Bücher der Saison

Romane und Erzählungen

23.11.2016. Der Heimat verbunden, zur Flucht bereit. Unter den Autoren der Saison: Emma Braslavsky, Fiston Mwanza Mujila, Hilary Mantel, Christian Kracht, Gerbrand Bakker, Alissa Ganijewa.
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Weltverbesserer

Genetik, Big Data und Kryostase - das ist der Stoff, aus dem die Zukunftsromane geschrieben sind. Inspiriert von Kurt Vonnegut, biblischen Texten und Legenden erzählt die 1971 in Erfurt geborene Emma Braslavsky in "Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen" vom Kampf zweier Organisationen über den Weg hin zu einem genetisch verbesserten Menschentypus. taz-Rezensentin Nina Apin ist hin und weg von dem "hyperaktivem Eklektizismus", mit dem Braslavsky die Geschicke zweier Ehepaare, Humangenetik, Aussteigerromantik und Pseudo-Idealismus zusammenrührt. Die will was, meint Peter Henning anerkennend auf SpOn über die Autorin, das "ganz große intellektuelle Ding". Für ihn eine der interessantesten Neuerscheinungen in diesem Herbst. Warme Empfehlung auch von FAZ-Kritikerin Nicole Henneberg, der die bedrohliche Authentizität dieses Romans nicht entgeht. Und siehe da: Im Logbuch Suhrkamp berichtet Emma Braslavsky von ihren Recherchen bei den Genomforschern am Berliner Max-Planck-Institut.

In kaum einem Land werden die biometrischen und genetischen Daten der Bürger so umfassend gespeichert wie in Argentinien, erzählt Katharina Döbler anlässlich ihrer Besprechung von "Kryptozän" im Dradio Kultur. Wohin das führt, erzählt die argentinische Autorin Pola Oloixarac in ihrem "eigenwilligen und kühnen" Roman (FAZ), der auf drei Zeitebenen die Geschichten dreier Wissenschaftler kurzschließt, die alle "bei der Kartografierung der Wirklichkeit mit außergewöhnlichen Phänomenen konfrontiert werden und an die Grenzen ihrer jeweiligen Ordnungssysteme stoßen", so Florian Schmid im Freitag. Klingt trocken, ist aber voller Witz, versichert Sarah Murrenhoff im Tagesspiegel. Allein wie Oloixarac die Halluzinationen eines Forschungsreisenden im 19. Jahrhundert beschreibt, findet Döbler in der "überzeugenden Mischung aus Reisebericht, Andeutung und Pornografie überaus gekonnt - nicht nur in der sprachlichen Mimikry, sondern auch in der Kunst der Phrasierung und der Drastik an der richtigen Stelle".

Ewiges Leben anyone? In Don DeLillos Roman "Null K" verspricht eine Sekte in Kasachstan, Sterbende so einzufrieren, dass sie in einer besseren Epoche, mit besserer Medizin, aufgeweckt und weiterleben können. Ein amerikanischer Milliardär möchte diesen Dienst für seine todkranke Frau in Anspruch nehmen. Die Kritiker gehen in die Knie, weniger wegen des Themas als wegen DeLillos brillanter Erzählkunst. Er schafft es sogar, mit dem "ersten inneren Monolog einer Tiefgefrorenen in der Literaturgeschichte" das Herz des einzigen skeptischen Kritikers - Jörg Häntzschel in der SZ - zu erwärmen. Empfohlen wird auch Evgenij Vodolazkins Roman "Laurus" der uns ins Mittelalter führt, wo ein russischer Heiler hoffnungslose Krankheiten kuriert. Der hingerissenen FAZ-Kritikerin Kerstin Holm erscheint Vodolazkin wie ein Blogger, der mit Disziplinen und Bewusstseinsschichten spielt und dabei die Sprache alter Chroniken mit postsowjetischen Slang verknüpft. Ganz bescheiden geht dagegen Rentner Karl vor in Anna Weidenholzers vielgepriesenem Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" : Er möchte einfach das Glück erforschen.


