Martin Walser

Leben und Schreiben

Tagebücher 1963-1973
Cover: Leben und Schreiben
Rowohlt Verlag, Reinbek 2007
ISBN 9783498073589
Gebunden, 666 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Der zweite Band der Tagebücher von Martin Walser beginnt 1963, nicht lange vor der Eröffnung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Martin Walser besucht die Gerichtsverhandlungen, hält Eindrücke fest, protokolliert das Furchtbare, es entsteht der Aufsatz "Unser Auschwitz". Reisen nach Moskau, Erewan, Tibilissi und Trinidad, aber auch Reisen kreuz und quer durch Europa werden zum Schreibanlass. Und immer wieder das Schreiben selbst: "Erzählen - der Versuch, mit geschlossenem Mund zu singen."

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 24.11.2007

Martin Walsers Tagebücher sind vor allem "Arbeitsbücher", macht Rezensent Alexander Cammann deutlich, Textentwürfe finden sich neben Gedichten und Prosaskizzen. Einige Szenen haben Cammann erheblichen Lektürespaß verschafft, etwa wenn Walser davon erzählt, wie er mit seinem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt durch die Bordelle von St. Pauli zog. Dann wiederum liest er mit Erschütterung Walsers Aufzeichnungen zum Auschwitz-Prozess. Und er registriert fast staunend, wie genau Walser hingesehen hat (während er heutzutage für Cammanns Geschmacks zu lautstark sein Bedürfnis zum Wegschauen ausdrückt). Insgesamt verdankt Cammann den Tagebüchern ein Näherrücken der frühen Bundesrepublik, aber auch intime Einblicke in die Prozesse des Schreibens.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2007

Auf angenehme Weise irritiert fühlt sich Rezensent Jochen Hieber beim Lesen des Walserschen Tagebuchs. Ihm gefällt es, dass bei vielen Notizen unklar sei, wer spricht, der Autor oder einer seiner (zukünftigen) Romancharaktere. Eine gewisse Ambivalenz entdeckt er im Verlauf der Lektüre auch beim Autor selbst, der hier sowohl Privatmensch, aber immer auch bewusst öffentliche Figur sei. Hieber betrachtet das Jahrzehnt 63-73 auf seine politischen Koordinaten hin und stellt fest, dass Walser sich, trotz großmundigen Linksseins, oft nur "durchlaviert" habe und immer mal mit sich im Krieg darüber sei, wo er eigentlich stehe. Neben "Kritikerbeschimpfungen" und Notizen voller Schriftsteller- und Freundeskrächen sei dann auch schon das Deutschlandthema sichtbar. Aber so richtig dolle kann der Rezensent, so scheint es, sich nicht erwärmen; vielmehr zieht Hieber zur Klärung vieler Zusammenhänge und Details des Walserschen Lebens  die von Jörg Magenau 2005 geschriebene Walser-Biografie vor. - Von "unverstellter, elementarer Wucht" aber seien die etwa zwanzig Seiten "Totenklage" über die 1967 gestorbene Mutter. Sie lohnen, so der Rezensent, in jedem Fall die Lektüre.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 10.10.2007

Für Rezensent Arno Widmann ist die herausragende Eigenschaft dieser Tagebücher die Präsenz ihres Autors darin. Deswegen hat ihn auch weniger interessiert, was Martin Walser im und zum Signaljahr 1968 zu sagen hatte, als seine Selbstauskünfte in Sachen Beobachtungslust, Aufschreibwut und literarischen Arbeitsweisen. Natürlich liest Widmann dann doch interessiert Walsers Bemerkungen zum Vietnamkrieg, den Studentenprotesten und seine Kritik an der Radikalität des SDS, freut sich am Ende aber doch am meisten über Walsers Ausführungen über das Kunstmachen und den Künstler an sich.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.10.2007

Eigentlich hält Dieter Borchmeyer diesen zweiten Band von Martin Walsers Tagebüchern für unrezensierbar. Zu sehr sieht er sich hier mit dem "Seelenspiegel" Walsers konfrontiert, in dem Historisches und Privates fast ganz fehlen. Was Walser stattdessen aufschreibt, kommt Borchmeyer mitunter wie ein Gang durch Walsers Romanfiguren-Kabinett vor. Ist das noch Walser, der spricht? fragt er sich des öfteren und ist sich sicher, dass hier jedenfalls ohne konkreten Adressaten und ohne Selbstzensur einfach "hingeschrieben" wurde. Borchmeyer gefällt das ganz gut so. Und bei den Aufzeichnungen zum Auschwitz-Prozess hält er das "Mitstenografierte" nicht nur für aufschlussreich, sondern für höchst bedrängend, gerade weil Walser jeder "Betroffenheitsattitüde" entsagt. Zusammen mit dem "sparsam-kundigen Sachkommentar" von Jörg Magenau ergibt der Band für ihn ein "fesselndes" Dokument.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 04.10.2007

Jochen Jung entdeckt im zweiten Band der Tagebücher von Martin Walser mit Notaten, Skizzen und Entwürfen aus den Jahren zwischen 1963 und 1972 den Autor von einer ganz anderen, sehr "verletzlichen" Seite und findet, dass durch die Tagebuchlektüre auch das literarische Werk verständlicher wird. Der Rezensent empfiehlt, Walsers Nachwort zuerst zu lesen, es enthalte nämlich eine Leseanleitung, was den Autor zum Schreiben treibt und wie er verstanden werden will. Eine Begegnung oder eine Situation muss laut Walser einen "Sprachreiz" beinhalten, der zur Schreibproduktion animiert. Dieses Nachwort ist Jung der beste Ausweis von Walsers intellektueller Brillanz und es erklärt wohl auch, warum häufig so vieles wie die Begegnung mit berühmten Kollegen, Zeitgeschichtliches und Familiäres in den Tagebüchern über bloße Nennung von Namen und Daten nicht hinausgeht. Im Mittelpunkt von Walsers "Leben und Schreiben", so der Rezensent überzeugt, stehe Walsers "Wunde", geschlagen durch seine Erfahrungen als Soldat der Wehrmacht, die ihn immer wieder mit Selbstzweifeln und Verzweiflung schmerze, sich letztlich aber als überaus produktiv erweise. In seiner ganzen "Unberechenbarkeit", die sich auch in den Tagebüchern niederschlägt, verbreitet Walser auf jeden Fall keine Langeweile, versichert Jung, der diesen Band als "starken Gewinn" für den passionierten Walser-Leser preist.