08.04.2002. Sachbuch / Literatur
Kunst / Kulturgeschichte
Sachbuch / Literatur Kunst / Kulturgeschichte Das am besten besprochene Sachbuch der Saison ist
Anthony Graftons Biografie des
Renaissance-Künstlers Leon Battista Alberti. Bei der
Zeit ruft diese Biografie eines Universalgenies
reinste Bewunderung hervor: "lebendig und
vergnüglich" sei sie geschrieben. Die
FAZ findet Graftons Darstellung besser als die Jacob Burckhardts:
Gelehrt und witzig und vor allem nicht so harmonisch, Albertis Leben sei nämlich ein "Seiltanz über dem
Haifischbassin" gewesen. Selbst die
FR, die psychologische Biografien eher problematisch findet, empfand ein "uneingeschränktes
intellektuelles Lesevergnügen". Sehr gelobt wird von der
SZ auch
Erik Orsennas "bezaubernde"
Biografie des Gartenarchitekten von Versailles
Andre Le Notre. Und die
FAZ ist fasziniert von dem "konstruierten und
exaltierten" Leben der Malerin
Tamara de Lempicka, das Laura Claridge in ihrer
Biografie beschreibt.
Was liebten die Europäer bloß so an England?
Ian Buruma geht dieser Frage in
"Anglomania" nach, indem er Anglomanen von
Voltaire bis Wilhelm II. porträtiert, und wurde dafür von der Kritik überschwänglich gefeiert.
Unterhaltsam, bewegend und, wie die
Zeit schreibt, beeindruckend durch den "
Reichtum einer Bildung, die es sich leisten kann, so leichten Tones wie Burumas Prosa daherzukommen".
Literaturwissenschaften Aufsehen erregt hat hier vor allem
Heinz Schlaffers Essay
"Die kurze Geschichte der deutschen Literatur", der die Rezensenten mit seiner Eleganz und
Geistesaristokratie bestach. Auch die Kürze (157 Seiten) wurde mit Begeisterung bedacht. Nur die
FAZ war nicht zufrieden, auch wenn sie das Werk sprachlich "brillant" fand - inhaltlich geht es ihr zu sehr
im Galopp durch die deutsche Literaturgeschichte. Noch zwei Bücher werden sehr empfohlen, nämlich
Gotthard Erlers "Emilie Fontane"-Biografie, die die
FAZ zwar streckenweise etwas
spröde findet, die Emilie Fontane aber endlich vom Geruch der
nörgelnden Gattin oder opferbringende Ehefrau "für immer befreit". Und
Hans Ulrich Gumbrechts Essays über das
"Leben und Sterben der großen Romanisten" Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Werner Krauss und Erich Auerbach und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus.
Geschichte Großen Beifall gefunden hat das Buch der amerikanischen Journalistin
Isabel Hilton über
"Die Suche nach dem Panchen Lama", der 1995 von der Geheimpolizei aus Tibet verschleppt worden war. Die
NZZ konnte nach der Lektüre ausführlich die
"Heilsarbeitsteilung" zwischen
Dalai Lama und Panchen Lama referieren. Die
SZ findet es "spannend wie einen
Krimi", und hält es für ein "Standardwerk", das die Konflikte zwischen
China und Tibet anschaulich beleuchtet. Lob erhielten weiter
Joachim Fest für sein Buch
"Der Untergang", in dem er die letzten drei Wochen im
Führerbunker rekonstruiert. Und
Robert Gellatelys "gründliche" und "sorgfältig recherchierte" Arbeit (Zeit) über
Hitler und sein Volk:
"Hingeschaut und weggesehen". Als
pures intellektuelles Vergnügen schließlich bezeichnen
SZ und
FAZ Marie Theres Fögens "Römische Rechtsgeschichten". Im Mittelpunkt des Buchs steht das nur als Legende auf die römische und nachrömische Nachwelt gekommene
Zwölftafelgesetz und seine Überlieferung.
Philosophie Sehr gut aufgenommen wurde
Wolfgang Kerstings "Kritik der Gleichheit", eine Reihe von Aufsätzen zu Fragen wie "Was ist Recht?" "Was heißt Sozialstaat?" "Wer entscheidet eigentlich, was Moral ist?", die die
FAZ wegen ihrer
Klarheit und "hinreißend" gekonnten
Polemiken feiert und die
SZ als
originell lobt. Viel besprochen wurden auch
Giorgio Agambens "Homo sacer" und
Karl Heinz Bohrers "Ästhetische Negativität". Letzterer stellt die Schriftsteller über die Philosophen, weil sie sich "dem Unausweichlichen, dem Nichts" gestellt hätten. Eine These, die von der Kritik eher abgelehnt wurde. Die
SZ hat
nicht recht verstanden, worauf Bohrer hinaus will. Die
FR ist genervt von Bohrers "Rhetorik des
Leidensstolzes". Die
FAZ beklagt sich über
endlos verschachtelte Sätze.
