebe und Sexualität zu sprechen, während die
FAZ hier nur einen
gescheiterten Entwicklungsroman fand, Tim Parks "
Schicksal", ein Roman über
Ehe und Identität, der
FAZ und
taz gleichermaßen hinriss und Thomas Lehrs "Meisterstück" (
FR), die Novelle "
Frühling", deren
assoziative Erzählrhythmik die
taz bewundert.
Einsam amüsierte sich Frank Schirrmacher in der
FAZ über Michael Frayns "
Celias Geheimnis", die
Geschichte einer Blamage des Schriftstellers Frayn.
Niels Bohr und
Werner Heisenberg sind daran nicht unschuldig! Und auch Nicolaas Matsiers "
Selbstporträt mit Eltern" fand bisher nur eine Bewunderin, die allerdings so
hingerissen und engagiert war, dass man das Buch am liebsten gleich bestellt hätte: Schlicht als ein
Wunder bezeichnet Margrit Irgang in der
SZ diese Geschichte einer
Jugend in den Niederlanden der vierziger und fünfziger Jahre und lobt die
ungewöhnliche Anmut der Erzählung.
Lyrik Allgemeine Bewunderung erntete Philippe Jaccottets Lyrikband "
Antworten am Wegrand". Die
FR feierte Jaccottets Naturbeschreibungen als
Kunst der Notiz, die
SZ konnte nach der Lektüre wieder an das
Allerschönste glauben, und die
FAZ sah
starke Mächte freigelegt. Sehr gut besprochen wurden auch Ulrike Draesners Gedichtband "
für die nacht geheuerte Zellen", der die
FR in
betäubendes Verdämmern versetzte und Thomas Klings "
Botenstoffe".
Kinder- und Jugendbücher Gefeiert wurde vor allem Kurt Schwitters
wunderbar surrealistische "
Geschichte vom Hasen" (ab 5 Jahre). Nur bei den
Illustrationen von Carsten Märtin gibt es Diffenzen:
SZ und Zeit gefielen sie, der FAZ nicht. Die
Zeit liebte "
Ein Haus voll Musik" (ab 5 Jahre) über eine
Hausgemeinschaft von Musikinstrumenten, die FR empfiehlt fünf Jugendbücher, die sich mit
Nationalsozialismus und Flucht auseinandersetzen - hier besonders Mirjam Presslers "
Malka Mai".
Cool findet die
Zeit eine in der Tierwelt angesiedelte Kriminalgeschichte mit einer
Wanze als Detektiv: "
Heiße Spur in Dixies Bar". Und allein schon wegen des
wunderbaren Titels ist noch auf Elisabeth Zöllers "
Ich knall ihr eine" (immer empfehlenswert) hinzuweisen, in dem ein Mädchen lernt, sich gegen einen
Klassenschreck durchzusetzen.
Sachbücher
Im Bereich
Biografien/Erinnerungen ist vor allem auf Bernhard Graus Biografie des
1919 ermordeten jüdischen Sozialdemokraten
Kurt Eisner hinzuweisen. Die
SZ lobt das
Einfühlungsvermögen des Autors und die
Zeit ist beeindruckt von der
sorgfältigen Recherche.
Viel besprochen wurde auch die
solide (
taz)
Stoiber-Biografie von Peter Köpf und Jürgen Roths Aufzeichnungen seiner Gespräche mit dem ukrainischen
Oligarchen Vadim Rabinovich - ein Buch, das die Kritik vor allem über die
Motive Rabinovichs "auszupacken" rätseln ließ.
Unter den
politischen Büchern dominierte Joachim Raschkes Abrechnung mit den Grünen: "
Die Zukunft der Grünen - so kann man nicht regieren". Nach Wolfgang Roth in der
SZ dürfte die Lektüre
vielen Grünen wehtun, so scharf werde hier ihre Orientierungslosigkeit gegeißelt. In der
Zeit schildert Matthias Geis das Buch als Porträt einer "ehemaligen" Reformpartei, und in der
FR hat Vera Gaserow das Buch als einen
vorweggenommenen Obduktionsbericht gelesen.
Viel besprochen wurde auch Niall Fergusons Buch über das fatale Vertrauen in die Wirtschaft, "
Politik ohne Macht", dessen Materialreichtum bei den Rezensenten allerdings ein
Völlegefühl hinterließ. Und schließlich ist noch Laurie Garretts Bericht über "
Das Ende der Gesundheit" hervorzuheben, ein Buch über den Zusammenhang von Armut und Krankheit, das die
SZ alarmierend und die
Zeit zumindest in der ersten Hälfte
spannend geschrieben und gut recherchiert fand.
