05.11.2018. Georgische Birnenfelder, schwule Tanzmädchen, ein mordender Hochstapler, syrische Angst, ungarische Komödie und gesinnungsfeindliches Flippern in Crocutanien.
Es ist das schwerste Gewicht, das wir im Perlentaucher
Jahr für Jahr stemmen. Wir gucken die Kritiken des Herbstes durch, und suchen nach jenen Büchern, die bleiben werden: Manche Empfehlungen stammen auch aus Perlentaucher
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Gastland Georgien160 georgische Romane sind anlässlich der Frankfurter Buchmesse ins Deutsche übersetzt worden, aber nur wenige wurden besprochen. Das Land im Kaukasus bleibt auch nach der Messe merkwürdig fremd. Eine sehr lesenswerte
Reportage, die sich mit Geschichte und Kultur des Landes befasst, findet sich im
Dlf-Kultur. Auch die
NZZ widmete ihre Literatur- und Kunst-Beilage im Oktober dem Gastland: Der georgische Schriftsteller
Aka Morchiladze entwirft hier eine kurze Geschichte seines Heimatlandes, Claudia Mäder hat sich mit dem einstigen Dissidenten
Lewan Berdsenischwili getroffen.
Wer Georgien verstehen will, sollte
Guram Dotschanaschwilis bereits 1978 erschienenes Epos
"Das erste Gewand" lesen, empfiehlt
SZ-Kritikerin Sonja Zekri - für sie ist der Roman das "
totale Buch": "biblische Parabel und mittelalterliche Queste, Stalinismus-Abrechnung und Gralslegende, magischer Realismus und
Schlachtengemälde". Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes aus gutem Hause, der in die Fremde reist und drei große Städte kennenlernt: ein lebensfrohe, eine auf Folter beruhende paranoide und eine Stadt der Gerechten, die vernichtet wird. In der
Zeit versichert Stephan Wackwitz, dass die Lektüre, die mit ihrer literarischen Komplexität, spirituellen Tiefe und
Welthaltigkeit allerhand Wissen über georgische Traditionen voraussetze, manchmal etwas mühevoll ist, aber absolut lohnt: Der Leser bekommt Zugang zu einem zugleich hochtraditonellen wie avantgardistischen Werk und begegnet vielen skurrilen Figuren in einer turbulenten Handlung, verspricht er.
In das Georgien der
Neunziger entführt uns die Dokumentarfilmerin
Nana Ektimishvili mit ihrem Debütroman
"Das Birnenfeld" den vor allem
Zeit-Kritikerin Iris Radisch empfiehlt. Die in den "Plattenbau-Katakomben" von Tbilissi spielende Geschichte um die achtzehnjährige Lela, die als Kind
im Internat missbraucht wurde, sich heute prostituiert, und doch über einen enormen Durchhaltewillen auch gegenüber der Männerwelt verfügt, hat Radisch tief bewegt. Sie erkennt hier eine an J. M. Coetzee erinnernde "schonungslose Sachlichkeit". Im
NDR lobt Mirko Schwanitz den Roman als "klug konstruiertes" und "
scharfsichtiges Porträt einer Gesellschaft, die auf dem Weg in eine neue Zeit ihre Mitmenschlichkeit verliert." Lohnenswerte Lektüre scheint auch
Zaza Burchuladzes im Original bereits 2011 erschienener Roman
"Der aufblasbare Engel" von zu sein, nach dessen Veröffentlichung der Autor nach Deutschland fliehen musste. Schon nach seinem Erzählband "Instant Kafka" wurde ihm in Georgien Blasphemie vorgeworfen und er wurde auf offener Straße krankenhausreif geschlagen. Wenn er nun selbstironisch und mit Horror- und
Zombiefilmmotiven von einem Spießerpaar erzählt, das sich die Langeweile in den
postsowjetischen Nuller Jahren durch Geisterbeschwörung vertreibt, bald Besuch von dem Esoteriker Georges Gurdjieff erhält und mit diesem gemeinsam einen Millionär entführt, kann sich
Welt-Kritiker Richard Kämmerlings das Lachen nicht verkneifen.
