Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 4. Tag

Von Thierry Chervel, Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer
13.02.2005. 13 Seen, 10 Himmel - sonst nichts sieht man in James Bennings Filmen. Opfer oder Täter? Tamara Trampe und Johann Feindt begleiten in ihrem Dokumentarfilm "Weiße Raben" Heimkehrer aus dem Tschetschenienkrieg. Verschwendet seine Schauspielerlegenden: Andre Techines Wettbewerbsbeitrag "Les temps qui changent". Ein Manifest des Unspektakulären: Raymond Depardons Dokumentarfilm über Bauern in Frankreich "Profil paysans". Und dann noch eine Sensation: die rekonstruierte Fassung von Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin".Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
"Panzerkreuzer Potemkin", von Sergej Eisenstein, restaurierte Fassung

Am Samstagabend konnte man in der Berliner Volksbühne einer Sensation beiwohnen: der Aufführung einer rekonstruierten Fassung des "besten Films der Geschichte", zumindet wenn man den All-Time-Listen von Cineastenumfragen glaubt. Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", die Geschichte eines Aufstands von Matrosen, der sich zur Revolution von 1905 und Morgendämmerung des Menschengeschlechts auswächst, zirkulierte in den Kinematheken bisher in einer von der Weimarer und stalinistischen Zensur gezeichneten und von Schostakowitsch-Musik untermalten Fassung.

Am Samstagabend wurde sie mit Edmund Meisels für die deutsche Fassung komponierten Musik und frei von Zensurschnitten wiederaufgeführt. Es spielte das von Subventionskürzungen bedrohte Deutsche Filmorchester Babelsberg unter der Leitung von Helmut Ihmig. Enno Patalas, der Doyen der Filmhistorie in Deutschland initiierte die Rekonstruktion, die von der Bundeskulturstiftung unterstützt wurde. Am Samstagabend erläuterte er vor dem vollbesetzten Saal die technischen und juristischen Herausforderungen der Restauration. (Hier sein Artikel aus der FAZ zum Thema).

In der Vorführung zeigte sich, warum man sagt, dass Meisels Musik entscheidend zum unmittelbaren Erfolg des Films beigetragen hat. Eisensteins Film wirkte geradezu von ihr getrieben, wie aus dem Orchestergraben nach oben auf die Leinwand geschleudert.

Die Revolution erweise, wie "die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, in der Masse und die Masse in dem großen Elan aufging", heißt es, die marxistische Lehre zitierend im Vorspann des Films. Dieser Aufgang des Einzelnen, der im Leben nicht selten den Untergang bewirkte, ist das eigentlich Thema des Films. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts präsentiert der Film noch als Versprechen.

Der Film erhält seinen atemlosen Rhythmus durch den Wechsel der Totalen, in denen die Masse liebevoll zum welthistorischen Geschehen drapiert wird, und grellen Zwischenschnitten auf Einzelne, auf aufgerissene Münder und ausgeschossene Augen. Er ist beseelt von der Gewalt der historischen Vorsehung und malt sie aus mit fiebriger Liebe zum Detail, die Gewalt der Bösen ebensogut wie die der Guten - vom Sadismus der zaristischen Offiziere, die die Matrosen zwingen, wurmstichiges Fleisch zu essen, über eine endlose Erschießungsszene und die konkrete Arbeit des Gemetzels an den Offizieren durch die tobenden revolutionären Subjekte bis hin zur berühmten Treppenszene, in der die Kosaken die revolutionäre Menge buchstäblich niedermähen. Der die Treppe herabrollende Kinderwagen, eines der unvergesslichen Bilder des letzten Jahrhunderts, steigert die Symphonie der Exzesse zum surrealistischen Traumbild.