Weltenbummler

Mit der vergleichsweise gemächlichen, dennoch unerhörten Erzählung "Eine Episode im Leben des Reisemalers" können deutsche Leser Cesare Aira als den "elektrischen Reiter" der lateinamerikanischen Literatur kennenlernen, ermuntert SZ-Kritiker Ralph Hammerthaler. Aira erzählt hier von der Südamerikareise des Augsburger Malers Moritz Rugendas, die 1837 tatsächlich stattfand, sich hier aber ganz fantastisch liest. Immer überraschend und eisklar in der Sprache, dabei mit den Techniken des Surrealismus und magischen Realismus arbeitend - so beschreibt Jan Wilm im Tagesspiegel den Stil des argentinischen Autors. Im einem schönen Interview mit der Welt spricht Aira über die einzige Rechtfertigung für Literatur, das Problem mit der Autofiktion und den Einfluss der Malerei auf sein Schreiben.

Hans Christoph Buchs autobiografischer Roman "Elf Arten, das Eis zu brechen" beginnt auf einem Eisbrecher, mitten in der Antarktis. Von dort führt er uns auf eine Weltreise, zu besoffenen Sowjetbonzen, tschetschenischen Kriegern, einem Stasi-Ornithologen, einer Staatsdichter-Witwe und weiteren kuriosen Gestalten. Ein "eleganter Parcourslauf", staunt Marko Martin in der Welt, während Cornelius Wüllenkemper in der SZ die lässige Weltläufigkeit des Autors bewundert. Nochmals empfohlen sei auch Mathias Enards "Kompass" eine Wundertüte von einem Roman, in der zwar keine Story knistert, dafür aber Bücher und Ereignisse, die im Kopf des Musikwissenschaftlers Franz Ritter aufsteigen und die den Leser mitnehmen zu den weit verzweigenden Erinnerungen an Ritters Orientreisen und Forschungsexpeditionen. Es gibt sie doch, die junge kosmopolitische französische Literatur, seufzt die FAZ.


Aufsteiger und Absteiger

Schwer zu sagen, wer hier Aufsteiger und wer Absteiger ist - zumal das eine oft das andere voraussetzt. Silke Scheuermanns Ich-Erzähler Marten kommt aus bürgerlich-unglücklichen Verhältnissen, sinkt ab in Kriminalität,  Drogensucht und Knast und wird schließlich Koch, Fernsehkoch sogar. Angelehnt ist "Wovon wir lebten" an Dickens' "Great Expectations", wie Scheuermann im Interview mit literaturkritik.de verrät. Helmut Böttiger lobt in der SZ besonders die Milieustudien aus dem Frankfurter Ostend. In der FR bewundert Judith von Sternburg den "ruhigen, glaubwürdigen" Ton, den Scheuermann für diesen jungen Mann gefunden hat, der seinen unterwarteten Aufstieg wie aus der Distanz zu betrachten scheint. Scheuermann versteht sich eben "auf die Kunst des zweiten Blicks", lobt Otto A. Böhmer in Faust Kultur.

Die Hauptfiguren in "Tram 83" dem Debütroman des kongolesischen Autors Fiston Mwanza Mujila, der politisch verfolgte Schriftsteller Lucien und sein ehemaliger bester Freund, der Gauner Requiem, verbringen ihre Nächte im Tram 83, dem einzigen Nachtclub einer anonymen Stadt in Afrika. Hier treffen sich Minenarbeiter, Ex-Kindersoldaten, Prostituierte, Studenten und Glückspieler aller Art. Tagsüber versucht Lucien Fuß zu fassen, wird dabei immer wieder von Requiem hintergangen, der mit geradezu sadistischem Vergnügen Luciens berufliches und amouröses Scheitern beobachtet. Auffällig ist Mujila repetetive Erzähltechnik. Wie ein Jazzstück soll sein Roman klingen, erklärt Mujila im Interview mit Dradio Kultur. Und tatsächlich rühmt Helmut Schödel in der SZ den vitalen Rhythmus und die Komposition des Buchs. Auch Angela Schader lobt in der NZZ die lyrische federnde Sprache und die saftigen Milieuschilderungen. Im Interview mit der White Review erzählt Mujila von seinen Erfahrungen bei der Lesereise zu seinem Roman.