Bei den
historischen Büchern ist auf den ersten Band der "
Deutschen Erinnerungsorte" hinzuweisen, ein Projekt, das sich an die berühmten französischen "Lieux de memoire" anlehnt - in Frankreich leitete dieses von
Pierre Nora herausgegebene Sammelwerk eine Rückkehr zur politischen und Kulturgeschichte ein. Ähnlich wie in den "Lieux de memoire" geht es in den "Deutschen Erinnerungsorten" darum, die Bedeutung bestimmter
nationaler Themen für die Identität und das Selbstbild eines Landes zu ermessen. Das kann das Nibelungenlied sein, aber auch die Schriftstellerfamilie Mann.
Die
FR findet die Reihe schon vom Ansatz her
misslungen, weil Deutschland im Gegensatz zu Frankreich nun mal keine homogene Nationalgeschichte habe. Johannes Willms leugnet in der
SZ nicht die
Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens, freut sich aber auch über die "Fülle vom Vergessen oxydierter Reminiszenzen", die hier zum
Aufleuchten gebracht werden. Auch Ulrich Raulff ist in der
FAZ recht
wohlwollend, obwohl er manche Themen wie etwa den "Faust" oder "Dürer" in dem Band
vermisst - aber Fortsetzungen sind ja angesagt.
Viel besprochen wurde Eric Hobsbawms
Essaysammlung "
Ungewöhnliche Menschen": die 26 Aufsätze über soziale Bewegungen, zeitgeschichtliche Fragen und die Ursprünge des Jazz aus den letzten 40 Jahren findet die
Zeit bunt und funkelnd, der
SZ gefällt der
unpedantische Stil und die
FR ist beeindruckt von der
Haltbarkeit der Texte.
Auch die Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus reißt nicht ab. Das am
heftigsten diskutierte Buch war Edwin Blacks "
IBM und der Holocaust", das als eines der ersten Bücher an das Tabu amerikanischer Kollaborationen mit den Nazis rührt. Die Kritiken sind allerdings äußerst zwiespältig. In der
SZ lobt Volkhard Knigge die
Seriosität der Darstellung und folgt Blacks These, dass die Lockkartenmaschinen von IBM den Nazis bei ihren Mordplänen durchaus hilfreich waren. In der
taz findet Peter Steinkamp das Buch zwar interessant, aber
fragwürdig, während Matthias Arning in der
FR eindeutig kritisch ist und den ungenauen Begriff der "Verstrickung" kritisiert.
Über
IBM ist übrigens ein
zweites Buch anzuzeigen, das allerdings in die Kategorie der Wirtschaftsbücher gehört und ein ganz anderes Themenfeld absteckt: Doug Garrs "
Der IBM-Turnaround", das erzählt, wie der
Manager Lou Gerstner das Unternehmen wieder aus seinem Tief herausholte. Die
FAZ hat daraus
interessante Details über den Turnaround aber auch die Person Gerstners gezogen.
Im Bereich
Philosophie wurde Wolfgang Bauers nachgelassene
Geschichte der chinesischen Philosophie mit dem größten Respekt aufgenommen: Die
FAZ findet es von
immensem Nutzen, die
Zeit sieht darin einen
vorzüglich geschriebenen und auch für Laien verständlichen Beitrag, die Grenzen
eurozentrischen Denkens aufzuzeigen. Die
FAZ war außerdem sehr angetan von Alain de Bottons "
Trost der Philosophie". Der Autor untersuche
angenehm unangestrengt die lebenspraktische Verwendungsfähigkeit großer Philosophen wie
Schopenhauer (hilfreich bei
Liebeskummer) und
Montaigne (zuständig für
Erektionsprobleme).
In den
Naturwissenschaften erschien uns am interessantesten die
Biografie eines Schafs: "
Dolly" von Ian Wilmut, Colin Tudge und Keith Campbell. "Wissenschaftliche Informationen aus
erster Hand", lobt die
FAZ. Und auch die
SZ findet, es ist eine manchmal etwas komplizierte, aber l
ohnende Lektüre. Zustimmung fand auch "
Gott würfelt nicht", Richard Morris
Geschichte der Physik, die auch
für Laien lesbar ist, wie die
FAZ versichert.
Der von
Michel Serres herausgegebene "
Thesaurus der exakten Wissenschaften" stieß dagegen auf sehr unterschiedliche Resonanz:
absurd, verführerisch, beunruhigend findet die
SZ diese Enzyklopädie des
Wissens der Welt, die
FAZ vermeldet dagegen enttäuscht:
gescheitert.
Schließlich ist noch "
Im Tropenfieber", ein Buch über
Ethnologen des 19. Jahrhunderts in Zentralafrika, hervorzuheben: Johannes Fabians These, dass es nicht die
Eingeborenen waren, die sich
irrational verhielten, sondern vielmehr die Ethnologen angesichts der fremden Sitten regelmäßig in
Rauschzustände gerieten, findet die
FAZ überzeugend.
Die
vollständig ausgewerteten Literaturbeilagen des Frühjahrs 2001 finden Sie
hier. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.