Lob auch für
Aka Morchiladzes Roman
"Der Filmvorführer" der anhand des jungen Kriegsrückkehrers Beso von den Wirren des Jahres 1992 erzählt. In der
NZZ findet es Ulrich M. Schmid reizvoll, wie Morchiladze georgische Verhältnisse durch
Vergleiche mit Russland oder Armenien zu relativieren versucht. Von den umwälzenden Ereignisse im Georgien des Jahres 2012, als Milliardär Iwanischwili an die Macht kommt, schreibt
Davit Gabunia in seinem Roman
"Farben der Nacht" den Tilman Spreckelsen in der
FAZ als ebenso spannendes wie "vielschichtiges" Porträt der georgischen Gesellschaft im Umbruch lobt. Von seinen Erinnerungen an die
Haft im Gulag in den Jahren 1984 bis 1987 erzählt
Lewan Berdsenischwili in seinem Roman
"Heiliges Dunkel" mit so viel Humor, dass er das Genre der Gulag-Erinnerungen um die "
philosophische Komödie" erweitert, meint
FAZ-Kritikerin Kerstin Holm: Amüsiert lauscht sie den "sokratischen Dialogen" zwischen Stalinisten, Eurokommunisten, Sozialdemokraten oder ukrainischen Hungerkünstlern über Popper, Marx und Co.
Selbstermächtigung/IdentitätenIm Vergangenen Jahr wurde
Ottessa Moshfeghs Kriminalroman
"Eileen" von den Kritiken gefeiert - und auch der neue Roman der amerikanischen Autorin mit kroatisch-persischen Wurzeln erhält hymnische Besprechungen. Wenn sie in
"Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" von einer jungen, scheinbar perfekten Galeristin erzählt, die im
New York der nuller Jahre zunehmend an der perfekten Oberfläche und dem Zwang zur Selbstoptimierung leidet, bis sie sich schließlich mit Beruhigungstabletten ein Jahr Winterschlaf gönnt, ist
FAS-Kritiker Florentin Schumacher ganz aus dem Häuschen:
Sätze wie Brenneisen, aber vor allem Dialoge und Beschimpfungen vor New Yorker Kulturschickeria-Kulisse, die Schumacher nicht mehr vergisst. Besser als jeder Weltschmerz a la Easton Ellis, meint er, zumal für ihn immer spürbar ist, dass die Autorin genau weiß, worüber sie schreibt: missbrauchte Frauen, die
zu missbrauchen wissen. Einen ganz anderen Kampf hat Yejide, die Heldin der nigerianischen Schriftstellerin
Ayobami Adabayo zu kämpfen, die in ihrem Debütroman
"Bleib bei mir" von einem jungen Paar erzählt, das am unerfüllten Kinderwunsch und den sexistischen Rollenvorstellungen im
Nigeria der Achtziger zerbricht. Berührend und authentisch, versichern die Kritikerinnen in
taz, SZ und
FR.
Einen
Western, in dessen Mittelpunkt zwei
schwule Soldaten stehen, bekommt man nicht alle Tage zu lesen.
Sebastian Barry, irischer Autor und Dichter, der bereits mit seinem letzten Roman "The Secret Scripture" für den Man Booker Prize nominiert war, erzählt in
"Tage ohne Ende" die Geschichte der verwaisten Freunde und Geliebten Thomas und John, die zunächst als
Tanzmädchen in einem Saloon für Bergarbeiter arbeiten, bald im amerikanischen Bürgerkrieg gegen die Indianer kämpfen und schließlich gemeinsam ein junges Indianermädchen adoptieren. Wie Barry die Ambivalenz des Soldatenlebens herausarbeitet, findet
taz-Kritiker Thomas Schäfer erstaunlich. Im
RBB-Kulturradio lobt Katharina Döbler außerdem "schnoddrige" Sprache und die Bildgewalt des Romans. Überwiegend positiv aufgenommen wurde auch die schwule DDR-Liebesgeschichte, die
Christoph Hein in seinem neuen Roman
"Verwirrnis" erzählt. Das Schicksal von Friedewald Ringeling, der für die
Stasi erpressbar wird, da er seine Homosexualität verheimlicht und der auch nach dem Zusammenbruch der DDR den Selbstmord einem Coming Out vorzieht, liest Paul Jandl in der
NZZ als ebenso beklemmenden wie faszinierenden Bildungsroman.
