Außer Atem: Das Berlinale Blog

Erzählt von der jüngsten politischen Geschichte Chiles: Patricio Guzmans Filmessay 'Der Perlmuttknopf' (Wettbewerb)

Von Nikolaus Perneczky
09.02.2015. Patricio Guzmán erzählt von den Ureinwohnern Patagoniens, die erst von den Kolonialherren und dann von Pinochet massakriert wurden.


Mit "La batalla de Chile" hat Patricio Guzmán in den 1970ern einen engagierten Dokumentarfilm von epischen Ausmaßen über Anfang und Ende der Ära Allende gedreht. Nach dem Militärputsch fertiggestellt, ist etwas von der unterbrochenen Revolution in dem Film bewahrt und aufgehoben. Auch darum gilt "La batalla de Chile" nach wie vor als Meilenstein des politischen Kinos: weil er auch heute noch vergangene Möglichkeitshorizonte heraufzubeschwören vermag.

Das Spätwerk Guzmáns geht verwandte, aber entschieden andere und eigensinnige Wege. Von "Nostalgia de la Luz" (2010), der die Vergangenheitsform astronomischer Forschung - das Licht ferner Sterne erreicht uns mit zeitlicher Verzögerung ­- auf die Suche chilenischer Frauen nach den sterblichen Überresten ihrer unter Pinochet verschwundenen Verwandten bezieht, zum diesjährigen Wettbewerbsbeitrag "El botón de nácar" (Der Perlmuttknopf) ist es kein weiter Weg. Wieder sucht Guzmán nach geologischen und kosmischen Resonanzen von Ereignissen aus der jüngeren politischen Geschichte Chiles, und wieder spiegelt er das Größte im Kleinsten - daher der etwas unglücklich nach Kunsthandwerk klingende Titel.

Als Zentralmetapher, kraft derer Guzmán seine weit ausholenden Vergleiche anstellt, dient diesmal nicht das Licht, sondern das Wasser. Die grundlegende Gedankenoperation aber ist dieselbe: Das Wasser, wird Guzmáns feierlich gestimmter Kommentar nicht müde zu betonen, vermittelt zwischen unserer Welt und dem weiteren Kosmos. Eines der ersten Bilder, das der essayistische Dokumentarfilm dafür findet, bringt das Medium Wasser in Verbindung mit dem Medium Film: auf leicht bewegter Wasseroberfläche spiegelt sich der wolkenbedeckte Himmel.

Guzmán stellt uns die (inzwischen beinahe ausgestorbenen) Ureinwohner der patagonischen Küstenregion vor und lenkt den Blick auf ihre, wie er sagt, vorgeschichtliche Daseinsweise, vor der Kolonisierung Patagoniens im späten 19. Jahrhundert. Diese wassernomadischen Stämme lebten nicht auf festem Boden, sondern in Booten, eine fluide Existenzform in augenfälligem Gegensatz zu den territorialen Ansprüchen moderner Nationalstaaten. Mit Paul Gilroy könnte man sagen, dass das Gemeinwesen dieser Völker über routes statt roots organisiert war - über bewegliche Routen und nicht über eine Vorstellung des identitären Verwurzeltseins in Grund und Boden.

Vom patagonischen Native Jemmy Button, der seinem Stamm für einen Knopf abgekauft und zwecks Zivilisierung nach England verschickt wurde, sagt Guzmán, er wäre in die Zukunft gereist. Das vormoderne Idyll, das Jemmy zurückließ, schildert Guzmán als einen Zustand der Reinheit, der durch den Einfall chilenischer Siedler kontaminiert worden sei. Auf eine Weise ist das verständlich: viele der Ureinwohner starben aufgrund verseuchter Kleidung und Decken, der Rest wurde von bezahlten Indianerjägern massakriert. Trotzdem bleibt von Guzmáns Emphase ein Geschmack von antiimperialistischem Kitsch zurück: Seine Indianer sind edle Wilde aus dem Bilderbuch.

Auch die Gesprächspartner, die "El botón de nácar" aufsucht, ziehen das starke Bild dem starken Argument vor. Wie sollten sie auch nicht: Es sind Dichter, Musiker, Schriftsteller statt Historiker, Astronomen, Anthropologen. Wer es aushält, dass Guzmán sich ständig im Ton vergreift, den erwartet ein origineller Filmessay von stellenweise atemberaubender Reichweite. Aus der zugleich marginalen und kosmischen Perspektive der patagonischen Ureinwohner nähert er sich der jüngeren Geschichte Chiles: den Camps auf der Feuerlandinsel Dawson, wo Pinochets politische Gegner interniert waren, und den Desaparecidos, deren Leichname das chilenische Militär ins Meer warf. In den 1990ern wurden einige Gegenstände vom Meeresgrund geborgen, die auf die Opfer hinwiesen: rostige Eisenbahnschienen, mit denen einst ihre Körper beschwert worden waren und auf denen heute maritime Lebensformen gedeihen. Eingewachsen in eine der Schienen, fand man als letzten Überrest einen Knopf aus Perlmutter.

Patricio Guzmán: "El botón de nácar - Der Perlmuttknopf". Frankreich / Chile / Spanien 2015, 82 Minuten. (Vorführtermine)