Sachbücher

Internet

Was heute unser Leben prägt und noch immer für disruptive Verwerfungen sorgt - Computer, Internet, Digitalisierung -, nahm seinen Anfang am Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton, wo in den 1930er Jahren Pioniere wie Albert Einstein, Robert Oppenheimer, Kurt Gödel, Alan Turing und John von Neumann zusammenkamen. Gut recherchiert und, wie die Rezensenten einstimmig feststellen, äußerst unterhaltsam stellt George Dyson in "Turings Kathedrale" die Protagonisten dieser Entwicklung vor und vollzieht die Dynamik ihrer Gruppe nach. Dass der Autor neben den technischen Grundlagen auch eine anekdotenreiche "Fundgrube wunderbarer Klatschgeschichten aus der Pionierzeit der Computerentwicklung" abliefert, macht das Buch für Bernhard Dotzler (NZZ) nur noch lesenswerter. "Es unterhält und bildet" und schließt überdies auch noch "eine echte Wissenslücke", meint auch Georg von Wallwitz in der Welt.

Yvonne Hofstetter ist Geschäftsführerin der Teramark Technologies GmbH, einer Firma, die auf das Sammeln und Auswerten großer Datenmengen spezialisiert ist. Zugleich war sie in den letzten Monaten dauerpräsent in den deutschen Medien um vor Big Data zu warnen. Ob ihr Buch "Sie wissen alles" sie nun als besonders qualifizierte Mahnerin ausweist oder das ganze nur ein PR-Coup ist, muss jeder für sich entscheiden. FAZ- und SZ-Rezensenten sind auf jeden Fall hochbeeindruckt: von der erzählerischen Kompetenz Hofstetters ebenso wie vor ihren Warnungen und ihren Empfehlungen an die Politik. Ihre Forderung, die Bürger für ihre Daten finanziell zu entschädigen, unterschreibt Johannes Boie jedenfalls voll und ganz. Kleines Gegenprogramm zum Dauerlamento über das Internet ist vielleicht Ethan Zuckermans "Rewire!" : Der Direktor des MIT Center for Civil Media erinnert daran, dass das Netz auch ein paar Vorzüge hat, z.B. bietet es einem Provinzler die Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren, staunt die taz.


Geschichte

Die eigentliche historische Sensation der Saison war ja Brendan Simms" Studie "Kampf um Vorherrschaft" über die stets heikle Frage, wie man den ungefügen Riesen Deutschland in der Mitte Europas so einbinden kann, dass ganz Europa davon profitiert. Simms schlägt einen europäischen Bundesstaat nach dem Modell der britischen Union vor (etwa im Interview mit der FR, unser Resümee) Stimmen zu Simms haben wir bereits im Bücherbrief vom Oktober gesammelt. Ob das dereinst möglich werden sollte, mag man bei Heinrich August Winkler nachlesen, der seine monumentale Geschichte des Westens mit der Nachkriegszeit fortsetzt. Und das ist Haupt- und Staatsgeschichte: Alle, alle Zeitungen besprechen es ganz groß und ausführlich: Winkler ist jetzt Historiker Nummer 1 in Deutschland. Auch Eckhard Fuhr scheint in der Welt erstmal aufzuächzen, bevor zum ganz großen und einleuchtenden Lob ausholt: Meisterlich gelinge es Winkler, sein Thema in einem Haufen Parallelerzählungen und in einer "Orgie des Weglassens" zu vermitteln. Und siehe da: der Westen erhält Kontur! Darin freilich, räumt Fuhr ein, tummeln sich die Geschehnisse und Geschichten, umso mehr, als die nationalgeschichtliche Perspektive schwindet.

Der Archäologe Hermann Parzinger erzählt in seinem Buch "Die Kinder des Prometheus" die Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. Dabei betrachtet er, so erklärt er es im Interview mit Eckhard Fuhr und Berthold Seewald in der Welt, Archäologie als Geschichte. Und auf die Frage: "Ist es nicht sehr kühn, Zeiträume von Jahrmillionen, aus denen nur ein paar Knochenfragmente und einige Artefakte überliefert sind, in eine Erzählung zu packen, die von Menschen handelt," antwortet er ganz locker mit: "Nicht im geringsten, wenn man sich streng an die Quellen hält und diese in ihrer Aussagekraft nicht überfordert. Ich erzähle aber auch von dem, was wir nicht wissen und nicht wissen können. Allerdings bemühe ich mich schon, dem Leser anschaulich zu machen, wie diese frühe Geschichte der Menschheit verlaufen ist." Dennoch: Wie viele Bücher erzählen fünf Millionen Jahre auf 800 Seiten? Ulf von Rauchhaupt hält in der FAZ fest, dass Parzinger keinen alten Schemata der Geschichte folgt. Er hält sich an die Chronologie. Und den Lesern rät Rauchhaupt, es ebenso zu halten: Sie sollen dran bleiben. Dann lernen sie die Geschichte der Menschheit.