Exzellent besprochen außerdem Teresa Präauers "Oh Schimmi" über ein geistig behindertes, größenwahnsinniges, brutales Muttersöhnchen, das ständig neue Wörter mit "i" erfindet - "Siffilisation" - und nichts unversucht lässt, um die Nagelstudio-Kundin Ninni für sich zu gewinnen - eine "Hommage auf alles Äffische", meint vergnügt die SZ. Dann natürlich Hilary Mantels jetzt auf Deutsch veröffentlichter, im England der Siebziger spielender Debütroman "Jeder Tag ist Muttertag" Im Zentrum stehen ein zerstörerisches Mutter-Tochter-Duo, die von einer neuen Sozialarbeiterin auf den rechten Weg gebracht werden sollen. Bitterböser Humor, so rasiermesserscharf, dass die Rezensenten einfach lachen mussten. Auch Philipp Winklers Debütroman "Hool" führt in die Unterwelt, zu den Hooligans in Hannover. Deren Sprache mit ihrer testosteronsatten "Hau-drauf-Rhetorik" (Zeit) hat nicht allen Kritikern gefallen. Aber FAZ-Kritiker Andreas Platthaus versichert: So viel "Welt" findet man selten. Zuletzt sei noch einmal hingewiesen auf Elena Ferrantes hochgelobten Roman "Meine geniale Freundin" über zwei Mädchen, die in den fünfziger Jahren Neapels Armut zu entkommen versuchen.


Heimat

Fasziniert, aber manchmal auch etwas verloren liest taz-Rezensentin Nina Apin Alissa Ganijewas Roman "Eine Liebe im Kaukasus" Was weiß sie schon über Dagestan? Über Stammesbräuche und Waldbrüder? Gott sei Dank gibt es ein Glossar, und auch das Nachwort von Übersetzerin Christiane Körner findet Apin erkenntnisfördernd. Im Vordergrund steht die Geschichte zweier junger Menschen, die sich den Traditionen nicht entziehen können: In Moskau studieren ist ja ganz schön, aber dann heißt es Heimkommen, Heiraten und Kinderkriegen. Und doch werden in dieser postsowjetischen Gesellschaft die Bräuche nur noch halb erinnert, so Apin. Zu viel ist zu lange unterdrückt oder von religiösen Fanatikern verzerrt worden. Das zeigt sich auch in der ambivalente Rolle der Frauen, meint FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen, die sich über private Sexfilme wie auch über die Rekonstruktion des Hymen unterhalten. Im Büchermagazin des Bayerischen Rundfunks lobt Christine Hamel den "kraftvollen und farbigen" Ton dieses Romans.

Zu Recht hat es Reinhard Kaiser-Mühlecker mit "Fremde Seele, dunkler Wald" auf die Shortlist geschafft, finden die Kritiker. Der Autor führt uns auf einen Bauernhof in der oberösterreichischen Provinz, in eine dysfunktionale Familie, in der zwei Brüder unter der familiären Sprachlosigkeit leiden und auf unterschiedliche Weise versuchen, der dörflichen Enge zu entkommen. Wie Kaiser-Mühlecker sich mit langen, dem 19. Jahrhundert entsprungenen Sätzen in das Innenleben seiner Figuren gräbt, findet SZ-Kritiker Helmut Böttiger virtuos. Die großartigen Landschaftsbeschreibungen leuchten den "seelischen Aggregatzustand der Protagonisten" aus, schwärmt Ulrike Baureithel im Tagesspiegel. Idyllischer geht es in Alex Capus' neuem Roman "Das Leben ist gut" zu, in dem der glückliche Held Max eine Bar in der Schweiz betreibt, Frau und Freunde liebt und von Alltag und Nachtleben erzählt. Das ist keineswegs langweilig, sondern lebhaft, lebensnahe und liebevoll, findet FR-Kritiker Ulrich Seidler. Empfohlen sei schließlich noch Aravind Adigas dritter Roman "Golden Boy" der von zwei Brüdern erzählt, die über das Cricket-Spiel den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen wollen. taz-Kritikerin Shirin Sojitrawalla lernt hier einiges über Religion, Klassen, Kricket, Homosexualität, den Indian Dream und die menschenverachtenden Seiten der indischen Gesellschaft.