Aber die Treppenszene ist nicht eigentlich der Höhepunkt des Films. Er folgt erst zum Schluss und ist vielleicht auch deshalb weniger bekannt als die Treppenszene, weil er nicht auf die Bilder reduzierbar ist und sich erst durch das Zusammenspiel von Eisensteins rasender Montage und Meisels großartig maschinaler Musik ergibt. Der Film ist hier zurückgekehrt an den Anfang, in die reine Männerwelt des Panzerkreuzers. Die Matrosen wienern ihre Kanonen, schmieren die Mechanik. Es naht die zaristische Marine zur Niederkartätschung der Revolte.

Meisels Musik (Hörprobe) trägt und treibt die anschließende Verfolgungsjagd, in der der Film förmlich zu jubeln scheint, über die Verfügungsgewalt, die er über die Maschinen innehat. Eisensteins Montagen zeigen nun die mit irrer Präzision ineinandergreifenden Kurbelwellen der Schiffsmaschinen. Die Gewalt des Films wird zugleich extrem abstrakt durch die Konzentration auf die erbarmungslose Kreisbewegung der Mechanik, die zugleich wie ein Bild seiner eigenen, Bilder erzeugenden Maschinerie erscheint, und extrem körperlich durch die manisch wiederholten, langsam sich beschleunigenden perkussiven Patterns von Meisels Musik, die direkt in die Eingeweide greifen sollen.

"Feuer?" heißt es dann in einem Untertitel, der das minutenlange bacchantische Stampfen unterbricht, "oder Verbrüderung?". Die Flotte hat sich auf Schussweite den meuternden Matrosen angenähert. Die Kanonen recken sich in den Himmel.

Es wird natürlich Verbrüderung draus, und die Musik ergießt sich in ein warmes Tosen. Das Individuum ist untergegangen.

Das Deutsche Filmorchester Babelsberg war fabelhaft, präzis, stets synchron mit dem Film und am Ende - warm tosend. Es erhielt zurecht minutenlange stehende Ovationen. Es wäre zu wünschen, dass aus dieser Fassung eine Kopie für die Kinos und DVDs für die Freunde der Filmgeschichte erstellt werden.

Thierry Chervel


"Panzerkreuzer Potemkin". Regie: Sergej Eisenstein. Mit Alexandr Antonow, Grigori Alexandrow. UdSSR 1925, 70 Minuten. (Retrospektive)


Ein See ist nicht ein See ist nicht ein See: James Bennings "13 Lakes" und "10 Skies" (beide Forum)


Die Filme des Amerikaners James Benning sind kinematografische Grundlagenforschung. Man kann dazu auch Experimental- oder Konzeptfilm sagen, schon weil man die Großartigkeit seines Unternehmens damit präzise zu fassen bekommt. Wenn das "Experiment" - von lateinisch experiri: erfahren - eine Erfahrung beschreibt und damit einen Vorgang, der sich in der Zeit erstreckt und nach einem Subjekt verlangt, das etwas erfährt, dann benennt das Konzept den Begriff, die Idee, die im Entwurf eines Experiments stecken. Das Konzept hat keine Erstreckung in der Zeit und bedarf dieser genau dann, wenn es zu einer Erfahrung führen soll. Das Konzept lässt sich verstehen, aber nicht erfahren. Dass die minimalistischen Konzepte der Filme von James Benning für den Betrachter zu intensiven Erfahrungen werden, das ist die im Kino der Gegenwart wohl einmalige Stärke seines Werks.