Zu den großen Würfen der Saison gehört zudem Johannes Willms" neue Geschichte der Französischen Revolution "Tugend und Terror" die etwa Nils Minkmar in der FAZ zu seinem Vergnügen mitten ins Geschehen stürzte. Arnold Esch setzt mithilfe von Büßereingaben im Vatikan seinen Blick in "Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters" fort. Bettina Greiner und Alan Kramer suchen in "Welt der Lager" einen sozusagen städtebaulichen Blick in die Abgründe der Moderne.

Sehr gut besprochen wurden außerdem Philipp Thers Band über "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" der untersucht, wie sich die Länder Ost- und Mitteleuropas nach dem Mauerfall ins kapitalistische System eingliederten. Und Gian C. Fuscos deftige historische Reportage "Die Unerwünschten" über die Mafiabosse, die die amerikanische Regierung nach dem Ende des Zeiten Weltkriegs nach Italien abschob.


Biografie

Die Gefahr der Verwechslung von Leben und Werk ist in Schriftstellerbiografien immer gegeben, aber selten so groß wie im Fall des Marquis de Sade (1740-1814), dessen bewegtes Leben von seinen skandalträchtigen Schriften noch übertroffen wird. Dem Schweizer Historiker Volker Reinhardt, der schon Biografien zu Größen wie Machiavelli, Michelangelo und Calvin vorlegte, gelingt die Balance in "De Sade oder Die Vermessung des Bösen" meisterhaft, finden die Rezensenten. So begrüßt Tim Caspar Boehme in der taz die Nüchternheit des Autors, der nicht versucht, de Sade in ein sympathischeres Licht zu stellen, sondern seine "Aktualität als verquerer Aufklärer" herausstreicht. Reinhardt gelingt es auch, die "provozierende "Anstößigkeit"" der Lebensgeschichte angemessen darzustellen, lobt Thomas Macho in der NZZ. Katharina Döbler erscheint der Libertin im DradioKultur insofern als "Quentin Tarantino des 18. Jahrhunderts", als er seine "speziellen Defizite und Obsessionen zum Kult erhob". .

Von den sechs Schwestern der exzentrischen englischen Adelsfamilie Mitford hat es Jessica, die zweitjüngste, der Autorin und Journalistin Susanne Kippenberger besonders angetan. Ihr hat sie mit "Das rote Schaf der Familie" eine Biografie gewidmet. Während ihre Schwestern dem Faschismus anhingen oder erfolgreich Romane schrieben, emigrierte Jessica, genannt Decca, 1939 in die USA, trat der Kommunistischen Partei bei und setzte sich als politische Aktivistin und investigative Journalistin für Frieden, Menschenrechte und Meinungsfreiheit ein. "Bester, aufregender, manchmal auch witziger Lesestoff" ist diese Biografie für Verena Auffermann (Zeit), und Rainer Burchardt preist sie im DLF als "ein beeindruckendes angel-sächsisches Sittengemälde vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des 20. Jahrhunderts".

Ausgiebig gerühmt und von uns schon im Bücherbrief gewürdigt, wurden außerdem der abschließende dritte Teil von Reiner Stachs Kafka-Biografie den die Kritiker quasi auf den Knien besprachen, Rüdiger Görners hinreißende Trakl-Biografie sowie "Truman Capotes turbulentes Leben" von George Plimpton


Naturwissenschaften

Die Rezensenten sind sich einig: Neil Shubins "Das Universum in dir" ist keine trockene theoretische Abhandlung, sondern eine mitreißende Entdeckungsreise, auf die der Paläontologe den Leser mit der staunenden Begeisterung eines Kindes mitnimmt. Vom Urknall zur Entstehung des Lebens, über Mondphasen und Plattentektonik breitet der Autor sein immenses Wissen aus vermittelt es einleuchtend, frisch, anschaulich und bisweilen poetisch, schwärmt Gottfried Schatz in der NZZ. Hier und da sind ihm sowohl in Shubins Ausführungen als auch in der Übersetzung sachliche Fehler aufgefallen, die in zukünftigen Auflagen hoffentlich ausgebessert werden und den Gesamtgenuss des Rezensenten kaum geschmälert haben. In der Welt seufzt Matthias Glaubrecht beglückt: "Was für ein schönes Buch!"

Außerdem sehr empfohlen: "Vögel" ein Kompendium von Malcolm Tait und Olive Tayler über elegante Elstern, graziöse Gänse und zaghafte Elstern, das Arno Widmann (FR) in einen Begeisterungstaumel gestürzt hat: Wer wissen möchte, wie oft das Herz einer ruhenden Krähe in 25 Sekunden schlägt oder eine Transkription des Rotkehlchengesangs unwiderstehlich findet, ist mit diesem Buch wunderbar beschenkt. Und Desmond Morris" Porträt der Eulen lässt den FR-Rezensenten Olaf Velte staunen über Artenvielfalt, archaisch Mysteriöses und die Menschenähnlichkeit im Antlitz der Eule.

