Vorworte

Leseprobe zu Stephen Crane: Geschichten eines New Yorker Künstlers

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Armut auf Probe

Es war spät am Abend, ein feiner Regen nieselte herab. Die zahllosen Lichter der Stadt verliehen dem Pflaster einen stahlblauen und gelben Glanz. Ein junger Mann, die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlurfte langsam, ohne große Begeisterung, auf ein Innenstadtviertel zu, wo man für wenig Geld ein Bett bekommen konnte. Sein Anzug war alt und zerschlissen, dazu trug er eine staubige Melone mit zerfetzter Krempe. Er würde heute essen wie ein Landstreicher und schlafen wie ein Obdachloser. Als er den City Hall Park erreichte, hatte er - vor allem von kleinen Jungen - bereits jede Menge Schimpfworte wie "Schnorrer" oder "Penner" einstecken müssen und fühlte sich entsprechend niedergeschlagen. Der vom Regen durchtränkte, abgenutzte Samtkragen seines Mantels legte sich schwer um seinen Hals, und wie er den nassen Gehsteig entlang trottete, konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, dass es noch so etwas wie Freude im Leben gab. Er schaute sich um, hielt Ausschau nach einem Ausgestoßenen, mit dem er sein Elend teilen konnte. Doch im Lichtschein der Laternen waren nur leere, vom Regen glänzende Bänke zu sehen, dahinter nasses Gras. Diejenigen, die die Bänke für gewöhnlich in Anspruch nahmen, schienen trockenere Plätze aufgesucht zu haben. Er sah nur gut gekleidete Bürger, die die Brooklyn Bridge anstrebten.
Der junge Mann wartete eine Weile an einer Straßenecke und schlurfte dann die Park Row hinunter. Mit einer gewissen Erleichterung stellte er fest, dass die Leute hier längst nicht mehr so gut gekleidet waren. Fast fühlte er sich zu Hause. Manche sahen genauso zerlumpt aus wie er selbst. Am Chatham Square lungerten Männer trübselig, aber geduldig vor Kneipen und Logierhäusern herum, fast wie Hühner in einem Unwetter. Er schloss sich diesen Männern an und beobachtete den Fluss des Lebens auf der Straße.
Im dämmrigen Licht des kalten, verregneten Abends glitt die rot und messinggelb schimmernde Straßenbahn vorbei, ruhig und unaufhaltsam, unheimlich und gefährlich. Nur manchmal ließ sie die schrille Warnglocke ertönen. Zwei Menschenströme bewegten sich die schmutzigen Gehsteige entlang, auf denen jeder Schritt einen Abdruck wie eine kleine Narbe hinterließ. Darüber hielt die Hochbahn mit kreischenden Rädern an der Haltestelle, die mit ihren Pfeilern wie eine langbeinige Krabbe über der Straße hockte. Die Lokomotive machte sich mit scharfem Keuchen bemerkbar. In einer Seitengasse waren schwarzviolette Vorhänge zu sehen, auf denen die Lichter der Straßenlaternen wie aufgestickte Blumen schimmerten.
An der Straßenecke lockte eine unersättlich anmutende Kneipe Kundschaft an. Beim Eingang lehnte ein Schild mit der Aufschrift: "Heiße Suppe heute gratis." Die Schwingtüren schnappten auf und zu wie gierige Lippen, die mit zufriedenem Schmatzen einen nach dem anderen verschlangen, wie Menschenopfer in einem heidnischen Ritus.
Von dem verlockenden Schild angezogen, ließ der junge Mann sich ebenfalls verschlucken. Ein Barmann stellte ein riesiges Glas Bier auf den Tresen, dunkel und unheilvoll; die Schaumkrone überragte beinahe die braune Melone des jungen Mannes.
"Suppe gibt's da drüben, Leute", sagte der Barmann freundlich. Ein zerlumpter kleiner Mann von gelblicher Hautfarbe und der Jüngling nahmen ihre Biergläser und eilten zu dem langen Tisch, an dem ein Mann mit fettglänzendem, imposantem Backenbart aus einem Kessel Suppe schöpfte, bis er die beiden Hungrigen mit der dampfend heißen Brühe versorgt hatte, in der hier und dort ein Hauch von Hühnerfleisch schwamm. Der junge Mann sog die wohltuende Wärme der Suppe in sich auf und lächelte dem Mann mit dem Ehrfurcht gebietenden Backenbart zu, der das Geschehen wie ein Priester hinter seinem Altar überschaute. "Noch eine Portion?", fragte er die beiden armseligen Gestalten. Der kleine Gelbhäutige nickte rasch, doch der Jüngling schüttelte den Kopf und folgte einem Mann nach draußen, dessen schäbiges Äußeres vermuten ließ, dass er wusste, wie man zu einem billigen Nachtquartier kam.