Das Konzept: Die Titel seiner beiden jüngsten Filme sind so lakonisch wie genau. "13 Lakes": Zu sehen sind 13 Seen. Jeder See wird von der Kamera aus einem festen Aufnahmewinkel aufgenommen, für je zehn Minuten realer Zeit. Man hört dazu, teils in nicht sehr brillanter Qualität, den Originalton. Ein Grundgeräusch, das nicht aus der Natur, sondern von den Aufnahmegeräten stammt, ist stets anwesend, drängt sich manchmal in den Vordergrund. Die Kamera bleibt starr und es geschieht, was geschieht. Wie man sich vorstellen kann, geschieht nicht viel. Auf den ersten Blick jedenfalls. Still und ziemlich starr ruht der See. Etwas oberhalb der Bildhälfte teilt der Horizont die Leinwand. Im Vordergrund jeweils der See, der Horizont hat die Gestalt von Bergen, einer Hafenbefestigung, auch einer Autobrücke, oder er ist nicht mehr als die dünne Linie, gelegentlich beinahe verschwindend, an der Himmel und Erde aneinander stoßen, ineinander übergehen. Die dreizehn Seen, genauer: die See-Ausschnitte sind ähnlich kadriert. Das Wetter ist unterschiedlich, sie sind unterschiedlich groß und bewegt, aber stets befindet sich der Horizont, als gezackter, gerader, verschwindender, die Grenze einer Spiegelung bildender split im screen.

"10 Skies". Zu sehen sind 10 Himmel (oder Ausschnitte aus zehn Himmeln oder zehn Ausschnitte aus dem Himmel - im Unterschied zum See, der eine Grenze hat, ist ein Himmel niemals vollständig zu erfassen, nicht von der Kamera, nicht vom Denken. In diesem Sachverhalt gründet die Idee der Erhabenheit der Natur bei Kant.). Jeder Himmel wird aus einem festen Aufnahmewinkel aufgenommen, für je zehn Minuten realer Zeit. Die Kamera bleibt starr und es geschieht, was geschieht. Tatsächlich geschieht sehr viel, schon auf den ersten Blick. Wolken ziehen vorüber, formen sich zu Figuren. Man sieht Figuren und Formen entstehen und sich auflösen. Nur einmal kommt eine Art Horizont ins Bild, am unteren Rand des dritten Himmels, die Spitzen der Wipfel von Bäumen.

Die Erfahrung: Sie ist, wie jede Erfahrung, an das Subjekt gebunden und für jedes Subjekt eine andere. Ich kenne Menschen, die im Angesicht der Bilder von James Benning in eine Art Rausch verfallen. Ich kann das verstehen, erfahre und erlebe aber eher eine Art Auf- und Abschwünge zwischen Begeisterung und Langeweile. Die stets gleich lange Zeit kann unterschiedlich schnell verlaufen. Ein See ist nicht ein See ist nicht ein See. Der zweite See etwa ist flächig und leer, kontrastiert kaum mit dem Himmel, in den er übergeht. Ein öder See. Ins Grafische dagegen spielt der zwölfte See, an der Kante von Land und Wasser bilden sich in der spiegelnden Verdopplung von Bergen und Bäumen weiße Gravuren, pfeilförmig. Manche Seen und fast alle der Himmel beginnen zu erzählen. Jedenfalls entstehen Abfolgen, Verwandlungen, sich wandelnde Erstreckungen von Geschehen in der Zeit. Einmal fährt auf einem der Seen ein Schiff in den Hafen. Es gerät ins Bild und verschwindet wieder daraus. Das ist die Geschichte, die dieser See erzählt. Am Ende ruht er wieder, als wäre nichts gewesen. Ins Bild hinein gerät eine Bewegung und verschwindet.

Die Himmel dagegen sind fortwährend bewegt dank der Wolken. Kürzlich gab es in Hamburg und Berlin eine große Ausstellung von Wolkenbildern in der Malerei, aber keines von ihnen reichte an die Wolkenbilder von James Benning heran. Vor unseren Augen ereignen sich dramatische Figurbildungen und ebenso dramatische Auflösung. Im vierten Himmel formt sich - für mein Auge wenigstens - eine dicke Frau wie von Botero, plötzlich schwillt ihr rechtes Bein an, quillt auseinander, explodiert beinahe. Das ist der Splatter-Film, der in "Ten Skies" steckt. Überaus dramatisch das Geschehen im sechsten Himmel. Von unten her zieht ein grauer Dunst über den von gelegentlichen weißen Wolken besiedelten blauen Himmel. Er zieht nach oben, bis fast die ganze Leinwand bedeckt ist. Bevor das aber geschieht, bevor also ein vollständiger Vorhang das Bild verdeckt, drängt von links unten wieder etwas Leichtes, Helles heran, scheint ohne Mühe den grauen Dunst auflösen zu können. Es folgt eine Schwarzblende. Stets trennen etwa zehn Sekunden lange Schwarzblenden eine Einstellung von der anderen, liegen zwischen See und See, zwischen Himmel und Himmel.