Frei nach Tolstoi: Unglückliche Familien Diesen Bücherherbst dominieren die
unglücklichen Familien, die zerbrochenen Beziehungen und die psychologischen Kammerspiele die Literatur. Sie sind ja auch viel spannender als die harmonischen. Etwa, wenn uns
Emmanuel Carrere in seinem bereits im Jahr 2000 erschienenen, nun von Claudia Hamm neu übersetzten Tatsachenroman
"Der Widersacher" die wahre Geschichte des Hochstaplers Jean-Claude Romand erzählt, der seiner Familie 18 Jahre lang vorspielt, er sei ein international renommierter Medizinforscher in Genf und kurz bevor die Lüge aufzufliegen droht, seine Frau, die gemeinsamen Kinder, seine Eltern und deren Hund tötet. Wie Carrere, der Romand kennt und den Prozess verfolgte, mit den Grenzen der Wirklichkeitsbeschreibungen spielt, den Text zudem nicht als Krimi sondern als
Charakterstudie anlegt, findet
SZ-Kritikerin Hannah Engelmeier reizvoll. In der
taz hat Sophie Jung ein Buch über Lügen und Schwächen gelesen, die jeder kennt. Das Setting des Romans
erinnert Christian Schröder im
Tagesspiegel an die Krimis von
Claude Chabrol.
Eine tief traurige, laut
NZZ-Kritiker Paul Jandl zugleich eine der "
schönsten"
Brüdergeschichten hat
Heinz Helle mit seinem Roman
"Die Überwindung der Schwerkraft" vorgelegt. Wenn Helle in seinem Roman von einem jüngeren Bruder erzählt, der nach dem Tod des Älteren versucht, den Grund für dessen Schwermut zu ergründen - und dabei große Themen wie Vaterschaft,
Treblinka,
Stalingrad und
Neonazis verhandelt, ist das manch einem Rezensenten zwar auf den ersten Blick ein wenig viel. Der Sogkraft und Tiefgründigkeit der bewegenden Geschichte kann sich aber niemand entziehen: In der
taz denkt Dirk Knipphals während der Lektüre an
Peter Weiss' "Abschied von den Eltern". Auf die verschlungenen Pfade seiner jüdischen Familie begibt sich auch der Wiener Psychiater Robert, wenn er in
Michael Köhlmeiers neuem Roman
"Bruder und Schwester Lenobel" gefolgt von seiner Schwester Jetti, nach Israel reist. Traurig und optimistisch zugleich nennt
Zeit-Kritikerin Iris Radisch Köhlmeiers Eintauchen in eine traumatische Familiengeschichte, "intelligente Verflechtungen und Erkenntnisse"
attestiert Verena Auffermann dem Buch im
Dlf-Kultur.
Hingewiesen sei auch noch auf
Maxim Billers "Sechs Koffer" der in die
Familiengeschichte der Billers eintaucht.
Welt-Kritiker Andreas Rosenfelder feiert den Roman als "
jüdische Buddenbrooks".
FAZ-Kritikerin Susanne Klingenstein kann indes nichts mit Billers gehässiger und "stereotyper" Sprache anfangen.
Helene Hegemanns "Bungalow" erzählt von der bei ihrer alkoholkranken Mutter lebenden Charlie, die im gegenüberliegenden Bungalow die
Glamourwelt eines jungen Paares beobachtet und mit beiden eine Affäre beginnt. Die Mischung aus rasantem Psychogramm, Sozialstudie, Dystopie und origineller Bildlichkeit hat den KritikerInnen gut gefallen. Um die Konfrontation mit der traumatischen Vergangenheit geht es auch in
Elena Ferrantes bereits 1992 erschienenem und nun neu übersetzten Debütroman
"Lästige Liebe" : Ferrante erzählt hier von Delia, die versucht, den mysteriösen
Tod der Mutter aufzuklären, der sie als Fünfjährige eine Affäre anhängte. Virtuos, wie Ferrante aus dem Fluss der Erinnerungen ein Geheimnis zutage treten lässt, lobt Roman Bucheli in der
NZZ.