Auf dem Gehsteig sprach er den Mann an. "Sagen Sie, wissen Sie vielleicht, wo man hier billig übernachten kann?" Der Mann zögerte einen Augenblick und schaute zur Seite. Doch dann deutete er mit einem Kopfnicken die Straße hinauf. "Ich schlaf immer da vorn", sagte er. "Wenn ich Geld hab."
"Wie viel?"
"Zehn Cent."
Der junge Mann schüttelte bedrückt den Kopf. "Das is mir zu teuer."
In diesem Augenblick kam ein Mann in sonderbarem Aufzug schwankenden Schrittes auf die beiden zu. Zwischen dem wirren Haarschopf und dem Backenbart spähten schuldbewusst dreinblickende Augen hervor. Wenn man genauer hinsah, konnte man den Mund erkennen, der einen grausamen Zug hatte, als würde er gerade etwas zermalmen. Ein Mann, der möglicherweise in Verbrechen verstrickt war, die jedoch, wie so vieles in seinem Leben, verpfuscht waren.
Nun jedoch klang seine Stimme wie das Winseln eines Hündchens, während er seinen Augen einen flehenden Ausdruck verlieh. "Meine Herren, würden Sie 'nem armen Kerl zwei Cent für 'n Nachtlager spendieren? Fünf hab ich selbst - noch zwei, und ich krieg 'n warmes Bett. Ehrlich, mir fehlen nur zwei Cent für 'n Schlafplatz. Sie wissen ja, wie's einem gehn kann als ehrbarer Mann, wenn ein' das Glück im Stich lässt un' ..."
Der zerlumpte Mann, der bis dahin teilnahmslos zugehört hatte, schaute zu dem Zug auf, der über ihnen vorbeiratterte, und sagte mit tonloser Stimme: "Ach, scher dich doch ...!"
Doch der junge Mann wandte sich ungläubig an den Kerl mit der Verbrechervisage. "Sind Sie verrückt? Warum fragen Sie nicht jemand, der aussieht, als hätte er Geld?"
Der Finsterling trat unsicher von einem Fuß auf den andern und wischte mit der Hand irgendwelche unsichtbaren Hindernisse vor seiner Nase weg, während er zu einer weitschweifigen Erklärung ansetzte, die ebenso tiefschürfend wie unverständlich war.
Als er endlich verstummte, sagte der junge Mann: "Zeig mal her die fünf Cent."
Der beschwipste Finsterling setzte ein gekränktes Gesicht auf, weil seine Glaubwürdigkeit angezweifelt wurde. Beleidigt begann er mit zittrigen roten Händen in seinen Taschen zu kramen. Dann verkündete er voller Bitterkeit, als hätte man ihn betrogen: "Das sin' ja nur vier."
"Vier Cent", sagte der Junge nachdenklich. "Pass mal auf, ich bin fremd hier. Wenn du mir deinen billigen Schlafplatz zeigst, leg ich die restlichen drei Cent drauf."
Der Finsterling strahlte übers ganze Gesicht. Mit zitterndem Backenbart, scheinbar gerührt von so viel Freundlichkeit, ergriff er die Hand des jungen Mannes.
"Bei Gott", rief er bewegt, "wenn du das für mich tust, bist du 'n verdammt guter Kerl. Das vergess ich dir mein Lebtag nich'. Und wenn ich mal Gelegenheit hätt, es zu rückzuzahlen, würd ich's sofort tun", brabbelte er in betrunkenem Pathos, "Auf der Stelle würd ich das, un' ich würd's dir nie vergessen ..."
Der junge Mann wich einen Schritt zurück und sah ihn kühl an. "Schon gut. Zeig mir bloß das Nachtquartier, mehr will ich gar nich'."
Mit dankbaren Gesten führte der Finsterling den jungen Mann eine dunkle Straße entlang. Vor einer schmierigen kleinen Tür blieb er stehen und hob vielsagend die Hand. "Da wär'n wir", sagte er mit uralter Weisheit in den Augen. "Ich hab dich hergebracht, damit hab ich meinen Teil getan, richtig? Wenn's dir hier nich' gefällt, bist du nich' sauer auf mich, ja? Du nimmst es mir nich' krumm?"