Die Bilder, die man sieht, auch die Töne, die man hört (Vogelgeschrei, eine Bahn, die außerhalb des Bildes vorüberfährt, Schüsse), referieren auf die Welt. "13 Lakes" und "10 Skies" sind in diesem Sinne Dokumentarfilme. Weder wird, wie im Spielfilm, etwas in Szene gesetzt - außer im buchstäblichsten Sinne: durch die Kamera, die einen Ausschnitt wählt, im Raum, in der Zeit - noch sind die Bilder, die man sieht, abstrakt. Eine Böschung ist eine Böschung, der Mond ist der Mond. In einem bestimmten Sinne aber ist, anders als im gewöhnlichen Dokumentarfilm, der Gegenstand, den man sieht und wahrnimmt, nicht wirklich von Interesse. Die Seen, die Himmel sind gewöhnliche Seen und gewöhnliche Himmel. Was wir als Betrachter wahrnehmen, über kurz oder lang, und gerade dann, wenn uns die Zeit lang wird, ist unsere Erfahrung. Als Reflexion und als Erleben - bis hin zum Rausch. Man kann sich, das erfährt man bei James Benning, am schieren Wahrnehmen berauschen.

Wir erleben, wie wir Zeit wahrnehmen, wir erleben, wie wir aus Wolkenschlieren am Himmel Figuren zu bilden beginnen, wir erleben, wie wir uns ganz zufällige Veränderungen in der Figuration von Licht und Schatten als "Geschichten" zu erzählen anfangen. Natürlich sind das in einem bestimmten Sinne ganz einfache Erfahrungen, nichts Besonderes. Es sind aber auch Erfahrungen, die das Kino, wie wir es kennen, uns immer schon aufnötigt: als Gegenstand, den es hat, als Geschichte, die es uns erzählt. Indem James Benning uns den besonderen Gegenstand, die interessante Geschichte verweigert, betreibt er kinematografische Grundlagenforschung. Uns, dem Betrachter, ermöglicht er so zu erfahren, was es heißt, etwas zu erfahren. Wenn das nicht großes Kino ist.

Ekkehard Knörer

"13 Lakes". Regie: James Benning. USA 2004, 133 Minuten
"Ten Skies". Regie: James Benning. USA 2004, 101 Minuten
(beide im Forum)



"Weiße Raben - Alptraum Tschetschenien" von Tamara Trampe und Johann Feindt (Panorama)

Lange hat Russland geglaubt, dass der Krieg gegen Tschetschenien im Kaukasus geführt wird. Doch nicht erst seit Selbstmordkommandos Theater und Schulen in Geiselhaft nehmen, müssen die Russen erfahren, wie nahe der Krieg ist. Den Krieg ins Zentrum der Gesellschaft bringen auch die Soldaten, die in Tschetschnienen gekämpft haben. Dort haben sie getötet, gefoltert und vergewaltigt, dort sind sie auf Minen getreten verwundet und verstümmelt worden. Über drei Jahre hinweg haben Tamara Trampe und Johann Feindt für ihren Dokumentarfilm "Weiße Raben" Heimkehrer begleitet. Geschöpfe des Krieges. Für die Filmemacher sind sie Opfer des Krieges. Etwa Petja, der, 18-jährig, mit einem großen Fest auf der Datsche in den Krieg verabschiedet wurde. Ein paar Wochen später ist er schon wieder zurück: Ohne Bein, ohne Arm. Eine Mine hat ihm die ganze linke Körperhälfte weggerissen. Oder die Krankenschwester Katja, die sich mehr oder weniger freiwillig für den Einsatz in Tschetschenien gemeldet hat, weil sie ohne Arbeit ihr Kind nicht versorgen konnte. Jetzt vermisst sie die ständige Anspannung des Krieges, Worte des Mitleids für Tschetschenen kommen ihr nicht mehr über Lippen.

