Warum verehren heute wieder so viele Russen Stalin? Wie arbeiten die ehemaligen Sowjetrepubliken den Stalinismus auf? Über diese Fragen diskutierten gestern abend in der Heinrich-Böll-Stiftung die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, der Georgier Lascha Bakradse und die Russen Arsenij Roginskij und Andrei Sorokin. Der Abend war ein weiterer Höhepunkt des bisher schon so reichen Internationalen Literaturfestivals Berlin.

"Die Luft ist schwer zu atmen geworden", sagte der Moskauer Historiker Andrei Sorokin, der 1991 den Verlag Rosspen gegründet hatte, um in Zusammenarbeit mit der Organisation Memorial in einer hundertbändigen Reihe die entscheidenden Dokumente und Schriften zur Geschichte des Stalinismus zu veröffentlichen. Wie Sorokin in seinem Eingangsstatement erklärte, ist nicht unbedingt die Verdrängung des Stalinismus das Problem in Russland, auch wenn tatsächlich die Bemühungen um die historische Erforschung und den wissenschaftlichen Diskurs zunehmend torpediert würden. Das weitaus gravierendere Problem sei die positive Verklärung Stalins nicht nur in Fernsehserien, sondern auch in Schulbüchern. 1989 sahen nur 18 Prozent der Bevölkerung in Stalin einen Wohltäter des russischen Volkes, berichtet Sorokin, 1998 waren es bereits 36 Prozent und heute sind es über 50 Prozent. Da könne man nicht einmal mehr von einem mythologischen Stalin-Bild sprechen, das sei eher ein zoologisches, gibt Sorokin seiner Fassungslosigkeit Ausdruck.

Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, die in ihren Porträts das Wesen des roten Menschen zu ergründen versucht, musste aus Weißrussland Ähnliches berichten. Zu Beginn der Perestroika hätte sie niemals geglaubt, dass es möglich wäre, Stalin nicht zu verfluchen. Aber heute? "Wir leben in einem totalitären Staat und haben einen kleinen Stalin bei uns." Doch die zunehmende Verklärung Stalins gehe nicht allein von den russischen und weißrussischen Machthabern aus, Stalin sei auch unter Intellektuellen kein Thema. Vor allem aber wollen die Menschen Stalin normalisieren. Alexijewitsch berichtet von einem Mann, der zehn Jahre lang im Gulag in Kolyma verbracht habe, aber keinerlei Bitterkeit gegenüber Stalin empfinde, sondern mit nostalgischen Blick auf die große Zeit der Sowjetunion zurückblicke: "Damals waren wir stark, heute zwicken sie uns in den Hintern." Und sehr frappierend auch, was Alexijewitsch von einer Frau zitiert, die den großen Schlächter zurückhaben will: "Wir brauchen Stalin gegen die korrupte Nomenklatura." Für Alexijewitsch teilt sich die Gesellschaft schon lange nicht mehr wie einst in Solschenizyn-Anhänger und Solschenizyn-Gegner, sondern in einige wenige Sieger und viele, viele Verlierer. Alles wie früher also, nur dass Stalin auch unter den höheren Kasten aufräumte.

Der georgische Historiker Lascha Bakradse bemühte sich, Vorstellungen zu zerstreuen, nach denen alle Georgier ihren berühmtesten Landessohn verehren. Wozu Stalin fähig war, das habe zuerst und sehr leidvoll die georgische KP erfahren und entsprechend vor ihm gewarnt. Aber, ja, tatsächlich seien die so lange von der Sowjetunion beherrschten Georgier auch ein bisschen stolz darauf, dass derjenige, der Sowjetunion beherrschte, ein Georgier war. Interessant auch, wie Bakradse die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in Georgien und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken einschätzte: Diese Länder errichteten sich gewaltige Okkupationsmuseen, gründeten ihre politische und nationale Identität in der Abgrenzung zum Stalinismus und zu Russland, betrieben aber kaum eine ernsthafte historische Forschung zur eigenen Geschichte. Vor allem nutzten viele neue Nationen und ihre Eliten die Auslagerung historischer Verantwortung nach Russland dazu, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen.

Die "nationale Identität" war auch für den Historiker und Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Memorial, Arsenij Roginskij, das entscheidende Stichwort zur Erklärung von Stalins Renaissance in Russland. Worauf sollten denn die Russen heute stolz sein? Worauf die nationale Identität gründen? Woran historisch anknüpfen? Boris Jelzin hatte keine Antwort auf diese Fragen. Wladimir Putin dagegen, der den Zerfall der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhundert" nennt und die glorreichen Zeiten der Sowjetunion beschwört, hat sie: "Ihr seid Sieger". Die Verherrlichung des Sieges im Zweiten Weltkrieg geht nicht ohne Verherrlichung Stalin. Damit, meinte Roginskij, habe Putin einen Geist aus der Flasche gelassen, der sich allmählich gegen ihn selbst richte, weshalb inzwischen auch Präsident Medwedjew wieder Stalins Verbrechen in den Mittelpunkt rückt: Auch Kommunisten und Nationalisten berufen sich in Russland auf Stalins Vermächtnis und benutzen ihn, um Putin als Papiertiger darzustellen: "Stalin war ein echter Kämpfer - was tut Putin? Stalin hat korrupte Beamte umgebracht - was tut Putin?"

Allerdings setzte Roginskij viel daran, die düstere Analyse nicht in Depression umschlagen zu lassen - und erwies sich damit einmal mal nicht nur als intellektuelle, sondern auch moralische Lichtgestalt Russlands. Er sehe die Lage nicht so grimmig wie seine Kollegen, auch wenn er ihre Befunde durchaus teile. Es sei ja immerhin nicht der echte Stalin, der da wiederbelebt worden sei, sondern nur der Mythos von der harten Hand. Und die Dinge werden besser werden. Denn bei der Debatte um Stalin geht es nicht so sehr um das Bild von der sowjetischen Vergangenheit: "Es geht darum, wie Russland in Zukunft aussehen soll. Sollen wir gegen den Westen auftrumpfen? Oder sollen wir einfache Werte wie Freiheit hochhalten?" Wenn die Menschen die Demokratie akzeptiert hätten, würden sie auch begreifen, wer Stalin wirklich wirklich war.