Redaktionsblog - Im Ententeich

Kunst war eh nie frei

Von Thekla Dannenberg
06.05.2015. In der Berliner Ringvorlesung zur "Freiheit der Kunst" umriss Heinz Bude die Konturen einer neuen postsäkularen und vielleicht sogar postdemokratischen Ordnung: In dieser neuen Welt muss Kunst Respekt üben.
Kurz bevor gestern Abend Charlie Hebdo vom amerikanischen PEN der Freedom of Expression Courage Award ausgezeichnet wurde, sprach in Berlin der Soziologe Heinz Bude über "Die Freiheit der Kunst und Grenzen der Freheit" und Grenzen der Kunst. Die Ringvorlesung wurde nach dem Attentat von Paris initiiert, und deshalb ging es bei Budes Vortrag natürlich auch um die New Yorker Auszeichung und die immer hitziger werden Debatte nach der Kritik durch Teju Cole, Francine Prose, Michael Ondaatje und mittlerweile 200 anderen Autoren.

Der Hörsaal war voll, versammelt hatten sich eher die Lehrenden als die Studierenden. Dabei hatten es Budes Ausführungen durchaus in sich. Denn in ihnen verabschiedete Bude mit den Mitteln des Pop-Diskurs so beiläufig wie mitleidlos den Universalismus. Bude wollte die Debatte um Charlie Hebdo nicht als Missverständnis zwischen Frankreich und den USA abtun, auch wenn er zurecht noch einmal darauf verwies, dass den USA der kämpferische Antiklerikalismus fremd ist. Sie sind das Land, in denen sich die Benachteiligte immer in religiösen Gemeinschaften zusammengefunden hätten. Von Martin Luther King bis Malcolm X. Und noch Curtis Mayfield habe gesungen: "Move on up."

Bude machte klar, dass der Anschlag auf Charlie Hebdo einen "kritischen Augenblick in der neuen Weltgesellschaft" kennzeichnet. Diese neue Weltgesellschaft bezeichnete er als postsäkular, postmigrantisch, postpermissiv und "vielleicht sogar postdemokratisch". Auf jeden Fall sei es eine dezentrierte Gesellschaft, in der es zunehmend schwieriger werde, Konflikte der Sozialisation auszutragen. Bude rekurrierte dabei vor allem auf den französischen Soziologen Luc Boltanski und seine Grammatik der Rechtfertigung, derzufolge Legitimität entweder in einer Ordnung der Bürgerlichkeit (des Staates, der Toleranz), der Tradition (des Hauses, des Erbes) oder der Inspiration (der Religion, der Kunst) gesucht werde. In gegenläufigen Bewegungen nähern sich nun einerseits in der Welt der Toleranz die verschiedenen Communities einander an, man nimmt sich wahr, zeigt Verständnis, während sie sich zugleich in der Welt der Autorität voneinander entfernten.

Mit dem britischen Soziologen T. H. Marshall und seinem Essay "Citizenship and Social Classes" (mehr hier) verwies Bude auf die Evolution der Freiheitsrechte, die sich von bürgerlichen zu staatsbürgerlichen und schließlich zu sozialen Rechten entwickelt hätten. Das heißt, nicht nur ihr Schwerpunkt habe sich immer wieder relativiert, sondern auch ihr Absolutheitsanspruch. Soziale Teilhabe habe schon immer die Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte mit sich gebracht. Mit dem Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen erklärte Bude schließlich die Communities zu den zentralen Referenzrahmen, in denen sich gesellschaftliche Selbstvergewisserung manifestiere, um auf die Freiheit der Kunst zu kommen. Ganz davon abgesehen, dass in Budes abgeklärter Sicht die Kunst eh nie frei war, sondern immer abhängig von Markt und Macht, war seine zentrale Aussage jedoch, dass heute über Kunst gar nicht mehr in einer gemeinsamen Sphäre diskutiert werden kann, sondern nur in einer Gesellschaft verschiedener Communities: "Muss sich Kunst daher nicht die Frage des Respekts gefallen lassen?"

Bei der Blasphemie war für Bude gar nicht mehr die Frage, ob diese überhaupt geahndet werden kann und muss, sondern nur noch, wer für die Verfolgung zuständig sei. Mit viel Verve legte er den Unterschied zwischen horizontalem und vertikalem Gottesbezug dar. Ein horizontal strukturiertes Christentum könne die Blasphemie vom Staat ahnden lassen, während im vertikalen Islam der Gläubige selbst und direkt zuständig sei. Dass man, wie Frankreich es tut, Blasphemie einfach gar nicht ahndet, weil sich religiöse Dogmen - anders als Menschen - angreifen lassen müssen, stand nicht zur Debatte.

Bude räumte immer wieder ein, dass er das alles noch nicht zu Ende gedacht habe, einiges war widersprüchlich an seinem Vortrag, anderes improvisiert. Aber er bekannte seine Sympathie für die Kritiker von Charlie Hebdo, vor allem für Teju Cole, der mit seiner "Poetik der Wut" in "Open City" den Leuten etwas entgegensetzen wolle, die sich ständig angegriffen fühlten. Womit er die weißen Männer des Westens meint. Wie wenig Bude dagegen mit dem anarchistischen Geist von Charlie Hebdo anfangen konnte, zeigte sich auch daran, dass er den berühmten Satz von Chefredakteur Charb, er wolle "lieber aufrecht sterben als auf Knien sterben", fälschlich dem Zeichner Wolinski zuschrieb.

Budes Vortrag stieß nicht nur auf Gegenliebe. Der mit Stirnrunzeln moderierende Literaturwissenschaftler Hans Richard Brittnacher wollte die Freiheit der Kunst doch nicht so Weiteres aufgeben und bekannte sich zum Idealismus des 18. Jahrhunderts, konnte aber die versammelte Professorenschaft nur mühsam zu kritischen Nachfragen ermuntern. Es war erschütternd, wie wenig Protest sich an einer Universität rührt, wenn der Universalismus, das Individuum und die Freiheit der Kunst fallen gelassen werden.

Ein Nachfrage bezog sich auf die "neue Weltgesellschaft", die in Budes Replik prompt zur englischsprachigen Wahrnehmungswelt westlicher Intellektueller schrumpfte. Eine Frage nach der demokratischen Verfasstheit von Communities machte Bude - eher unabsichtlich - mit seiner Replik umso dringlicher, dass zum Beispiel der Antisemitismus auf den Schulhöfen durchaus gewissen Codes und Regeln folge. Aber wie sehen die aus und wer legt sie fest? Das Großmaul in der Raucherecke?

Bude geht Streit nicht aus dem Weg, er wagt sich aus der Deckung und scheut nicht die Provokation. Manchmal kann er mit einem einzigen Nadelstich ganze Vorstellungswelten zum Platzen bringen, etwa wenn er der verarmten Berliner Bohème an den Kopf wirft: "Kreativität ist was für Vollidioten." Schmerzlicher wird es, wenn er dabei auch Dinge vom Tisch wischt, die mehr Bedeutung haben als die Selbstbilder und das Stadtmarketing in Berlin. Auf den Einwand, ob Respekt als Kategorie in der Kunst wirklich an die Stelle der Kritik rücken solle, antworte er mit einer Nonchalance, die einen frösteln ließ: "Der Künstler, der sich auf die bürgerlichen Freiheitsrechte beruft, ist ja ein bisschen doof."

Thekla Dannenberg