Die amerikanischen Medien haben in den letzten Jahren so viele Leichen aus den eigenen Reihen beerdigt, dass eine Zeitschrift jetzt den Spieß umdreht: "Das Web ist tot", titelt Wired und führt damit total in die Irre. Gemeint ist nämlich: Für die Medien ist das Web gestorben. Michael Wolff, als Vanity-Fair-Autor, Murdoch-Biograf und Gründer des Internetmagazins Newser mit reichlich eigener Erfahrung ausgestattet, nennt den Grund, den jeder kennt: Im offenen Web zählt nur Masse in der Größenordnung von Googlenutzern. Die Werbung scheißt nur auf den ganz großen Haufen, und nur dort summieren sich die Pfennige zu Milliarden. Den traditionellen Medien im Netz hat sie kaum etwas gebracht, während Google fett wurde. Nur Unternehmen, die sich aus dem von Google kontrollierten offenen Web absetzen konnten, waren erfolgreich: Facebook und Apple, die Paralleluniversen schufen. Alle anderen sind dem Untergang geweiht oder setzen auf Steve Jobs. (Wolffs Artikel ist der im roten Balken)

In einem zweiten Artikel (weißer Balken) versucht Wired-Chefredakteur Chris Anderson ("Free"!), dies dem Leser schmackhaft zu machen: Wir nutzen doch jetzt schon immer öfter geschlossene Systeme, schreibt er: Apps. Streamingdienste wie Pandora oder Netflix. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Mediendienste wie Itunes oder Videospiele. "Schiebt es auf die menschliche Natur. So sehr wir intellektuell für Offenheit sind, am Ende wählen wir den leichteren Weg. Wir zahlen für Bequemlichkeit und Verlässlichkeit. Darum kann Itunes für 99 Cent Songs verkaufen, die es irgendwo in irgendeiner Form auch gratis gibt. Wenn man jung ist, hat man mehr Zeit als Geld und macht sich die Mühe, einen Filesharing-Dienst zu nutzen. Wenn man älter wird, hat man mehr Geld als Zeit. Bei Itunes ist der Preis dafür, dass ich problemlos bekomme, was ich will, niedrig."

Wolff nennt es das "Erwachsenwerden" des Webs: "Die Kontrolle, die das Web den vertikal gebildeten hierarchischen Medien weggenommen hat, kann mit ein bisschen Nachdenken über die Natur und den Gebrauch des Internets zurückgewonnen werden."

Man kann ja mal träumen. Die Realität sieht anders aus:

1. Das Web ist nicht tot, es boomt. Wired belegt seine These mit einer Grafik, die Rob Beschizza in BoingBoing auseinandernimmt.



Die absteigende Kurve bei Wired entsteht, weil Videos nicht als Teil des Webs aufgenommen sind und der Internet-Traffic nicht in seiner Gesamtheit dargestellt wird. Sonst sähe die Grafik nämlich so aus:



2. Wolff und Anderson verwechseln das Web mit Google. Facebook kann zwar von Google nur rudimentär indexiert werden, aber es ist unzweifelbar im Web. Facebookseiten haben eine URL. Twitter ist ohne das Web gar nicht denkbar: Eine seiner Hauptfunktionen besteht darin, URLs zu interessanten Webseiten auszutauschen.

3. Keine App kann einen Artikel verbreiten wie das Web. Wired liefert gewissermaßen den Beleg dafür: Es hat eine App. Dennoch wurde die Titelgeschichte auf der Webseite des Magazins veröffentlicht. Und nur weil sie dort stand, konnte sie von vielen gelesen, verlinkt und diskutiert werden.