"Nein", sagte der junge Mann.
Der Mann mit der Verbrechervisage wedelte theatralisch mit dem Arm und ging voraus die steile Treppe hinauf. Im Gehen gab der Junge ihm drei Cent. Oben schaute ein gutmütig dreinblickender Mann mit Brille durch ein Guckloch heraus. Er nahm das Geld entgegen, trug etwas in sein Meldebuch ein und führte die beiden Gäste eilig durch einen finsteren Korridor. Schon nach wenigen Augenblicken spürte der junge Mann Übelkeit in sich aufsteigen; aus den dunklen Winkeln des Hauses stiegen ihm seltsame Gerüche in die Nase wie furchtbare ansteckende Krankheiten. Sie schienen von dicht gedrängten menschlichen Körpern zu kommen, die Ausdünstungen von tausend vergangenen Ausschweifungen und tausend gegenwärtigen Nöten.
Ein Mann - nackt bis auf ein bräunliches Unterhemd - trottete schläfrig durch den Korridor. Er rieb sich die Augen, gähnte herzhaft und fragte die Neuankömmlinge, wie spät es sei.
"Halb zwei."
Gähnend öffnete der Mann eine Tür, und für einen kurzen Augenblick zeichnete sich seine Gestalt vor dem dunklen Zimmer ab. Die drei Männer gingen ebenfalls zu dieser Tür, und als sie erneut geöffnet wurde, schlug ihnen ein infernalischer Gestank entgegen. Der junge Mann musste wie gegen übermächtige Windböen ankämpfen.
Es dauerte eine Weile, bis er in der Dunkelheit etwas sehen konnte, doch der Mann mit dem gutmütigen Brillengesicht führte ihn sicher durch den düsteren Raum und blieb stehen, um dem Finsterling eine Pritsche zuzuweisen. Den jungen Mann brachte er zu einer Pritsche an einem ruhigen Platz beim Fenster und zeigte ihm einen großen Spind für die Kleidung, der wie ein Grabstein am Kopfende stand. Dann ließ er ihn allein.
Der Junge setzte sich auf seine Pritsche und schaute sich um. In einiger Entfernung brannte eine orange leuchtende Gasflamme, die tanzende Schatten in alle Winkel des Raumes warf, bis auf einen grauen Dunst in ihrem unmittelbaren Umkreis. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er auf den dicht gereihten Pritschen Männer wie tot daliegen. Manche schnarchten und röchelten wie unter Qualen.
Der Junge verschloss Hut und Schuhe im Spind, dann legte er sich hin, in seinen alten, vertrauten Mantel gehüllt. Vorsichtig fasste er die bereitliegende Decke an und zog sie nur zur Hälfte über den Mantel. Die lederbezogene Pritsche fühlte sich so kalt an wie schmelzender Schnee. Eine Weile zitterte er vor sich hin, bis er sich an die Kälte gewöhnte und zu seinem Freund, dem Mann mit der Verbrechervisage, schaute, den er undeutlich auf seinem Lager erkennen konnte. Reglos lag er da, bis obenhin abgefüllt, wie er war. Sein Schnarchen war nicht zu überhören. Die nassen Haare und der Bart glänzten, seine Nase leuchtete wie ein rotes Licht im Nebel.
Der Junge schaute zur Seite und sah nur eine Armlänge entfernt einen Mann mit gelblicher Haut auf einer Pritsche liegen, Brust und Schultern der Kälte ausgesetzt. Ein Arm hing seitlich herab, die Finger auf dem feuchten Betonboden. Unter den schwarzen Brauen waren die Augen halb geöffnet. Dem jungen Mann kam es so vor, als würde ihn dieser Kerl, der aussah wie ein Leichnam, drohend anstarren. Er rückte ein Stück weg, ohne seinen Nachbarn aus den Augen zu lassen. Der Mann zeigte nicht die kleinste Regung, lag da wie tot - ein Leichnam, bereit zum Sezieren.
Überall im Zimmer sah man bräunlich getönte Haut, in die Dunkelheit gestreckte Glieder, angewinkelte Knie, Arme, die lang und dünn von den Pritschen herabhingen. Die meisten wirkten leblos wie Statuen. Mit den seltsamen Spinden, die wie Grabsteine herumstanden, kam man sich vor wie auf einem Friedhof, auf dem man die Toten nicht begraben, sondern nur hingeworfen hatte.