Flucht

Viel zu wenig besprochen wurde Hakan Gündays Roman "Flucht" und taz-Kritikerin Katharina Granzin weiß warum: Das Schicksal des neunjährigen Ich-Erzählers, von dem der türkische Autor hier erzählt, ist kaum auszuhalten. Gaza lebt mit seinem Vater, einem sadistischen Schlepper, an der türkischen Küste, hilft ihm beim Transport der "Ware", vergisst einmal die Lüftung des LKWs anzustellen - wodurch ein junger Afghane erstickt. Gaza selbst wird missbraucht und überlebt nur knapp einen Unfall, bei dem er tagelang unter einem Berg von Leichen begraben wird. Puh. Und trotzdem spricht Granzin eine klare Leseempfehlung aus: Weil Günday uns zwingt hinzusehen, zugleich virtuos, komisch und "erhellend" schreibt. Auch Tommy Wieringa widmet sich in seinem Roman "Dies sind die Namen" dem Thema Flucht: Der niederländische Autor erzählt vom Schicksal von fünf illegalen Migranten, die von Schleppern im postsowjetischen Grenzland ausgesetzt werden, zugleich aber auch von einem Polizisten, dem der Lebenssin abhanden gekommen ist. FR-Kritikerin Cornelia Geissler staunt, wie viel Emotionalität der Autor mit seinem kühlen Ton erzeugt. Dieser Roman ist "sanft und weise, hart und hässlich", lobt Marten Hahn auf Dradio Kultur.

 
Identitätskrisen

Von der Flucht ihrer Familie während der Islamischen Revolution 1979 aus dem Iran in die deutsche Provinz, dem Aufwachsen mit "Migrationshintergrund" bis hin zur "Grünen Revolution" erzählt uns die iranischstämmige Autorin Shida Bazyar in ihrem mit Recherchen und Zeitzeugenberichten unterfütterten Debütroman "Nachts ist es leise in Teheran" FAZ-Kritiker Andreas Platthaus erhebt den Roman zum Buch der Stunde. Für taz-Kritiker Stefan Hochgesand gehört Bazyar mit ihrem ebenso "rebellischen" wie "poetisch-subtilen" Ton schon jetzt zu den jungen großen Literatinnen. Der Roman einer ganzen Generation, lobt Stephan Lohr im Spiegel.

Den Entschluss des israelischen Bildungsministeriums, Dorit Rabinyans Roman "Wir sehen uns am Meer" zu verbieten, weil er die "getrennten Identitäten von Juden und Nicht-Juden" gefährde, finden die Kritiker absurd. Rabinyan erzählt die unmögliche Liebesgeschichte zwischen dem arabischen Künstler Yilmi und der israelischen Studentin Liat, die sich in New York vor dem Hintergrund des 11. Septembers treffen, über Politik streiten und sich schließlich trennen, weil Liats Patrotismus stärker ist als ihre Gefühle für Yilmi, resümiert Peter Münch in der SZ. Da scheinen die "Identitäten" doch intakt zu sein. Von deutsch-deutscher Identitätssuche handelt Gerhard Falkners Roman Roman "Apollokalypse" : Falkner lässt seinen zwielichtigen Helden Georg Autenrieth durch das Berlin der Achtziger und Neunziger treiben, Terrorismus und Hedonismus in vollen Zügen erleben und stattet ihn mit Kontakten zu RAF, Stasi, BND und vielen Frauen aus. So hat noch keiner die "lost years" der Wendezeit seziert, lobt FAZ-Kritiker Oliver Jungen, hier wird ein neues Kapitel Berlin-Literatur aufgeschlagen, schwärmt Jens Bisky in der SZ. Nur Zeit-Kritikerin Jutta Person ätzt über "dauerekstatische Kackschwanzknarren-Begeisterung".


