Michail Kononow

Die nackte Pionierin

Roman
Cover: Die nackte Pionierin
Antje Kunstmann Verlag, München 2003
ISBN 9783888973376
Gebunden, 288 Seiten, 21,90 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Andreas Tretner. In einem inneren Monolog, gespeist aus volkstümlicher Sprachlust, Wortspielen und Mutterwitz und durchsetzt mit dem Propagandajargon der dreißiger Jahre, erzählt Kononow die tragische Geschichte eines Mädchens aus Leningrad, das an die Kriegsfront gerät. Als Regimentsbraut leistet Motte "Dienst am Kollektiv". Das ist ihr Beitrag für den Sieg, für die Heimat und für Stalin, denn die Kämpfer werfen sich danach todesmutig ins Gefecht. Warum aber erschießt General Sukow so viele mutige Männer, die eigenen Soldaten? Auch das muss einen Sinn haben. Und so fängt Motte mit ihren Traumflügen an, um es herauszufinden, und sieht das Leid der Bevölkerung, das jeder Beschreibung spottet. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis Michail Kononows Roman, in Russland veröffentlicht werden konnte. Der "Große Vaterländische Krieg" war der letzte Mythos, den niemand angreifen durfte.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 21.10.2003

Der Autor, in Leningrad geboren und heute in Deutschland ansässig, verkörpert die Nabokov'sche Linie der zeitgenössischen russischen Literatur, zitiert Sonja Zekri die Literaturwissenschaftlerin Irina Prochorowa. Sein Roman ist noch ein Produkt der Perestroika-Zeit, weiß Zekri, aber es sollte dennoch zwölf Jahre dauern, bis das russische Publikum diese garstige Demontage einer der letzten überdauernden Kollektivmythen zu lesen bekam: dem russischen Sieg über die deutschen Angreifer im Großen Vaterländischen Krieg. Dass nämlich auch das Stalin-Regime viel zu den enormen Verlusten der Roten Armee und der russischen Bevölkerung beigetragen hat, wüsste heute jeder, so Zekri, doch geschrieben hätte es noch keiner. Und schon gar nicht so wie Kononow, der mit rabenschwarzem Humor das Schicksal eines vierzehnjährigen Mädchens verfolgt, die als Soldatenhure herumgereicht wird und dies als "Dienst am Kollektiv" beschönigt. Dieses Mädchen stellt für Zekri das Kondensat vieler mythischer Frauengestalten dar: ebenso Hure wie Heilige, Mütterchen Russland und ein bisschen Margarita a la Bulgakow, erkennt Zekri und fühlt sich zugleich an Fellinis Frauenfiguren erinnert.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.10.2003

Eine spezifische Rolle für die Frau sah der sowjetische Kommunismus nicht vor, schreibt die Rezensentin Katharina Granzin. Die herrschende Ideologie sah in der Frau ein eher geschlechtsloses Wesen, das sich jedoch auf "libidinöse" Weise der Arbeit hingab. Dass dem nun nicht mehr so ist, zeigt die Rezensentin an drei neueren russischen Romanen auf, die mit dem Klischee der sowjetischen Heldin aufräumen: Alexander Ikonnikows "Liska und ihre Männer", Michail Kononows "Die nackte Pionierin" und Svetlana Vasilenkos "Die Närrin". Michail Kononows "Nackte Pionierin", so die lobende Rezensentin, spielt zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Seine vierzehnjährige Hauptfigur Maria kämpft an der russischen Westfront gegen die Deutschen, sozusagen mit vollem Körpereinsatz: mit der Waffe einerseits, doch vornehmlich als Soldatenhure. Kononow erzählt Marias Geschichte gegen den Strich des kommunistischen Geschichtsbegriffs, nämlich rückwärts, ausgehend von ihrer Hinrichtung. Zudem, so die Rezensentin, fehle jegliche "tröstlich übergeordnete" auktoriale Erzählerinstanz, da sich Kononow auf Marias "Innenschau" beschränke. Je mehr die Erzählung voran-, das heißt zurückschreite, desto mehr zeige sich, wie wenig Marias Schicksal als "Regimentshure" selbstbestimmt ist, und wie sehr sie unter ihrem "körperlichen Ausgeliefertsein" leidet. In dieser "modernen Märtyrergeschichte", die den Archetypus der "heiligen Hure" aufgreife, die sowohl vom Feind als auch von den eigenen Leuten missbraucht wird, führe Kononow den Mythos der sowjetischen Heldin strikt "ad absurdum".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 10.09.2003

Maja Turowskaja hat einen "beeindruckenden" Roman um "eine hinreißende Figur mit Sowjetklischees und eigenem Wortwitz, mit kindlichem Wörterverdrehen und ehrlicher kindlicher Logik" gelesen, doch in der Figur der Motte Maria, Soldatin und Soldatenbraut, scheine noch viel mehr auf. Erstens breche die Geschichte einer 14-jährigen, die den Frontsoldaten sexuelle Dienste leistet, mit dem "blank geputzten Mythos" des "Großen Vaterländischen Krieges", zweitens verhandele der Text, versteckt und offen, eine ganze Tradition des sozialistischen Realismus, und drittens verkörpere Motte "Russlands ewig ungestillte Sehnsucht nach dem Westen". Liebloser Sex und wahre Liebe, heldenhafter Kampf um die Heimat und schierer Krieg - das vereine sich in der Hauptfigur dieses Romans, der bereits während der Perestroika geschrieben wurde und erst vor zwei Jahren erstmals veröffentlicht wurde - "mit großer Verspätung, aber keinesfalls zu spät".