Naher OstenGroße Literatur aus dem Nahen Osten erreicht uns diese Saison. Der Debütroman
"Die Verängstigten" der syrischen Autorin
Dima Wannous zum Beispiel, der uns von Suleima erzählt, die von ihrer Familie verstoßen wird und in
Damaskus stellvertretend für ein ganzes Volk eine Depression erleidet, die der
Angst vor dem Assad-
Regime ebenso geschuldet ist wie der vor dem Bürgerkrieg. Geprägt von der politischen und gesellschaftlichen Situation in Syrien trifft Suleima in einer Psychotherapeutenpraxis auf einen Schriftsteller; zwischen beiden entwickelt sich eine Beziehung, die jedoch bald wieder zerbricht. SZ-Kritiker Moritz Baumstieger verdankt dem Buch einen verstörenden Einblick in die Gemütslagen der geplagten Syrer und im
Dlf-Kultur bewundert Thomas Wörtche, wie die Autorin in ihrem
"Großszenario der Angst" die "Psychosomatik des Terrors" mit "hochverdichteter, unbequemer, radikal-verstörender" Prosa umkreist. Ein "extrem wichtiges und großartiges" Buch, meint er. Auch der in Syrien geborene Autor
Nather Henafe Alali erzählt in
"Raum ohne Fenster" von zwei jungen Syrern, die in Damaskus zuerst den Krieg kennenlernen und sich dann auf eine nicht minder grausame Flucht begeben. In der
SZ lobt Moritz Baumstieger die ebenso beklemmenden wie drastischen Schilderungen von Krieg und Flucht, er hätte sich allerdings eine etwas differenziertere Darstellung des Konflikts gewünscht.
Von Flucht, Erinnerung und neuen Gewissheiten erzählt uns auch die im Iran geborene Autorin
Dina Nayeri in ihrem Buch
"Drei sind ein Dorf" - und doch scheint der Roman wesentlich hoffnungsvoller zu sein. In der
taz preist Seyda Kurt den Geruch und Geschmack des Buches.
Opium,
Aprikosen und
Gewürze kann sie förmlich mit den Sinnen wahrnehmen, wenn die Erzählerin von ihnen berichtet, wie sie ihre Heimat im
Iran prägen, und ihr Elternhaus, das sie Richtung USA verlassen musste. Präzise seziert Nayeri die
Risse in den Biografien ihrer Helden, lobt Kurt. Als "rasantes, gewitztes" Buch
empfiehlt Paul Stoop im
Dlf den Roman. Auch Usama al Shamanis Roman
"In der Fremde sprechen die Bäume arabisch" über die Erfahrungen eines jungen Irakers, der in die Schweiz flüchtete, dort ohne Geld und Arbeit mit den Kulturunterschieden zu kämpfen hat und
Trost in der Natur sucht, wurde hymnisch besprochen.
FAZ-Kritikerin Marie Dettmar hat selten in einer derart schönen und poetischen Sprache vom Gefühl der Ungewissheit gelesen.