Von dem was sie in Tschetschenien erlebt und getan haben, können wir uns nur eine vage Vorstellung machen. In den Film hineingeschnitten sind Videos eines russischen Kameramannes. Auf einem sind tschetschenische Kämpfer zu sehen, die von russischen Soldaten gefangen genommen wurden, darunter zwei Frauen. Eine von ihnen blickt angestrengt um sich, auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich zu retten. Der zweiten steht der eigene Tod schon ins Gesicht geschrieben. Auf einem anderen Video sieht man, wie nackte menschliche Körper von einem LKW geladen werden, einige halbtot, andere halblebend.

Die Filmemacher Trampe und Feindt gehen sehr behutsam, mit viel Geduld und Mitgefühl an ihre Interviewpartner heran. Sie bringen sie zum Sprechen über die eigene Scham und die eigene Schuld. Einen Veteran aus Afghanistan bringen sie dazu, zu erzählen, was ihn seit mehr als fünfzehn Jahren verfolgt: dass er im Kriegsgeschehen ein 14-jähriges Mädchen, das gerade seinen Kompagnon erschossen hatte, so brutal an eine Häuserwand geschmettert hat, dass ihr Schädel gespalten war. Manchmal geht einem dieses Mitgefühl aber auch zu weit. Dann versuchen die Filmemacher, die Verrohung, die Russland und Tschetschenien durch dieses Krieg erfahren, zu sehr in menschenfreundlichen Kategorien "Opfer des Krieges" aufzulösen.

So versagen sie auch Kiril ihr Mitgefühl nicht. Mit 18 Jahren ist er nach Tschetschenien gegangen. Seine Augen sind leer, im Gesicht zeigt sich keinerlei Regung. Drei Monate wurde er in einer Grube gefangen gehalten, immer wieder zusammengeschlagen, immer wieder wurde ihm die Pistole an die Schläfe gesetzt. Jetzt sitzt er wieder im Gefängnis. Er hat ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt.

Thekla Dannenberg

"Weiße Raben- Alptraum Tschetschenien". Dokumentarfilm. Regie: Tamara Trampe und Johann Feindt. Deutschland, 2004, 92 Minuten. (Panorama)


Was für eine Verschwendung der Schauspielerlegenden Deneuve und Depardieu: Andre Techines "Les temps qui changent" (Wettbewerb)

Von Thomas Kapielski gibt es die schöne Geschichte, wie er in einem Studentenjob einst tagelang um ein vielfaches beschleunigte Pornos auf Belichtungs- und Materialfehler hin sichtete. Am Ende des Tages wankte er aus seiner Kabine und staunte, mit welcher Langsamkeit sich die Welt um ihn herum bewegte. Ich habe soeben, scheint mir, das umgekehrte Erlebnis gehabt. Mehr als zwei Stunden lang habe ich in James Bennings "13 Lakes" (dazu dann morgen mehr, nach "10 Skies") starre Einstellungen von dreizehn Seen beobachtet, in denen das geringste Ereignis (ein Vogel im Vorbeiflug) innerhalb ausgedehnten Nicht-Geschehens Sensation machte. Direkt im Anschluss gab es im Berlinale-Palast Andre Techines Wettbewerbsbeitrag "Les temps qui changent", und das ist ein Film, in dem viel, sehr viel geschieht und nicht das mindeste davon rührt einen ein bisschen, interessiert einen ein bisschen, hat einem auch nur irgendwas zu sagen. Welch eine beschleunigte Welt der Nichtigkeiten. Und wissen Sie was: Es lag in Wahrheit auch nicht an James Benning. Techines Film ist einfach belanglos, ganz und gar belanglos.