Höhenflüge

Richard Russos pulitzerpreisgekrönter Roman "Diese gottverdammten Träume" wurde bei seinem Erscheinen 2002 in Europa von Franzens "Korrekturen" ausgestochen. Unverdientermaßen, finden die Kritiker jetzt. Aktuell sei er aber immer noch: Der über 700 Seiten lange Schmöcker erzählt die Geschichte einer Kleinstadt im unaufhaltsamen Niedergang. Die Fabriken sind geschlossen, Geldnöte, Alkoholprobleme, Liebeskummer und vor allem die Angst, langsam zu versauern, davon erzählt Russo lebensklug und ergreifend, versichert Oliver Jungen in der FAZ. Es ist ein "Initiationsroman in Slow Motion", lobt Anne Haeming auf Spon. Keinen Moment langweilig, sondern realistische Erzählkunst alter Schule, sekundiert die FAZ.

Die Protagonistin in Gisela von Wysockis "Wiesengrund" sagt in den Sechzigern Servus zu Astrophysik und Salzburg und zieht nach Frankfurt, wo sie bei Adorno studiert. Ihr eröffnet sich - wie einst der Autorin - ein aufregendes neues Leben, das um die magische Figur des Philosophen kreist, dessen "Geisteserotik" sie ebenso verzaubert wie seine "melodiös sinnliche Geisteskopfstimme" (Tagesspiegel). Eine wunderbare Mischung aus Fiktion und Zeitgenossenschaft, lobt Stefan Müller-Doohm in der NZZ, farbig und kraftvoll erzählt. FR-Rezensent Otto A. Böhmer gefiel besonders, dass Wysocki kein Herrschaftswissen vermittelt, sondern das Irritierende Adornos einfach stehen lässt. Bildungssozialisation als Rausch, nicht langweilig oder korinthenkackerhaft, freut sich Tilman Krause in der Welt, den auch Gisela von Wysockis Spitzen gegen "Wiesengrunds rigoroses Callas-Monopol" prächtig amüsiert haben.

Viel Lob auch für Willem Frederik Hermans' vor knapp dreißig Jahren erstmals erschienene Satire "Unter Professoren" So unkorrekt wie man in den Siebzigern nur sein konnte, zielt er auf das akademische Milieu jener Zeit, auf seine Spießigkeit, seine Intrigen- und Klatschsucht, verspricht SZ-Kritikerin Kristina Maidt-Zinke, die sich trotz einiger Längen gut amüsiert hat. Lesenswert auch der Nachruf, den Cees Nooteboom 1995 in der Zeit auf den Autor schrieb, der ihm einst im Gespräch erklärt hatte, warum Schreiben ein Gebrechen sei: "Es ist die Wucherung einer bestimmten geistigen Funktion, wie alles im Leben." Hingewiesen sei außerdem noch auf Sibylle Lewitscharoffs vielbesprochenen Roman "Das Pfingstwunder" der um einen Dante-Kongress kreist, und Olga Martynovas "Engelherd" den wir schon im letzten Bücherbrief vorgestellt haben.


Nabelschauen

Bei Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis" um ein spätes Liebesglück zwischen einem Verleger und einer Hutmacherin waren die Rezensenten geteilter Meinung. Der mit dem Buchpreis prämierten Roman verbindet Introspektion und eine fast schon ressentimenthafte Kritik an der "Banalisierung der Kultur", so Rainer Moritz in der NZZ, mit dem Drama eines Flüchtlingsmädchens, dass die beiden flugs adoptieren wollen. NZZ und Zeit stören sich an dem selbstreflexiven Stil, die FAZ bescheinigt dem Roman dagegen klassische Größe. Auch FR, SZ und Welt finden den Einbruch der Wirklichkeit ins Idyll überzeugend dargestellt. Lob gab's auch in Welt, FR und FAZ für André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" übers Jungsein in der DDR im Sommer 1985: erste Liebe, Baudelaire lesen und New Order hören.