4. Werber lieben das Web nicht, das ist richtig. Html-Seiten sehen einfach unattraktiv aus. Der grafische Eindruck lässt sich nicht hundertprozentig steuern: Je nach Browser, Bildschirm oder Betriebssystem sieht der eine perlgrau, wo der andere mausgrau sieht. Aber Werbung im Netz ist nicht erfolgreich, weil sie schön, sondern weil sie nützlich ist. Facebook fängt gerade damit an, die lokalen Anzeigenmärkte aufzurollen: Sein neuer Lokalisierungsdienst Places (mehr hier) erlaubt es Nutzern, anderen mitzuteilen, wo sie gerade sind. Restaurants, Geschäfte, Dienstleister am jeweiligen Ort können eigene Places-Seiten kreieren und so Kunden anziehen:

"Places creates a presence for your business's physical store locations - encouraging your customers to share that they've visited your business by 'checking in' to your Place. When your customer checks into your Place, these check-in stories can generate powerful, organic impressions in friends' News Feeds, extending your brand's reach to new customers", zitiert Techcrunch aus Facebooks "how-to guide" für die Unternehmer.

Chanel wird nicht bei Places schalten. Aber Chanel wird auch nicht auf dem Ipad schalten, weil Jobs mitbestimmen will, wie die Anzeige aussehen soll.

5. Das Netz hat das Leserverhalten verändert. Kein Mogul kann das zurückdrehen, auch Steve Jobs nicht. Wie Evan Hansen, ebenfalls in Wired, schreibt: "Reading, it turns out, is not a passive, solitary enterprise; it is deeply tied to social activities. Thanks to the web, readers are no longer just consumers - they are participants and creators in their own right, and they are empowered."

6. Warum vergeuden Medienunternehmen ihre Zeit mit dem Versuch, das Rad zurückzudrehen? Nicht mal Wolff glaubt wirklich daran. Zeitungen und Zeitschriften werden nie wieder Alleinherrscher über ihre Leser und Anzeigenmärkte sein. Auch nicht bei Apple. Wolff beschreibt es doch selbst: "Es ist nicht überraschend, dass die Zukunft der Medien in Jobs' vom Ipad befeuerter Vision ihrer Vergangenheit gleicht. In diesem Szenario ist Jobs ein Mogul, der direkt dem Studiosystem entsprungen ist. Während Google Traffic und Werbung kontrolliert, kontrolliert Apple die Inhalte. Tatsächlich behält es das absolute Genehmigungsrecht für alle Apps, die von Dritten entwickelt werden. Apple kontrolliert, wie die Inhalte aussehen, wie sie sich anfühlen, wie man sie erlebt. Mehr noch, es kontrolliert sowohl den Vertriebsweg für Inhalte (Itunes) wie auch die Geräte (Ipods, Iphones und Ipads), mit denen man den Inhalt konsumiert." Man muss die Liste noch ergänzen: Jobs nimmt Einfluss auf die Inhalte der Medien und sogar noch auf die Werbung, die die Medien in ihren Apps präsentieren. Und er kassiert mit. Und er verwaltet die Bankdaten der Kunden. Das ist keine Rückkehr in die alten Zeiten, das sind die alten Zeiten als Alptraum.

7. Der Hauptpunkt in Wolffs Diagnose ist richtig: Google frisst alles. Nur wer sich außerhalb des von Google verwalteten Netzes bewegt, konnte ihm die Stirn bieten. Aber sich deshalb aus dem Netz zu verabschieden, ist Wahnsinn. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sind auf Verbreitung angewiesen. Das ist ihr Sinn und Zweck. Der Internetveteran Rusty Coats hat einmal gefragt: "Print is about stories. Digital is about search. So what will that mean for journalism?" Wie wäre es damit: eine gemeinsame, webbasierte, durchsuchbare, Google klug ausspielende, kostenpflichtige Plattform für Medien.

Dafür müssten die Medien ihren eigenen Steve Jobs oder Mark Zuckerberg hervorbringen. Aber der ist nirgends in Sicht. Medienbesitzer wollen nicht mehr Mogul sein. Sie wollen sich einem Mogul unterwerfen. Die alten Zeiten sind wirklich tot.

Anja Seeliger