Noch näherer OstenDass man durchaus mit viel
Humor von der Gegenwart erzählen kann, beweist
Laszlo Krasznarhokai mit seinem neuen Roman
"Baron Wenckheims Rückkehr" in dem er den Nachfahren eines österreichisch-ungarischen Adelsgeschlechts zurück aus Argentinien in seine
ungarische Heimatstadt schickt. Wie ein Messias empfangen von einem Schwarm von Bittstellern soll er als Sponsor für den Aufschwung sorgen, dabei ist er ein bettelarmer Spielsüchtiger. Beginnend als
zynische Komödie wird der Roman über tausend kleine Erzählstränge von einer tragischen Liebesgeschichte, in der zwischenzeitlich sogar satanische Mächte am Werk sind, schließlich zur "faszinierenden zeitgeschichtlichen Parabel", wie Ulrich Greiner in der
Zeit versichert. Auch
SZ-Kritikerin Marie Schmidt lobt den Roman als "
brandaktuell" und "rasend komisch": Die politischen Anspielungen auf das heutige Ungarn sind unverkennbar, meint sie, aber der Roman zeigt ihr in seiner Menschlichkeit auch, war Krasznahorkai in China und Japan ebenso gelesen wird, wie in Europa und den USA. Für die
FAZ hat Thomas David Krasznahorkai
porträtiert.
Punk, Witz und eine "No-Bullshit-Attitüde" verspricht laut
taz-Kritiker Ulrich Gutmair auch
Tijan Silas Roman
"Die Fahne der Wünsche" Wie die literarische Version von
Klaus Theweleits Studie "Männerphantasien" über den faschistischen Mann erscheint ihm der Roman, in dem der in Sarajevo geborene Autor von dem fiktiven Crocutanien erzählt: Wir folgen hier der Coming-of-Age-Geschichte des jungen Ambrosio, der in die Kämpfe zwischen Jugendbanden gerät, weil er das "gesinnungsfeindliche" Flippern für sich entdeckt und sich später als Radrennprofi aus dem totalitären Regime befreit. Wie Sila den Zusammenhang von "
Männlichkeitswahn,
Homophobie,
Frauenhass und systemischer Gewalt" beschreibt und dabei die Dynamiken und Codes von Jugendkulturen offenlegt, findet Gutmair bewundernswert. Vom
Zerfall Jugoslawiens, dem Zerbrechen einer Familie und der Suche nach Identität erzählt uns der slowenische Autor und Regisseur
Goran Vojnovic in seinem Roman
"Unter dem Feigenbaum" den wir bereits im August
vorgeblättert haben. Als höchst unterhaltsame
Alternative zur Identitätsliteratur preist
FAZ-Kritiker Jochen Schimmang außerdem
Cora Bosics neuen Roman
"Im Zustand stiller Auflösung" der ihm düster und komisch zugleich von einer etwas anderen Suche nach der verlorenen Zeit erzählt.
Gleich zwei deutsche Romane widmen sich diese Saison dem
Rechtsextremismus in Ostdeutschland.
Lukas Rietzschels Debütroman
"Mit der Faust in die Welt schlagen" über das Aufwachsen in der Lausitz in den Nuller Jahren zwischen Neonazis, Trostlosigkeit und Aussichtslosigkeit haben wir schon in unserem letzten
Bücherbrief empfohlen. Die KritikerInnen heben besonders hervor, dass Rietzschel seine Helden leise porträtiert, statt lautstark Erklärungen zu suchen. Von Rechten, Gewalt und Schnaps erzählt uns auch
Kathrin Gerlof in
"Nenn mich November" Wir begleiten ein in Berlin gescheitertes Paar, das in einem ostdeutschen Dorf ohne Internet und Perspektiven, aber mit alten Vorurteilen und neuen Ängsten vor Migranten und genmanipuliertem Mais den Neunanfang wagen will. Wenig Optimismus, dafür aber ein feines Gespür für
menschliche Unsicherheiten und sprachliche Assoziationen attestiert
FR-Kritikerin Cornelia Geißler der Autorin.