Exorzismen

Den Bürger als Biest beschreiben am besten die niederländischen Autoren A. F. Th. van der Heijden und Jeroen Brouwer. Beider Romane handeln von sexuellem Missbrauch und seinen Folgen, beide spießen das engherzige katholische Milieu der niederländischen Nachkriegsgesellschaft auf, beide pflegen einen flamboyanten spätbarocken Stil und beide sind glänzend übersetzt, lobt Volker Breidecker in der SZ. Meisterhaft findet Richard Kämmerlings in der Welt, wie van der Heijden in "Das Biest" anhand einer faszinierend bösartigen Frauenfigur die Frage nach Ursprung und Wirkung des Bösen stellt. Und Jeroen Brouwers autobiografischer Roman  "Das Holz" erzählt vor dem Hintergrund der niederländischen Kollaboration mit den Nazis derart drastisch und sprachgewaltig von den Misshandlungen in einem katholischen Internat in den Fünfziger, dass die Rezensenten in SZ und NZZ Mühe hatten durchzuhalten. Mehr Bücher aus dem Buchmessen-Gastland Niederlande finden Sie hier, drei schöne Artikel über die niederländisch-flämische Sprachkultur in einem Schwerpunkt der NZZ.

Christian Kracht kann da gut mithalten. Seinen (inzwischen mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten) Roman "Die Toten" mit dem literaturgeschichtlich und popkulturell aufgeladenen Plot um Nazis und Film, Japan und Seppuku in den dreißiger Jahren beschimpfte die FR-Kritikerin Sabine Vogel zwar als ärgerlichen Stuss. In der überregionalen Presse stand sie damit fast allein. Die meisten Kritiker warnten eindringlich davor, den Autor mit seinem Erzähler zu verwechseln, so Moritz Baßler in der taz. Kracht sympathisiere nicht, er analysiere die Selbstinszenierung des Totalitarismus, betont in der NZZ Philipp Theison, bewegt von diesem Wagemut. Das Buch ist grundiert von Hinduismus und Buddhismus, nichts ist wirklich, außer dem Leid, meint ein beeindruckter Carl von Siemens in der Welt. Und wer sich am überzuckertem Dandystil stört - das ist der Erzähler, nicht Kracht, versichert Jan Wiele in der FAZ. Da winkt Martin Ebel im TagesAnzeiger dann doch energisch ab: Nix zu sehen hier außer preziöser Adjektive und verunglückter Metaphern. Oder ist das "ein höhnischer Sauglattismus"?

Sehr gut besprochen wurden außerdem "Vaters Land" ein laut NZZ mit Witz und Hellsicht geschriebener Roman des slowenischen Autors Goran Vojnovic über einen jungen Mann, der erkennen muss, dass sein Vater ein Kriegsverbrecher ist. In "Das Unglück anderer Leute" der 1988 in Ostberlin geborenen Nele Pollatschek rechnet eine Tochter zum größten Vergnügen der Zeit nach dem Tod der Mutter rasant und mit frischen Metaphern mit deren Gefühlskälte, Egomanie und Gehässigkeit ab. Und empfohlen sei auch noch Lauren Groffs lebenskluger Ehethriller "Licht und Zorn" in dem sich die Ehefrau als "heißkalte Problemlöserin und Pläneschmiederin von nahezu kriminellem Ausmaß" (taz) entpuppt: "desillusionierend" (SZ) und "erfrischend" (FAZ).


Der Jahreszeit angemessene Gefühlslagen

Ob Roman, Erzählung, Sachbuch oder Memoir - in diesem Bücherherbst gibt es einen deutlichen Trend zur Depression. Ferenc Barnas' Roman "Ein anderer Tod" führt uns in die dunkelsten "Verliese einer beinahe zerstörten Seele", wie FAZ-Kritiker Jörg Plath nach einer atemlosen Lektüre schreibt: In düsterer Atmosphäre, schwankend zwischen Innen und Außen erzählt Barnas die Geschichte eines ehemaligen Literatur-Dozenten kurz nach der Wende, der derart an der Kränkung des Verlassenwerdens leidet, dass er seine Wohnungsfenster zum Selbstschutz vergittern lässt und bei seinen Streifzügen durch Budapest nur noch Obdachlose, Trinker und Verworfene wahrnimmt. Auch SZ-Kritikerin Insa Wilke ist tief beeindruckt von der "wortreichen Stille" und dem manischen "Kreiseln der Sätze".