Derzeit wird in Deutschland um eine Neudefinition der Sterbehilfe gerungen. Im Perlentaucher hat Daniele dell"Agli dem Thema einen langen Essay (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5) gewidmet. Außerdem sind drei Bücher in diesem Herbst erschienen, die von den Rezensenten empfohlen werden: Da ist der Band "selbst bestimmt sterben" von Gian Domenico Borasio. Der Autor ist Palliativmediziner, also kein Befürworter der Sterbehilfe, aber auch kein dogmatischer Gegner, versichert Gabriele von Arnim in der Zeit. Unter bestimmten Voraussetzungen hält auch er eine Legalisierung der Sterbehilfe für akzeptabel. Uwe-Christian Arnold ist ebenfalls Arzt und leistet seit vielen Jahren Sterbehilfe. In seinem Buch "Letzte Hilfe" liefert er dafür nachvollziehbare Argumente, meint die Zeit. Gerbert van Loenen schließlich erklärt in "Das ist doch kein Leben mehr!" wie Sterbehilfe in den Niederlanden praktiziert wird. Lesenswert fand SZ-Rezensentin Nina von Hardenberg diesen Blick zurück auf die Entwicklung der Sterbehilfepraxis.


Film/Fotografie

Obwohl seine Essays, etwa über den Western und den Gangsterfilm, zu den einschlägigsten Texten auf ihrem Gebiet gehören, ist der amerikanische Filmjournalist Robert Warshow (1917-1955) hierzulande sträflicherweise weitgehend unbekannt. Es mag daran liegen, dass seine Vorliebe Comics und Genrefilmen galt und er Regisseure wie John Ford adelte, bevor die Autorentheoretiker der Cahiers du Cinéma es salsonfähig machten, auch ein Kino zu lieben, dass keinen ostentativen Kunstanspruch vor sich herträgt. Dass Warshows Standardwerk "The Immediate Experience" aus dem Jahr 1962 nun endlich auch auf Deutsch unter dem Titel "Die unmittelbare Erfahrung" entdeckt werden kann, versetzt die Rezensenten in Begeisterung. In der FAZ hebt Jörg Später Warshows Humor und sein für die damalige Zeit unkonventionelles filmästhetisches Verständnis hervor, während SZ-Rezensent Fritz Göttler in der SZ in diesem Band nichts Geringeres als die Geburt der Moderne erlebt.

Sehr gut besprochen ist auch die von Mathias Bertram herausgegebene Foto-Anthologie "Das pure Leben", die den Alltag in der DDR dokumentiert. Annett Gröschner (Welt) liest die beiden Bände - Band 1: Die frühen Jahre. 1945-1975 und Band 2: Die späten Jahre. 1975-1990 - wie einen subjektiven Fotoroman, und Renate Meinhof (SZ) meint, die DDR in diesen Bildern - unter anderem von Sibylle Bergemann, Roger Melis, Helga Paris oder Harald Hauswald - geradezu "riechen, schmecken, fühlen" zu können.


Kulturgeschichte

Einen wunderbarer, schwungvoll und "furchtlos" geschriebenen Großessay kann SZ-Rezensent Johan Schloemann mit Franco Morettis neuem Buch "Der Bourgeois" nun endlich auch auf Deutsch annoncieren. Der italienische Philologe untersucht hier etwa anhand der englischen bürgerlichen Literatur, weshalb der Begriff der "middle class" im industriekapitalistischen England dem der Bourgeoise vorgezogen wurde. Jürgen Kaube in der FAZ ist begeistert: Stoff und Fragen für hundert philologische Arbeiten, meint er. Zum Beispiel: Wie zeigt sich die Bourgeoisie an den literarischen Rändern, bei Pérez Galdós oder Machado de Assis? Jan Küveler wird der Bourgeois in der Welt als Schlüsselfigur der Moderne noch einmal plastisch vor Augen gestellt.

Weitere empfehlenswerte Neuerscheinungen: Peter Burke erzählt die Geschichte der "Explosion des Wissens" von frühen Enzyklopädien bis zur Wikipedia, stößt aber besonders in seinen Reflexionen über das digitale Zeitalter auf Vorbehalte. Ulrich Raulff erzählt in "Wiedersehen mit den Siebzigern" sehr unterhaltsam von der letzten großen Zeit der Theorie - den Siebzigerjahren. Jonathan Crary schreibt mit "24/7" eine Geschichte des Schlafs beziehungsweise der Schlaflosigkeit unter den Bedingungen der Moderne. Und Wolfgang Matz beschreibt am Beispiel von Effi, Emma und Anna wunderbar lehrreich die "Die Kunst des Ehebruchs" Wenn das kein Buch für die Feiertage ist!

Romane / Krimis / Erinnerungen / Sachbuch / politische Bücher