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Kleines Kinowunder: Philip Scheffners 'Havarie' (Forum)

Von Lukas Foerster
14.02.2016. 13 Algerier in einem Schlauchboot auf dem Meer, dreieinhalb Minuten gefilmt vom Passagier eines Kreuzfahrtschiffes - das ist genug Material für Philip Scheffner, die globalen Verstrickungen auszubreiten, in die die "Flüchtlingskrise" eingebettet ist.


Blaue Endlosigkeit, tiefauflösend, verrauscht. Halbwegs in der Bildmitte bündeln sich ein paar dunklere Farbpixel: Ein winziges Boot, darauf dicht gedrängt Menschen, die fast direkt im Wasser zu stehen scheinen. (Vielleicht ein Dutzend? Oder zwei?) Das ist auch schon alles an Information, was man dem Bild entnehmen kann, das Philip Scheffners "Havarie" einem erst vorsetzt und dann einfach stehen lässt. Wobei es doch nicht ganz stehen bleibt, ein wenig bewegt es sich schon, ruckartig, langsam. Da das Meer und der weite Horizont keinerlei Orientierung bieten, ist nie ganz klar, ob diese Bewegung der alles andere als hochauflösenden Kamera zuzuordnen ist, oder dem Objekt, das sie filmt. Deutlich wahrscheinlicher: der Kamera. Denn das Objekt, das Boot, steckt fest.

Tatsächlich zeigt der Film "Havarie" ein Schlauchboot, auf dem sich 13 Algerier befinden, die hoffen, Spanien zu erreichen. Im September 2012 wagten sie von der nordafrikanischen Küste aus die Überfahrt, unterwegs begegneten sie einem Kreuzfahrtschiff. Das wiederum nach Kommunikation mit der Küstenwache eineinhalb Stunden lang in Sichtweite des Schlauchboots zum Stillstand kam. Eine Episode, wie sie sich vermutlich so oder so ähnlich fast täglich auf dem Mittelmeer, oder auch auf europäischen Landwegen abspielt. Alltag in einer Welt, in der Waren, Informationen und Bilder immer uneingeschränkter zirkulieren können, in der jedoch Abermillionen Menschen zu einem Leben in bitterer Armut oder dem Ausharren im Bombenhagel verdammt sind, nur weil sie das Pech hatten, im falschen Teil der Welt geboren zu sein.

Merle Kröger und Philip Scheffner sind bei einem solchen letztlich nicht nur Tat-, sondern auch jegliche Vorstellungskraft lähmenden Lamento nicht stehen geblieben. Stattdessen haben sie eine isolierte Episode (der Film beginnt mit einer nautischen Lokalisierung) zum Anlass genommen, die globalen Verstrickungen auszubreiten, in die das, was die Presse eine "Flüchtlingskrise" nennt, stets eingebettet ist. Das auf umfangreichen Recherchen basierende Projekt "Havarie" besteht aus zwei gleichnamigen Werken: Bereits letzten Herbst erschien eine literarische Bearbeitung von Kröger, jetzt der Film von Scheffner.

Buch und Film sind eng verzahnt, deutlich enger noch als im Fall des letzten Doppelprojekts des Teams Kröger / Scheffner, das aus dem Roman "Grenzfall" und dem Film "Revision" bestand. Insbesondere der Film "Havarie" stellt vermutlich eine komplett unterschiedliche (aber in beiden Fällen unbedingt lohnende) Seherfahrung dar, je nachdem, ob man das Buch kennt oder nicht. Denn wo der Roman um die Begegnung der beiden Boote (und schließlich eines dritten, dem der Küstenwache) herum ein ganzes Panorama unterschiedlicher Perspektiven, und eben auch Subjektivitäten von Migranten, Kreuzfahrtpassagiere, Schiffsbesatzung und so weiter aufspannt, lässt der Film einen erst einmal mit dem verpixelten Schlauchboot allein.

Auf der Tonspur montiert Scheffner dazu zwar Audiomaterial, das im Zuge der Recherche entstanden ist und zu weiten Teilen aus Interviews mit Beteiligten bestehen dürfte; aber anders als im Roman fügt sich da nichts zu einer kohärenten Narrativ - die Aufnahmen der einander ablösenden, in vielen unterschiedlichen Sprachen sprechenden Stimmen aus dem Off behalten durchweg den Charakter unbehauener Dokumente, erscheinen als isolierte Erfahrungssplitter, die mit dem, was zu sehen ist, erst einmal radikal inkompatibel sind. Und weil die Stimmen so weit weg und oft kein bisschen lokalisierbar sind, bleibt die Aufmerksamkeit stets auf der visuellen Ebene, bei den Mikrobewegungen der Kamera, den Abstufungen von Unsichtbarkeit. Dass es Scheffner gelingt, eine solche Form der unbedingten Aufmerksamkeit mit einem Bild zu erreichen, das nach allen gängigen Kriterien der Filmproduktion hochgradig defizitär ist: Das ist ein kleines Kinowunder, mindestens. Besonders deutlich wird das nach einer guten Stunde, wenn ein plötzlicher Kameraschwenk den Film regelrecht zu zerreißen scheint.

Die Arbeiten von Kröger und Scheffner nehmen ihren Ausgangspunkt stets bei einer grundlegenden epistemologischen Skepsis, die ein Misstrauen gegenüber tradierten Rhetoriken zum Beispiel des Dokumentarfilms oder des Kriminalromans nach sich zieht; aber es gibt in ihnen gleichzeitig ein ebenso grundlegendes Vertrauen in die Macht der Kunst: Wenn man die Welt nur aufmerksam genug beobachtet und die eigene Beobachtung kreativ genug bearbeitet, dann kommt man doch zumindest ein, zwei Schritte weiter. Die Aufnahme des Schlauchboots, die "Havarie" zeigt, ist ein Internet-Fundstück, sie stammt von einem der Passagiere des Kreuzfahrtschiffs. Nicht ganz dreieinhalb Minuten dauerte die Aufnahme, Scheffners Film allerdings streckt sie auf eineinhalb Stunden (also: auf eine klassische Spielfilmlänge; beziehungsweise: auf jene eineinhalb Stunden, die die Flüchtlinge in Sichtweite des Kreuzfahrtschiffs ausharren mussten). Das heißt: Nicht mehr 25, sondern nur noch knapp ein Bild pro Sekunde. Den Bilderfluss herunterbremsen, damit etwas sichtbar wird.

Havarie. Regie: Philip Scheffner. Mit Rhim Ibrir, Abdallah Benhamou, Leonid Savin, Terry Diamond, Emma Gillings. Deutschland 2016, 93 Minuten.
(Vorführtermine)