Fernando Vallejo

Der Abgrund

Roman
Cover: Der Abgrund
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783518416556
Gebunden, 190 Seiten, 19,80 EUR

Klappentext

Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Der Abgrund ist unauslotbar. In den Abgrund zieht es alles. So tritt uns dieser kolumbianische Roman entgegen: als Requiem, das zur Himmelundhöllebeschwörung gerät. Als sein geliebter jüngerer Bruder Dario - homosexuell wie er, sorglos, verschwenderisch - an Aids dahinstirbt, kehrt Fernando heim nach Medellin in das Haus seiner Eltern. Am Lager des Kranken tritt er eine Reise an in eine hoffnungsvollere Vergangenheit, von der nichts als Tote übriggeblieben sind. Der Schmerz über den Zustand des Bruders und den Verlust des Vaters, dem Fernando selbst das tödliche Serum gespritzt hat, als er nicht leben und nicht sterben konnte, weitet sich zur Wut über die allgegenwärtige Verrohung und Verrottung - und die Wut kippt um in die Komik der Prinzessin auf der Erbse, in die Lust der zügellosen Übertreibung. Der Abgrund ist ein autobiographischer Roman mit schamlos unverstelltem Ich, ein furioses Ein-Mann-Stück, das zur Zwiesprache mit dem Leser wird.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.06.2005

Gabriele Killert zeigt sich schon ein bisschen beeindruckt von diesem "schlaksigen und sentimentalen Rap", den der in Mexiko lebende kolumbianische Autor Fernando Vallejo über sein Heimatland verfasst hat. Ein schwuler, 60-jähriger, schriftstellernder Ich-Erzähler, der nicht zufällig große Ähnlichkeiten zu Vallejo aufweist, liegt "angeblich" auf einer Analytiker-Couch und leistet "Trauerarbeit", erklärt die Rezensentin. Sein über alles geliebter Vater und sein Lieblingsbruder sind gestorben und er lässt seiner Trauer und seinem Hass auf die Mutter und das heruntergekommene Land freien Lauf, so Killert weiter, die sich vor allem bei den Schimpftiraden auf Kolumbien an Elfriede Jelineks Österreichverdammungen erinnert sieht. Immerhin findet die Rezensentin den "bitteren Humor" des Autors "frischer, romantischer" als den seines österreichischen Pendants. Zudem preist sie die "elegante" Komposition dieses "launigen und lausigen Stücks Rollenprosa". Alles in allem aber ist ihr das für einen ganzen Roman zu wenig, und sie gesteht, dass eine "wirklich ergreifende, produktive Anklage" mit derlei "Schimpfsprache" nicht entsteht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 15.03.2005

Nico Bleutge hat mit Fernando Vallejos Roman einen "sprachlichen Tobsuchtsanfall" erlebt, dessen Wirkung allerdings nicht lange anhält: nach der letzten Seite ist alles recht schnell "verpufft". In einer "Beschimpfungsorgie" rechnet der Autor "munter" mit allem ab, was ihm nicht heilig ist: die kolumbianische Heimat ebenso wie die Familie. Das nimmt beachtliche Ausmaße an, staunt Bleutge. "Wenn er seine Fäkalapparatur richtig aufdreht, fangen sogar die Kokablättchen an zu zittern." Angenehm falle dabei auf, dass Vallejo selbst sich von seinem Rundumschlag nicht ausnimmt. Störender dagegen sind die Versuche, zwischendurch noch eine richtige Geschichte zu erzählen. Die Vermittlung zwischen diesen "feineren Tönen" und den "sprachlichen Brachialattacken" scheitere auf der ganzen Linie.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2004

Ginge es nach Kersten Knipp, hätte der Text dieses Buches nach dem Umschlagbild schon wieder zu Ende sein können. Es zeigt den Autor als kleinen Jungen in einer Szene, die Wehmut nach der Vergangenheit auslöst und ein schönes Gefühl der Ruhe. Dann beginnt man zu lesen, und es geht los: eine "rasende Rhapsodie nach vorne", ein "Brachialkonstrukt", ein Zeugnis enthemmter Wut und nicht viel mehr. Mag sein, so Knipp, dass Fernando Vallejo gute Gründe für seinen Hass hat: Seine Heimat, Kolumbien, ist seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr, was sie in seiner frühen Kindheit war - die Ruhe des Bildes ist damals der Gewalt gewichen, die seitdem nicht mehr innehielt. Es ist also vielleicht verständlich, dass hier keine gelungene Sprachkomposition erklingt, sondern nur ein "böses Crescendo" - aber es ist nicht gut. "Denn der Schatten auf dem Land rechtfertigt längst noch keinen verschatteten Text, die Trostlosigkeit der Wirklichkeit muss nicht noch durch die der Literatur gesteigert werden. Literatur ist mehr als Abbild. Und jetzt - silencio.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2004

Zu Beginn steht die Warnung, dieses Buch komme über den Leser herein wie eine "literarische Sturzflut", am Schluss klingt die Besprechung in einer berückten Empfehlung aus. Andreas Breitenstein ist fasziniert von Fernando Vallejos "Meisterwerk der literarischen Misanthropie", eine Litanei über Kolumbien, alles Schlechte dort und alles Schlechte auf der Welt überhaupt. Der Ich-Erzähler monologisiere über den Verfall seiner Heimat, über Aids, Drogen, Verwahrlosung und so fort, über den "Wahnsinn des Menschlichen". Eine Handlung hat Breitenstein nur in Fragmenten ausmachen können, der Stil sei "hochartifiziell" und der Erzähler widerspreche sich ständig selbst. "Es ist, als wär's ein Stück von Thomas Bernhard." Vallejo wechselt ständig die Textarten, um der Langweile vorzubeugen, wie Breitenstein anerkennend bemerkt. Der "Erzählstrom" komme mal als Suada, mal als Loblied, mal als "Gebetsparodie" oder Dialog mit dem Leser daher. Und obwohl das "Zornige" im Ton überwiegt, vernimmt der Rezensent hier und da auch "zärtliche Weisen". Kurz: alles dran, alles drin. Der begeisterte Breitenstein huldigt dem Künstler und verbeugt sich vor Vallejos Roman, diesem "theologischen Traktat über die Gleichgültigkeit Gottes angesichts des Bösen".