Catherine Deneuve und Gerard Depardieu. Ein Mann, der seine erste Liebe nie vergisst, dreißig Jahre lang nicht, bis er in Tanger auftaucht, wo sie jetzt lebt. Er beaufsichtigt ein riesiges Bauvorhaben, sie hat einen Job, den sie sich so nicht erträumt hat, beim französischsprachigen Radio. Sie hat einen Mann, der Arzt ist, und den sie sich so auch nicht erträumt hat. Sie hat einen Sohn, der Männer liebt und mit einer Frau zusammen ist, die ständig Beruhigungsmittel schluckt. In Tanger, wo er seine Mutter nun besucht, hat er einen Geliebten, der eine Villa beaufsichtigt, die von Hunden bewacht wird. Ein Hund wird den Sohn der Geliebten ins Bein beißen, und es wird nichts zu bedeuten haben. Gerard Depardieu wird von einer Erdlawine begraben werden, aber dass sich dabei etwas entscheidet, behauptet so recht nicht einmal der Film. Die Freundin des Sohnes hat eine Zwillingsschwester, die bei McDonalds arbeitet und verschleiert ist und sich nicht für Männer interessiert. Ihre Schwester will sie nicht sehen, sie hat nicht die Kraft, sagt sie.



All diese Figuren und ihre Geschichten hat "Les temps qui changent" zu bieten, und er weiß nichts damit anzufangen, als sie immer wieder nur anzufangen und zu keinem interessanten Fortgang, raffinierten Variationen oder gar einem vernünftigen Ende zu bringen. Zwischendurch sitzen Flüchtlinge im Wald, zwischendurch gibt es eine kleine Verbrecherjagd in der Stadt. Wir sind in Nordafrika, Sie verstehen.

Man nimmt der Figur, die Gerard Depardieu spielt, die Leidenschaft nicht ab, die dazu gehört, dreißig Jahre lang der einen Frau treu zu bleiben, die zu lieben man nicht aufhören kann. Und es ist nicht seine Schuld, es ist die Schuld eines Drehbuchs, das sich diese Geschichte selbst nicht glaubt. So bleibt Depardieu immer in der Nähe der Witzfigur, als die sich die stets ein wenig zu geistreichen Autoren einen wie ihn nur denken können, und stapft wie ein Elefant im Porzellanladen durch Nordafrika und das Leben der von ihm heimgesuchten einstigen Geliebten. Pascal Bonitzer, einer der Drehbuch-Co-Autoren, ist ein Experte für geistreiche, wenn auch etwas seichte Komödien über neurotische, Frauen verschleißende Pariser Intellektuelle. Niemand könnte ihm ferner liegen als Antoine Lavaut, die von Depardieu gespielte Figur. Die Pein, die ihn treibt, bleibt Behauptung, aufgeschminkt wie die blutige Nase, die er sich im Zusammenprall mit einer Glastür holt.

Und wie es oft geht, wenn einem zur eigentlichen Geschichte nichts einfällt: Man lässt sich weitere Geschichten einfallen, zu denen einem auch nichts einfällt, aber man kriegt die Zeit herum. So kommen die übrigen Figuren ins Bild, leblos, ziellos, keiner Notwendigkeit geschuldet, es wäre genauso gut, es gäbe sie nicht, vielmehr: es wäre besser, keiner hätte sie sich je ausgedacht. Was für eine Verschwendung der Schauspielerlegenden Deneuve und Depardieu.

