Johannes Fried

Der Schleier der Erinnerung

Grundzüge einer historischen Memorik
Cover: Der Schleier der Erinnerung
C.H. Beck Verlag, München 2004
ISBN 9783406522116
Gebunden, 512 Seiten, 39,90 EUR

Klappentext

Das Gedächtnis trügt. Erinnern und Vergessen sind grundlegende Prozesse menschlichen Lebens. Sie sind damit zugleich entscheidende, bisher aber kaum beachtete Faktoren für das Zustandekommen der Mehrzahl historischer Quellen. Johannes Fried konfrontiert deshalb die Ergebnisse der modernen Gedächtnis- und Hirnforschung mit ausgewählten Beispielen aus der Geschichte, um den Schleier der Erinnerung zu lüften. Der Frankfurter Historiker Johannes Fried erläutert in diesem Buch die Ergebnisse moderner Kognitionswissenschaften und konfrontiert sie mit ausgewählten Beispielen der modernen und mittelalterlichen Geschichte. Sein Ergebnis: Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen; unbewusst konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 27.01.2005

Johannes Fried hat sich "viel" vorgenommen, weiß Rezensentin Elisabeth von Tadden. Der "renommierte" Frankfurter Historiker versucht in seinem Buch, Geschichte durch "die Brille von Kognitions- und Neurowissenschaften" zu erfassen. Fried weise auf der Basis einer ganzen "Bibliothek von neueren Forschungen" der Neurophysiologie nach, dass das Gedächtnis den Menschen prinzipiell trügt und jede Geschichtswissenschaft folglich zunächst eine umfassende Kritik des Gedächtnisses vornehmen muss, um objektive Wahrheiten zu erhalten. Diese Grundidee hält auch die Rezensentin für "wohlbegründet", vor allem aufgrund der zahlreichen "abgründig köstlich" vorgetragenen Beispiele. Doch wenngleich sie dem Autor die "Gründlichkeit eines Botanikers" in der Exempelsuche gerne attestiert, sieht sie eine zentrale Frage unbeantwortet: Kann man die Täuschung des individuellen Gedächtnisses tatsächlich gleichsetzen mit der "kollektiven historischen Scheinrealität"?

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 30.11.2004

Beeindruckt zeigt sich Michael Hagner von Johannes Frieds Studie "Grundzüge einer historischen Memorik", in der er die notorisch unsichere Situation der Überlieferungen grundsätzlichen gedächtniskritischen Überlegungen unterwirft. In "minutiös ausgefeilten Analysen" verdeutliche Fried, den der Rezensent als ausgewiesenen Spezialisten für das Frühmittelalter schätzt, die konstruktive Verformungsarbeit des Gedächtnisses. Demnach irrten auch seriöse Mediävisten, wenn sie von der Glaubwürdigkeit und Invarianz des Gedächtnisses, das den erzählenden Quellen zugrunde liege, ausgingen. Insofern sieht Hagner in Frieds Buch auch einen überzeugenden methodenkritischen Leitfaden für Historiker. Der Anspruch des Autors sei jedoch ambitionierter. Es gehe ihm um eine "neurokulturell orientierte Memorik", die einen gleichberechtigten methodischen Zugang neben Geistes-, Sozial- oder Kulturgeschichte zur Erforschung der Vergangenheit bilden soll. "Geschichte soll um Gedächtniskritik bereichert werden, die sich ihre Axiome aus den kognitiven Neurowissenschaften ausborgt, um zu zeigen, dass naive Realitätsgläubigkeit und die Annahme stabiler Gedächtnistraditionen keine guten Ratgeber für Kulturwissenschaftler sind", erklärt Hagner. Dass Fried als Kulturwissenschaftler die Neuro- und Kognitionswissenschaften einbezieht, findet der Rezensent "durchaus erfreulich". Für "fraglich" hält er allerdings, ob man den aktuellen Forschungen dieser Wissenschaften mehr vertrauen sollte, als es diese selbst tun. Nichtsdestoweniger zollt er dem Autor seine Anerkennung dafür, dass er einen "großen Wurf" gewagt habe, auch wenn unklar sei, wo der Ball landen werde.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 10.11.2004

Rezensent Ludolf Kuchenbuch schätzt den Mediävisten Johannes Fried als erbarmungslosen Demonteur geltender Gewissheiten. Bereits in verschiedenen Fallstudien hat Fried gute Gründe dafür vorgebracht, dass zum Beispiel Barbarossa nicht vor Heinrich dem Löwen auf die Knie gegangen ist oder dass Gregor der Große den heiligen Benedikt gar nicht gekannt haben kann. In seinem neuen Buch "Die Schleier der Erinnerung" präsentiert Fried nach Darstellung des Rezensenten nun all jene narrativen Zeugnisse präsentiert, für die die objektivierende Kontrollerinnerung fehlt: angefangen bei Herodot und Thukydides über noble und gentile Genealogien bis hin zu den Sagen der Gebrüder Grimm - die halbe Weltgeschichte gehört für Fried auf den Prüfstand. Auch wenn Rezensent Kuchenbuch die Fallstudien in diesem Buch für das Beste an diesem Buch hält, hat er auch die Passagen mit Gewinn gelesen, in denen Fried psychologisch, neurobiologisch und neurophysiologisch erklärt, wie Gedächtnis, Erinnerung und Überlieferung funktionieren. Als Fazit hat er dem Buch eine wichtige Regel entnommen: "Traue keinem wie immer narrativen, ob mündlich geäußerten oder schriftlich niedergelegten einzelnen Zeugnis zu, etwas Verlässliches über 'wirklich' Gewesenes zu sagen."

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.10.2004

Dieses Buch ist "ein bahnbrechender Beitrag zur kritischen Historie", urteilt Rezensent Jan Assmann über Johannes Frieds Studie "Der Schleier der Erinnerung", denn Fried ergänze die Historie "um eine Gedächtniskritik". Er greift den Ansatz der (von der sogenannten "false memory"-Debatte in Gang gebrachten) psychologischen Gedächtnisforschung auf und überträgt ihn auf die Geschichtswissenschaft, in der er 18 "Verformungskräfte" des individuellen sowie "kulturellen Gedächtnisses" diagnostiziert, informiert unser Rezensent. Dabei greife Fried nicht nur auf die Ergebnisse der psychologischen Gedächtniskritik zurück, die von einer grundsätzlichen Unzuverlässigkeit der Erinnerung ausgeht, sondern auch auf neueste Hirnforschung, aus der hervorgehe, dass die Bilder der Erinnerung nicht statisch - und daher abrufbar - seien, sondern immer neu generiert werden, und somit auch - immer neuen - Veränderungen unterworfen seien. Zwar ist Assmann der Meinung, dass Fried in seinem Plädoyer gegen die Verlässlichkeit des Gedächtnisses manchmal zu weit geht, und dass er eine zu radikale "Parallelisierung von Gehirn und Kultur" vornimmt, doch wird eines klar: In Frieds "Grundlegung neurokultureller Forschung", die von "kulturellen Semantiken" ausgeht, denen die Geschichtswissenschaft korrigierend begegnen müsse, erblickt Assmann ein "neues interdisziplinäres Paradigma".