Durch die Jahrhunderte
In der Gegenwart scheint wenig los zu sein, jedenfalls gibt es eine Fülle neuer historischer Romane. Vielleicht ist die Flucht in die Vergangenheit aber auch eine besondere Form des Eskapismus - was ja literarisch nichts Schlechtes bedeuten muss. Den schönsten historischen Roman dieser Saison legt
Karen Duve mit
"Fräulein Nettes letzter Sommer" vor: Einen kurzen Sommer lang entführt sie uns in die Welt der jungen
Annette von Droste-
Hülshoff, dabei mit viel Witz, scharfem Blick und Sympathie vom Leben der jungen Dichterin im frauenfeindlichen Biedermeier erzählend, wie Frauke Meier-Gosau in der
SZ versichert. Auch
taz-Kritikerin Katharina Granzin ist begeistert: Dieser Roman hat ihr die Dichterin und ihre Zeit mit "amüsierter Ironie", Detailfreude und in der Sprache der Gegenwart nahegebracht, ohne zu tümeln. Spannende Einblicke in Intrigen und Studentenleben in Göttingen verdankt
FAZ-Kritikerin Andrea Diener diesem genau recherchierten
Gesellschaftsporträt - nur Droste-Hülshoffs Schreiben bleibt etwas blass, meint sie. Weitere Empfehlungen gibt es im
Dlf-Kultur, im
Spiegel und im
Literarischen Quartett des
ZDF.
Auch der
Zweite Weltkrieg wurde diese Saison wieder reichlich literarisch beackert. Von den Kritikern als Anknüpfung an den "Englischen Patienten" gelesen, erzählt
Michael Ondaatje in
"Kriegslicht" in einer Mischung aus Adoleszenzgeschichte und
Spionagethriller von den Geschwistern Nathaniel und Rachel, die sich als Kinder einer Geheimdienstagentin im
Großbritannien der Nachkriegszeit durchschlagen. Höchste Zeit für den Literaturnobelpreis, meint
FAZ-Kritiker Tobias Döring. In der
FR bewundert Arno Widmann die liebevolle Komposition und Ondaatjes Gespür für Menschen in Extremsituation. Zwiegespalten bleiben
Zeit-Kritiker Thomas Schmidt und
SZ-Kritiker Lothar Müller zurück: Trotz aller Qualitäten endet der Roman in der
Kolportage, meinen sie.
Steffen Mensching widmet sich in seinem megalomanen Romanprojekt
"Schermanns Augen" für das er zwölf Jahre lang recherchierte, dem jüdischen Grafologen
Rafael Schermann, der von den Sowjets in ein Arbeitslager deportiert wurde und offiziell seit 1943 als verschwunden galt, bei Mensching allerdings in dem fiktiven
Arbeitslager Artek II noch einmal auftaucht. Ein "
erzählerisches Bergwerk", jubelt
SZ-Kritiker Hans-Peter Kunisch.
Von den Erfahrungen der
Finnen im Zweiten Weltkrieg erzählt uns derweil die in Lappland geborene Autorin
Minna Rytisalo in ihrem Debütoman
"Lempi" der von den finnischen Frauen handelt, die sich mit deutschen Männern einließen und nach dem Sieg der Russen als Huren des Feindes verunglimpft wurden. Für den
SZ-Kritiker Jörg Magenau eine lehrreiche und anschaulich-spannende Geschichtsstunde. In eine ganz andere Weltgegend führt uns
Inger-
Maria Mahlke mit ihrem mit dem
Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman
"Archipel" den wir bereits in unserem September-Bücherbrief empfohlen haben. Mahlke erzählt über die Zeitspanne von 1919 bis 2015 anhand von fünf Generationen verschiedener Familien die
Geschichte Teneriffas und beleuchtet dabei
Franco-
Diktatur, Spanischen Bürgerkrieg, Kolonialkriege und Gegenwart. Die KritikerInnen lobten Sprachgewalt und Detailreichtum des Buchs. Nur mit der umgekehrten Chronologie, in der Mahlke erzählt, haben sie gelegentlich Probleme. Hier geht es zur
Begründung der Buchpreis-Jury. Ebenfalls in unseren
Bücherbriefen der vergangenen Monaten haben wir bereits die historischen Romane von
Maria Cecilia Barbetta,
Stephan Thome und
Ursula Krechel empfohlen. Besonders Barbettas in drei Teilen erzählter Roman
"Nachtleuchten" über
Argentinien am Vorabend der Militärdiktatur galt den KritikerInnen als flirrend, humorvoll, referenzreich und erhellend.