Ekkehard Knörer

"Les temps qui changent". Regie: Andre Techine. Mit Catherine Deneuve, Gerard Depardieu, Gilbert Melki, Malik Zidi, Lubna Azabal u.a., Frankreich 2004, 98 Minuten. (Wettbewerb)


Manifest des Unspektakulären: Raymond Depardon: "Profils paysans: le quotidien" (Forum)

Eine Frau gerät ins Bild, zufällig, weil Raymond Depardon gerade eine alte Bäuerin filmt. Sie fragt: "Werde ich gefilmt?" "Ja", sagt die alte Bäuerin. "Warum?" lautet die Gegenfrage. "Weil Sie da sind", so die schlichte Antwort. Noch sind sie da, noch geraten sie ins Bild, noch kann Depardon sie festhalten. Es sind Szenen wie diese, die das gezielte Suchen des Regisseurs kommentieren, als die Utopie des Dokumentaristen. Die Dinge filmen, wie sie sind, in dem Moment, in dem sie geschehen und vergehen. "Profils paysans: le quotidien" ist der zweite Teil eines auf zehn Jahre angelegten Langzeitprojekts, das das bäuerliche Leben in der französischen Provinz zum Gegenstand hat, aber auch die Zeit.

Es beginnt mit dem Bild eines Toten. Ein alter Mann steht in einer Tür, die Stimme des Regisseurs berichtet von seinem Tod. Der alte Mann war ein Bauer, er stand, erfahren wir, im Zentrum des ersten Teils. Eine Langzeitbeobachtung hat mit dem Tod zu rechnen. Er ist verschwunden, es gibt Bilder von seiner Beerdigung, es gibt Bilder seiner Witwe, sie ist 87 Jahre alt, auch sie wird verschwinden, nach einem Treppensturz kommt sie ins Krankenhaus, dann ins Altersheim, nüchtern berichtet es der Erzähler. Der Erzähler freilich erzählt nicht. Er notiert, er gibt sachliche, karge Informationen, nicht oft, dennoch stellt sich über diese Stimme, die nicht erzählt, sondern erläutert, ein Bezug her, zu den Menschen, die auf dieselbe Stimme des Regisseurs, der nie ins Bild kommt, reagieren.

Er befragt sie. Er hat diesen Menschen von sich erzählt, mit ihnen gesprochen, das ist im Film nicht zu erfahren, aber man spürt es. Sie würden sich einem Unbekannten nicht öffnen. Und sie würden sich einem Aufdringlichen, einem Eindringling nicht öffnen. Die Kamera, die meist starr bleibt, drängt sich nicht auf, sie stellt vielmehr einfach den Raum zur Verfügung, sie bereitet ihn wie man einen Sitz, ein Bett bereitet, in dem die Gesichter, die Körper der Männer und Frauen, für die Depardon sich interessiert, ihren Platz finden. Sie öffnen sich zögerlich, sie entziehen sich auch. Über manches wollen sie nicht sprechen. Dass ihr Leben, ihr Beruf, wie sie es gelebt haben, wie sie ihn ausgeübt haben, keine Zukunft hat, das wissen sie. Sie werden darüber nicht sentimental. Es ist ein harter Job, es ist schwer, eine Frau zu finden, sagt einer, der noch jung ist. Die Jungen, die die alten Höfe kaufen, die an die Tradition anknüpfen, tun es nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit, die zur Tradition gehört. Sie kommen von anderswo, sie entscheiden sich für ein Leben, für das andere kaum mehr Verständnis haben.

Raymond Depardon interessiert sich. Er sucht in der Nähe, die er zu manchen der Leute offenkundig findet, noch die Distanz, die für den Respekt unabdingbar ist. Er hat den Anstand, sich nicht in falscher Weise gemein zu machen. Er zeigt, was ist, weil es ist. Einmal geht von rechts nach links ein Mann durchs Bild, die Kamera hält das fest. Er sagt hallo, Depardon sagt hallo. Mehr nicht. Warum wird er gefilmt? Weil er da ist. "Profils paysans: le quotidien" ist ein unspektakulärer Film und sehr viel mehr als das: ein Manifest des Unspektakulären, das alle Gier nach dem Spektakel durch seine Einfachheit beschämt.

Ekkehard Knörer
"Profils paysans - Le quotidien". Regie: Raymond Depardon. Frankreich 2005, 85 Minuten. (Forum)