Zwischendurch erwachte einer aus der Erstarrung, ein Arm oder Bein wurde im Albtraum hochgerissen, begleitet von einem erstickten Aufschrei, einem Grunzen, einem Fluch. In einem dunklen Winkel wurde ein Kerl im Traum anscheinend von etwas Furchtbarem geplagt, denn er stieß plötzlich langgezogene Klagelaute aus, die wie das Jaulen eines Hundes klangen. Gespenstisch hallte es durch den kalten Raum voller Grabsteine, in dem Männer wie tot dalagen.
Der durchdringende Ton, der hoch und schrill ansetzte und in einem schmerzlichen Stöhnen ausklang, drückte eine unaussprechliche Tragödie aus, die der Mann im Schlaf durchmachte. Für den Jüngling waren es nicht bloß die Schreie eines von Albträumen geplagten Mannes; ihm erzählten sie die Geschichte dieses Zimmers und seiner Bewohner. Es war der Aufschrei eines armen Teufels, der in einem gnadenlosen Räderwerk zermalmt zu werden droht, dessen Stimme nicht mehr die eines einzelnen Menschen ist, sondern der Klage einer großen Gruppe, einer Klasse, eines ganzen Volkes Ausdruck verleiht. Solche Gedanken gingen dem jungen Mann durch den Kopf, während er die dunklen Schatten beobachtete, die sich wie mächtige schwarze Finger um die halbnackten Körper legten. Statt zu schlafen, lag er auf seiner Pritsche und dachte sich Lebensgeschichten für die Männer aus, soweit es ihm seine bescheidene Erfahrung ermöglichte. Ab und an heulte der Mann in seiner Ecke auf, von den dunklen Mächten seiner Träume gepeinigt.
Endlich drang eine Lanzenspitze grauen Lichts durch die trüben Fensterscheiben herein. Draußen sah der junge Mann schmutzigweiße Dächer in der Morgendämmerung. Das Licht wurde gelb und immer heller, bis die kräftigen goldenen Strahlen der Morgensonne den Raum durchfluteten. Sie fielen auf die Gestalt eines kleinen dicken Mannes, der stotternd vor sich hin schnarchte. Sein runder kahler Kopf begann zu leuchten. Er setzte sich auf, blinzelte in die Sonne, fluchte unwirsch und zog sich die Decke über den im Morgenlicht erstrahlenden Schädel.
Der Junge beobachtete noch eine Weile, wie eine Gestalt nach der anderen von dem grellen Licht aus dem Schlaf gerissen wurde, bis er irgendwann selbst einschlief. Als er erwachte, hörte er den Mann mit der Verbrechervisage fluchen. Er hob den Kopf und sah seinen Kameraden auf der Bettkante sitzen und sich mit seinen langen Fingernägeln wie mit Feilen am Hals kratzen.
"Himmelherrgott, das is 'ne ganz neue Sorte! Die müssen Büchsenöffner an den Füßen haben." Er ließ eine wütende Tirade vom Stapel.
Der junge Mann schloss rasch seinen Spind auf und nahm Hut und Schuhe heraus. Während er auf der Bettkante saß und sich die Schuhe zuband, schaute er sich um und stellte fest, dass das Tageslicht den Raum nun recht gewöhnlich und uninteressant erscheinen ließ. Überall waren Männer mit gelassenen, stumpfen oder abwesenden Gesichtern dabei, sich anzuziehen, während da und dort Zurufe und spöttische Bemerkungen ausgetauscht wurden. Manche stolzierten splitternackt auf und ab, kräftige Burschen mit schimmernder Haut. Groß und unerschütterlich standen sie da wie Häuptlinge. Wenig später sahen sie in ihren schäbigen Kleidern völlig verändert aus. Die ebenmäßigen Körper hatten sich in unförmige Gestalten verwandelt.
Bei anderen war der Körper selbst deformiert; sie hatten schiefe Schultern, waren bucklig, verkrümmt, knochig oder fettleibig - wie der kleine dicke Mann, der sich geweigert hatte, sein kahles Haupt von der Morgensonne krönen zu lassen. Mit seiner birnenförmigen Gestalt watschelte er auf und ab und schimpfte wie ein Fischweib. Anscheinend war über Nacht etwas von seinen Habseligkeiten verschwunden.