Naturwissenschaften Hier gibt es wenig Neues zu vermelden. Hinweisen wollen wir aber doch auf
Dieter Kühns Biografie der Malerin und Botanikerin
Maria Sibylla Merian. "Ein
wunderbares Buch", versichert die
Zeit,
und die
FAZ nennt es voll Sympathie
"hoch gescheit und hoch gescheitert", weil Kühn zwar ein großartiges
Panorama der Barockzeit des 17. und frühen 18. Jahrhunderts liefere, aber aufgrund der wenigen Quellen über die Merian ein zuweilen ausuferndes Analogieverfahren mit anderen Zeitdokumenten betreibe.
Politik Dies ist eine
eminent politsche Saison: Die Nachwirkungen des
11. September, die
Nahostkrise und der kommende
Bundestagswahlkampf dürften auf das größte Interesse stoßen, und auch die
Globalisierungsdebatte geht weiter. Zu allen Themen hat der Markt wichtige Neuerscheinungen zu bieten.
Zum
11. September:
Gilles Kepels "Das Schwarzbuch des Dschihad" gilt als eine der besten Einführungen in die Geschichte des Islamismus, und es vertritt die auf den ersten Blick
überraschende These vom Niedergang der Bewegung. Die
Zeit besprach das Buch als "facettenreich" und ausgeprochen "profund". Und auch die
taz bewundert bei mancher Kritik im Detail die ausgesprochen informative und
instruktive Aufarbeitung der islamistischen Bewegung. Arno Widmann hatte für den
Perlentaucher schon die französische Originalausgabe
besprochen.
Zur
Nahostkrise: Bisher wurde Bernard Wassersteins
"Jerusalem"-Buch nur von der
SZ besprochen. Gustav Seibt legte es den Lesern allerdings mit solcher
Dringlichkeit ans Herz, dass man nach der Lektüre gleich in die Buchhandlung rennen wollte. Wasserstein erzählt de Geschichte dieses "goldenen Bassins voller
Skorpione" seit dem 19. Jahrhundert und benennt mit "unerschütterliche Trockenheit" die kaum mehr lösbaren Status-Probleme dieser Stadt. Die
New York Review hatte das Originals
besprochen. Letzter Satz der Kritik: "The only reaction that seems appropriate now is
despair."
Zum
Bundestagswahlkampf: Allenthalben sehr gelobt wurde
Frank Böschs "Macht und Machtverlust", eine Geschichte der
CDU von Adenauer bis Kohl. Trotz kleiner Fehler und einiger Versäumnisse "werden sich künftige Veröffentlichungen an dieser Parteigeschichte messen lassen müssen", schreibt zum Beispiel Giselher Schmidt in der
FAZ. Und auch die
Zeit meint, dass man sich den Namen des 1969 geborenen Historikers "wird merken müssen" und lobt neben der
wissenschaftlichen Tiefe des Buchs auch seine
eingängige Sprache. Auch der
SPD - von Bebel bis Schröder - ist eine neue Darstellung gewidmet:
Franz Walters "Die SPD - Vom Proletariat zur Neuen Mitte", das bisher nur von der
taz besprochen wurde. Sie lobte die
große Perspektive des Buchs, fand die Beschreibung der aktuellen Situation allerdings ein wenig oberflächlich.
Zur
Globalisierung: Eine ganze Flut von Neuerscheinungen ist hier zu annoncieren. Die wichtigste ist die (Anti-)Globalisierungsbibel
"Empire" von
Antonio Negri und
Michael Hardt. Es handelt sich allerdings um einen schweren Brocken, eher eine
philosophische als eine direkt
politische Lektüre und schon gar keine
Handlungsanweisung. Die Referenzen lassen sich in den Kritiken kaum zählen:
Marx, Nietzsche, Heidegger, Foucault. Viel Spaß beim Begreifen der Weltlage! Direkter ist da schon der Zugriff bei dem Buch über die Organisation
"Attac" der Journalisten
Christiane Grefe,
Matthias Greffrath und
Harald Schumann. Sachbuch / Literatur
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