Redaktionsblog - Im Ententeich

Löst Religion das Problem mit der Religion?

19.10.2015. Warum ich zu Navid Kermanis Gebet nicht aufgestanden bin. Von Thierry Chervel
Navid Kermanis Friedenspreisrede kulminierte in einem gemeinsamen Gebet. Der Autor hatte ausführlich die Klostergemeinde von Mar Elian in Syrien gepriesen, die inzwischen vom Islamischen Staat zerstört wurde: 1.700 Jahre alte Mauern wurden gesprengt. Jacques Mourad, der Leiter dieses Klosters, ist vom Islamischen Staat entführt worden und wurde auch mit Hilfe von Muslimen wieder befreit. Mourad gehört dem Orden von Mar Musa an, den Kermani tief bewundert. Auch Paolo Dall'Oglio, Gründer dieses Ordens, ist vom Islamischen Staat entführt worden. Von ihm fehlt jede Spur.

Viele weitere syrische Christen aus dem Kloster befinden sich in der Gewalt dieser "religiösen Faschisten" - ja, Kermani benutzt diesen Begriff, der Bernard-Henri Lévy einst um die Ohren gehauen wurde. Am Ende seiner beeindruckenden Rede forderte Kermani das Publikum auf, gemeinsam mit ihm um die Entführten des IS zu beten. Wer nicht fromm sei, könne ja einen Wunsch formulieren. Und wer möge, möge sich erheben. Fast alle erhoben sich. Ich zögerte und blieb dann lieber sitzen.

Kermani bewundert den Orden von Mar Musa wegen seiner interreligiösen Liebesbotschaft. Pater Paolo ist bei seinen religiösen Exerzitien vor vierzig Jahren das Wort "Islam" als Phantomschrift am Horizont erschienen, erzählt Kermani in seinem Buch "Ungläubiges Staunen". Pater Paolo hat daraufhin die Gemeinde von Mar Musa aufgebaut und sich der Liebe zum Islam und den Muslimen verschrieben und stößt damit auf die innigste Bewunderung Kermanis, dessen "Ungläubiges Staunen" selbst wiederum eine schwärmerische Liebeserklärung an den bildprächtigen, von intellektuellen Gewährsleuten wie Martin Mosebach oder Paul Badde vermittelten Katholizismus ist. Kermani erträumt sich eine Koalition traditioneller Religiosität in all der von ihm besungenen Schönheit gegen Säkularismus und religiösen Fundamentalismus, die er als faktisches Bündnis ansieht.

Die Moderne sei als Gewaltakt über die traditionellen muslimischen Gesellschaften gekommen. Vom Westen gestützte Potentaten (die vom Osten gestützten erwähnte Kermanis seltsamerweise nicht) ließen den Frauen gewaltsam die Kopftücher abnehmen. Der Schah von Persien betrat in Reitstiefeln die Moschee von Ghom und versetzte dem Imam mit seiner Reitgerte einen Schlag ins Gesicht. Die gleiche Verachtung für Geschichte und Tradition, so Kermani, kennzeichne den islamischen Fundamentalismus.

Kermani hat recht, den Fundamentalismus wie die Totalitarismen vor ihm als eine selbst moderne Reaktion auf die Zumutung der Moderne zu betrachten. Aber sind historische Formen der Verfügung über Gesellschaft und Individuum, die gebrochener, synkretistischer und poetischer sein mögen, die heute fällige Antwort auf die antihistorische Tabula rasa des Dschihadismus? Löst Religion das Problem mit der Religion? Sicherheitshalber fordert Kermani auch eine westliche Intervention in Syrien.

Aber am Schluss hat Kermani der deutschen Geschichte vor allem das Bild einer kollektiv betenden Paulskirche geschenkt. Viele hat es ergriffen. Vielleicht ist es ein sehr deutsches Bild, denn Deutschland hat sich nie ganz von der Idee des Säkularismus überzeugen lassen. Und doch ist die Paulskirche einer der wenigen historischen Orte, in dem sich das Land zaghaft aus dem Bann der Autoritäten löste - auch der religiösen! Ich behaupte, dass mein Mitgefühl für die Opfer des Islamischen Staats genau so tief ist wie das Kermanis, aber ich möchte mich nicht als armer Ungläubiger, dem laut Kermani nur der defiziente Modus des Wünschens bleibt, in ein Bild ökumenischer Frömmigkeit einbauen lassen. Oder, wie Schleiermacher sagte: Der Mensch hebt sich auf, indem er sich setzt.

Thierry Chervel