Der junge Mann zog sich rasch an und ging zu seinem Freund, dem Kerl mit der Verbrechervisage. Der schaute den Jüngling im ersten Moment verdutzt an. Doch dann schien er in seiner umnebelten Erinnerung etwas Gutes mit diesem Gesicht zu verbinden. Er kratzte sich am Hals und dachte einen Moment nach, dann trat ein breites Grinsen auf sein Gesicht.
"Hallo, Willie", rief er erfreut.
"Hallo", sagte der Junge. "Bist du bereit zum Aufbrechen?"
"Klar." Der Finsterling schnürte seinen Schuh sorgfältig mit einem Stück Bindfaden und schloss sich ihm an.
Als sie auf die Straße hinaustraten, war es für den jungen Mann kein Moment der Erleichterung, wieder frische Luft atmen zu können. Er hatte die üblen Gerüche im Haus gar nicht mehr wahrgenommen.
Die überraschende Erkenntnis beschäftigte ihn, während sie die Straße entlanggingen - bis er plötzlich die vor Aufregung zitternde Hand seines Begleiters am Arm spürte.
"Ich fress 'n Besen, wenn da oben in der Spelunke nich' 'n Kerl mit 'nem Nachthemd war!", rief der Mann mit vor Erregung bebender Stimme.
Der Junge war einen Augenblick verdutzt, dann lächelte er über den Humor des Kameraden.
"Ach wo, du bist 'n verdammter Lügner", sagte er gutmütig.
Der Finsterling gestikulierte wild und schwor bei irgendwelchen unbekannten Göttern, die reine Wahrheit zu sagen. Immer wieder beteuerte er, dass ihn alles erdenkliche Ungemach ereilen solle, wenn er lüge. "Ich hab's genau gesehn!", beschwor er mit weit aufgerissenen Augen. "Jawohl, Sir! Ein Nachthemd! Schneeweiß noch dazu!"
"So ein Unsinn!"
"Nee, Sir! Tot umfallen will ich, wenn da nich' 'n Kerl mit 'nem blütenweißen Nachthemd war!"
Sein Gesicht drückte unermessliches Staunen aus. "Ob du's glaubst oder nich', 'n weißes Nachthemd", wiederholte er.
Der junge Mann sah den Eingang zu einem Kellerrestaurant. Auf einem Schild stand: "Hackbraten ohne Hokuspokus". Was da sonst noch in verblassten Buchstaben zu lesen war, sagte ihm ebenfalls, dass dies ein Lokal war, das seine Mittel nicht überstieg. "Ich glaube, ich werde etwas essen", sagte er zu seinem Begleiter.
Der wirkte mit einem Mal verlegen. Er betrachtete das verlockende Schild, dann setzte er sich langsam in Bewegung. "Na dann, mach's gut, Willie", sagte er tapfer.
Einen Moment lang schaute der junge Mann ihm nach, dann rief er: "Wart mal 'ne Sekunde." Als sie wieder beieinanderstanden, redete der Junge mit Nachdruck auf den anderen ein, als fürchte er, allzu wohltätig zu erscheinen. "Wenn du frühstücken willst, kann ich dir drei Cent leihen. Aber dann musst du dir selbst helfen. Ich kann dich nich' aushalten, sonst bin ich bis heut Abend selbst pleite. Ich bin kein Millionär."
"Ich schwör's", sagte der Finsterling mit großem Ernst. "Meine Kehle is staubtrocken. Was ich wirklich brauch, sin' 'n paar Drinks. Aber das is ja wohl nich' drin, also nehm ich gern auch 'n Frühstück. Wenn du das für mich tust, bist du mit Abstand der anständigste Kerl, der mir je übern Weg gelaufen is."
Eine Weile versicherten sie einander wortreich, was für ein ehrenwerter Mensch der andere doch sei, klug und ein wahrer Gentleman. Dann betraten sie das Restaurant.
Drinnen sahen sie einen gedämpft beleuchteten, langen Tresen. Zwei, drei Männer mit fleckigen weißen Schürzen eilten hin und her.
Der junge Mann kaufte eine Tasse Kaffee für zwei Cent und ein Brötchen für einen Cent. Sein Kamerad nahm das Gleiche. Die Tassen waren mit braunen Sprüngen durchzogen, die Blechlöffel sahen aus, als stammten sie aus der Cheopspyramide, mit ihren schwarzen Krusten und den zahllosen Schrammen aus uralten Zeiten. Die Mahlzeit erfüllte die beiden Wanderer mit wohliger Wärme, machte den Finsterling gesprächig und verlieh dem Jüngling neuen Mut.
