Maria Stepanova

Nach dem Gedächtnis

Roman
Cover: Nach dem Gedächtnis
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
ISBN 9783518428290
Gebunden, 527 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.  Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma verschmilzt die Stimme der Autorin zu einer  essayistischen Erzählung. Im Zentrum steht eine weitverzweigte jüdische-russisch-europäische Familie von Ärzten, Architekten, Bibliothekaren, Buchhaltern und Ingenieuren, die in unzivilisierten, gewaltgeprägten Zeiten ein stilles, unspektakuläres Leben führen wollten. Maria Stepanova durchmisst einen Gedächtnisraum, in dem die Linien des privaten Lebens haarscharf an den Abbruchkanten der Epochenlandschaft entlangführen. Sie sichtet Dinge aus "der Bibliothek einer anderen, untergegangenen visuellen Kultur", hinterlassen von Menschen, die sich wenig Mühe gaben aufzufallen: "Bei allen anderen bestand die Familie aus Teilnehmern der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern" Prädestiniert, Opfer von Verfolgung und Repressionen zu werden, haben alle ihre Verwandten es geschafft, die Schrecken des 20. Jahrhundert zu überleben. Wie war das möglich?

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 20.04.2019

Rezensent Uli Hufen versteht, dass die Erinnerung an ein Jahrhundert deutsch-russischer Familiengeschichte für Maria Stepanova ein höchst brisantes und schwer zu greifendes Unterfangen ist, weshalb die Autorin in ihren Essays seiner Meinung nach zurecht umfassend die derzeitigen philosophischen Diskurse zu Erinnerung und Geschichte reflektiert. Dass die Dichterin dabei außerdem einen äußerst poetischen Blick auf die Welt wirft, stört den Kritiker an sich auch nicht. Allerdings beschleicht Hufen bei der Lektüre zunehmend der Verdacht, dass Stepanova über ihren "endlosen Strom der melancholischen, lebensklugen Beobachtungen" doch die Einzelschicksale ihrer Familienmitglieder ein wenig aus dem Blick verliert, um die es ihr doch eigentlich geht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 27.02.2019

Rezensentin Katharina Granzin gibt sich zufrieden mit dem Bruchstückhaften in Maria Stepanovas Erinnerungen. Der Versuch der Autorin, anhand von Briefen, Fotos und Recherchereisen eine wenig spektakuläre Familiengeschichte zusammenzusetzen und Einzelschicksale zu erkennen, bekommt für Granzin gerade durch die immer von Stepanova mitgedachte Vergeblichkeit des Unterfangens, Verlorenes zu bewahren, seinen Reiz. Das beherzte "Trotzdem", das Granzin aus dem Text entgegentönt, scheint ihr zu gefallen, auch wenn die Autorin nicht auf Vollständigkeit aus ist und das Fantasieren sein lässt, wo die Wirklichkeit nicht mehr zu rekonstruieren ist.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.01.2019

Rezensent Andreas Breitenstein hält Maria Stepanovas jüdisch-russische Familiengeschichte aus literarischen Erzählungen, Reflexionen zu Erinnerungsstücken und Berichten über ehemalige Heimatorte der Familienmitglieder für ein genialisches "Großereignis": Auf der einen Seite zeige Stepanova, dass ihre Nachforschungen immer wieder unüberwindbare Leerstellen aufdecken. Auf der anderen Seite verhelfe sie gerade mit ihrer detailreichen und intelligenten Ahnenforschung den enttäuschten Hoffnungen ihrer Familie doch noch zu Leben, denn dass ihre Vorfahren sowohl den Sowjetkommunismus als auch die beiden Weltkriege fast unbeschadet überstanden haben, führt der Rezensent nach der Lektüre auf ihre Bemühungen zurück, auch auf Kosten ihrer Wünsche unauffällig zu bleiben. Diesen spürt die Autorin dem Rezensenten zufolge nun nach und deckt dabei auf, dass auch die heutige Selfiewut keine objektive Erinnerung ermöglicht, denn in ihrer Selbstbezüglichkeit können diese Fotos ihre Zeit nicht spiegeln - was "Nach dem Gedächtnis" hingegen laut Kritiker auf ästhetisch äußerst ansprechende Weise gelingt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.01.2019

Wiebke Porombka lernt bei Maria Stepanova die Ambivalenzen des Erinnerns und Aufschreibens kennen. Der laut Rezensentin mit allerhand Skrupeln behaftete erzählerische Essay über die jüdisch-russische Familie der Autorin und die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird zu einer Erkundung des Erinnerns selbst, die Porombka nicht zuletzt an die prekäre Erinnerungskultur in Russland gemahnt. Eine gewisse Lust an diesem Prekariat meint die Rezensentin bei der Autorin auszumachen, wenn Stepanova Dokumente, Briefe, Erzählung und Reflexion mischt und anhand von Familienmitgliedern das Für und Wider der schreibenden Erinnerung abwägt. Die Figuren selbst aber drohen der Leserin darüber verlorenzugehen, fürchtet Porombka.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 17.12.2018

Insa Wilke feiert den erzählenden Essay von Maria Stepanova als Chance, die Autorin bei einer mit Details aus ihrer Familiengeschichte gespickten Selbstreflexion zu begleiten - in die Welt der Toten und zurück. Nicht weniger als den Abstand zwischen dem Recht auf Erinnerung und dem auf Vergessen misst die Autorin laut Wilke aus, bildstark die Heldinnen des Alltags aus ihrer Genealogie vorstellend, mittels Briefen und Tagebucheinträgen das Verhältnis der Lebenden und der Toten erkundend. Dass die russische Autorin damit gegen den verordneten Gedächtnisverlust in ihrem Land vorgeht, erfüllt Wilke mit Bewunderung. Stepanovas Reflexionen über den Missbrauch der Vergangenheit überzeugen Wilke hingegen nicht. Hier schreibt die Autorin zu wort- und metaphernreich und eher unklar, meint die Rezensentin. Insgesamt aber ein sinnvoller, lesenswerter Ansatz zum Thema Erinnerung, findet sie.
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