Auch Thomas Melle muss hier genannt werden, der in seinem Memoir "Welt im Rücken" von allen bestürzenden Phasen seiner manischen Depression erzählt. Für Zeit-Kritiker Ioma Mangold ist das "große Literatur". Hier leuchtet die "Poetik des Authentischen", findet FAZ-Kritikerin Sandra Kegel, das ist nicht bloß "Ich-Literatur", versichert Cord Riechelmann in der taz. Roman Bucheli sieht das in der NZZ anders: Der Autor, meint er, schreibt eigentlich nur für sich selbst. Wer sich mehr für die Zustände in psychiatrischen Anstalten im 19. Jahrhundert interessiert, dem sei Amalia Skrams teils autobiografischer Schlüsselroman "Professor Hieronimus" empfohlen, der die Geschichte der Malerin Else Kant erzählt, die von einem sadistischen Professor mit Gewalt und Medikamenten ruhig gestellt wird. Drastik und Lakonie sind hier brillant verbunden, lobt Zeit-Kritiker Peter Urban Halle.

Mit dem Niederländer Gerbrand Bakker gewährt uns noch ein Romanautor Einblicke in die depressive Seite seiner Seele, wenn auch leiser als Melle: Ein Jahr lang hat sich Bakker mit seinem Hund Jasper in ein Haus in der Eifel zurückgezogen und Gedanken zu seiner Homosexualität, zu Alltag und Literaturbetrieb festgehalten. FR-Kritiker Ulrich Seidler erscheint "Jasper und sein Knecht" zwar wie ein Nebenprodukt der großen Landschafts- und Seelenromane des Autors, doch entfalte sein kühler Ton große "seelische Wirkung". Sehr gut besprochen wurde auch Terezia Moras Erzählband "Liebe unter Aliens" : Kaum jemand schreibt so virtuos über das Unglück wie Mora, findet etwa FAZ-Kritikerin Sandra Kegel. Und hingewiesen sei auch noch einmal auf Han Kangs Roman "Die Vegetarierin" den wir bereits in unserem Bücherbrief vom September empfohlen haben. Wie die südkoreanische Autorin von einer jungen Frau erzählt, deren radikale Entscheidung zum Vegetarismus zum Scheitern ihrer Ehe, Zwangsernährung, Psychiatrie und Selbstmordversuch führt, hat die Kritiker schlicht umgehauen.

Ein Embryo, der die Geschichte seiner Mutter erzählt, von ihrer Schwangerschaft, ihrer Affäre, ihrem Mord? Der auch noch über den Zustand der Welt räsoniert? Total unglaubwürdig. Das weiß selbstverständlich auch Autor Ian McEwan, der es in seinem Roman "Nussschale" trotzdem wagt. Und es funktioniert, versichert Stephan Wackwitz in der taz. Was McEwan hier vorlegt, sei eine Art vorgeburtliches Treffen mit Hamlet, meint eine amüsierte Kristina Maidt-Zinke in der SZ, das der Autor mit Krimi-, Family-Soap- und Satireelementen ausschmückt. "Aberwitzig", aufregend, originell, lobt Sylvia Staude in der FR. Erzählkunst toppt Vernunftssinn allemal!

Außerdem sehr gut besprochen wurden Liao Yiwus erster Roman "Die Wiedergeburt der Ameisen" das die eigene Dissidenz verarbeitend, Wiedergeburt und die ameisenhaftige Beharrlichkeit der Chinesen behandelt und ein lesenswerter Bericht vom Überleben im Totalitarismus ist, so FAZ und Welt, Margriet de Moors neu übersetzte frühe Novelle "Schlaflose Nacht" über eine Frau, die sich zu nächtlicher Stunde den Erinnerungen an ihren verlorenen Ehemann hingibt, und J.L. Carrs Roman "Ein Monat auf dem Land" über einen britischen Restaurator, der 1920 das Fresko in einer Dorfkirche rekonstriert und dabei stückweise hinter die verdeckten Schichten seiner eigenen Weltkriegs-Traumata blickt. SZ und NZZ waren hingerissen von diesem in seiner Diskretion überwältigenden kleinen Meisterwerk.

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