Sein Kamerad begann in Erinnerungen zu schwelgen und verlor sich in endlos langen Geschichten, verwickelt und zusammenhanglos, mit atemloser Geschwätzigkeit vorgetragen: "... war 'n toller Job drüben in Orange, bloß hält der Boss dich mächtig auf Trab. Ich war drei Tage dort, da hab ich ihn gefragt, ob er mir 'n Dollar leiht. 'Schscher dich zum Teufel', sagt er - da war ich den Job wieder los ... den Süden kannste vergessen. Die verdammten N***er arbeiten für fünfundzwanzig oder dreißig Cent am Tag. Da schaust du als Weißer blöd aus der Wäsche. Aber das Essen war nich' übel. Lässt sich schon leben, dort ... hab auch mal in Toledo gearbeitet, als Flößer. Im Frühjahr kannste zwei oder drei Dollar am Tag verdienen. Hab gelebt wie 'n König. Nur im Winter, da isses dort schweinekalt ... aufgewachsen bin ich in New York, im Norden. Musst du mal hin. Bloß gibt's da kein Bier und kein' Whisky tief in den Wäldern. Aber gutes warmes Essen hatten wir. Vielleicht wär ich heut noch dort, wenn der Alte mich nich' rausgeschmissen hätt. 'Hau ab, du nutzloser Strolch', hat er gesagt, 'von mir aus kannste krepieren.' 'Du bist mir vielleicht 'n Vater', hab ich gesagt. Der hat mich nich' wiedergesehn."
Als sie das düstere Speiselokal verließen, sahen sie einen alten Mann, der sich mit einem kleinen Proviantpäckchen davonstehlen wollte. Ein großer Kerl mit imposantem Schnurrbart versperrte ihm jedoch den Weg. Der Alte protestierte kläglich. "Immer woll'n Sie wissen, was ich bei mir hab, wenn ich geh, aber keiner sieht, dass ich immer was dabei hab, wenn ich von der Arbeit herkomm."
Während die beiden gemächlich die Park Row entlang schlenderten, plauderte der Mann mit der Verbrechervisage munter weiter. "Also wirklich, wir leben wie die Könige", sagte er und schmatzte genüsslich mit den Lippen.
"Pass bloß auf, dass wir heut Abend nich' dafür büßen müssen", warnte der junge Mann. Doch sein Begleiter wollte sich jetzt nicht mit der Zukunft beschäftigen. Sein leichtes Hinken kaschierte er mit übermütigen Hüpfern. Er grinste übers ganze Gesicht.
Im City Hall Park setzten sie sich auf eine der kreisförmig angeordneten Bänke, die seit jeher von ihresgleichen bevölkert wurden. Sie hüllten sich enger in ihre alten Sachen und ließen die Stunden verrinnen, die für sie keine Bedeutung hatten.
Die dunklen Gestalten, die auf der Straße hin und her eilten, verschwammen ihnen zu einer unüberschaubaren Masse, die in ständiger Bewegung war und sich doch kaum veränderte. In ihren guten Kleidern schienen sie alle in wichtiger Mission unterwegs zu sein und hatten keinen Blick für die beiden Wandervögel auf der Bank. Sie führten dem jungen Mann vor Augen, wie weit er in diesem Augenblick von allem entfernt war, was er im Leben schätzte. Eine respektable Stellung in der Gesellschaft und die vielen Annehmlichkeiten des Lebens erschienen ihm wie ein fernes unerreichbares Königreich. Das Schauspiel auf den Straßen ließ ihn schaudern.
Die hoch aufragenden Gebäude waren für ihn Ausdruck einer Nation, die ihr Haupt zu den Wolken erhob und keinen Blick mehr dafür hatte, was sich in den Niederungen des Lebens abspielte. In ihrem Streben nach Höherem übersah sie die Elenden, die im Staub ihr Dasein fristeten. Das Brummen der Stadt erschien dem jungen Mann wie ein Gewirr aus fremden Sprachen, die zu einem unverständlichen Brei verschmolzen. Es klang wie das Klimpern von Münzen, wie die Stimme aller Hoffnungen, die in dieser Stadt keimten und die ihm nun hohl und leer erschienen.
Er bekannte sich als Ausgestoßener. Seine Augen, unter der herabgezogenen Hutkrempe verborgen, nahmen einen schuldbewussten Ausdruck an, als hätten ihn seine Überzeugungen auf verbotenes Gelände geführt.

Mit freundlicher Genehmigung des Pendragon Verlags
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