Außer Atem: Das Berlinale Blog

Huis Clos vor Bergkulisse: Emin Alpers "Kiz Kardesler - A Tale of Three Sisters" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
12.02.2019.


Es vergeht im Grunde keine Berlinale, in der nicht ein elegischer türkischer Autorenfilm vor Bergkulisse die archaischen Verhältnisse in Zentralanatolien anprangert. Auch "Kiz Kardesler" (Tale of Three Sisters) ist so ein Film, der mit den Lebensverhältnissen von 99 Prozent der Kinogänger nichts zu tun hat - was ja nichts Schlechtes sein muss. Gleich vorn im Vorspann prangen auch die Signets von ZDF und Arte. Die Allgemeinmenschlichkeit solcher Sujets ist immer bestens kompatibel mit den Förderkriterien. Fast fragt man sich, ob eine urbane Komödie das größere politische Risiko wäre.

Drei Schwestern also, die drauf sind wie die Populationen solcher Filme stets drauf sind: Keine Augen fürs Panorama, allein beschäftigt mit dem Huis Clos, in dem sie stecken. Die Hölle sind die anderen und man selbst. Dem Patriarchen küsst man die Hand und macht sich über ihn lustig. Die Mutter ist tot. Hinzu kommt der Arzt aus der Stadt, dem der Patriarch die Töchter schickt, damit sie dessen bettnässenden Sohn versorgen und ihm nicht auf der Tasche liegen. Die Stadt bekommt man übrigens nie zu sehen, nur das Dorf und das kleine Bauernhaus. Der Arzt verfährt nach seinem Gutdünken mit den drei Schwestern, schickt sie alle aufs Dorf zurück und wird doch stets als Respektsperson empfangen. Er ist ein Städter und denkt auch selbst, er hat Moral.

Die eine der Töchter kam schwanger zurück, und wer weiß, wer der Vater ist.

Das Erstaunliche an solchen kollektiven Zwangsverhältnissen ist, dass jeder seine kleine Hölle ganz allein durchlebt. Der Film erzählt das recht versiert und in prächtigen Bildern, sparsam begleitet von Streichermusik und einem sehr schönen, von tiefer Frauenstimme vorgetragenen Gesang. Und außerdem erfährt man, wie Ayran im Holzfass entsteht.

Das interessanteste und traurigste Drama durchlebt interessanter Weise nicht eine der Schwestern, sondern Veysel, den sie alle als Tölpel verachten, besonders Reyhan, die mit Veysel verheiratet wurde, um ihrem unehelichen Kind eine respektable Fassade zu geben. Er zieht noch mehr Prügel auf sich als all die andern: Dabei hat er bei genauerem Hinhören die pragmatischsten Ideen. Alle träumen von der Stadt und möchten nur weg aus dem Dorf. Aber er sucht wenigstens Arbeit. Er möchte, dass der Sohn seiner Frau, den er ohne weiteres akzeptiert, eine Ausbildung bekommt. Er macht allerdings auch eine tragische Dummheit und hängt am Ende des Films vor besagter Kulisse.

Die Landschaft dieses Films, der depressiver ist, als er vielleicht sein will, versuppt am Ende in nassem Schnee und in Nebel. Eine der Töchter, die rebellischste, hört nicht mehr auf zu husten. Eine letzte Szene des Patriarchen und seiner drei Töchter, die leicht ins Burleske dreht, kann nicht verbergen, dass es aus dem Huis clos kein Entrinnen gibt.

Natürlich ist man versucht, ein solches Bergdrama als Parabel zu lesen: Ist das Dorf die Türkei, ist der Traum von der Stadt als der Traum der Türkei von der Moderne und dem Westen zu lesen, wo sie aus lauter Selbstblockade nicht mehr ankommt? Aber Parabeln sind immer auch Chiffrierungen für etwas, das man sich nicht direkt zu sagen traut, Symptom für Zensur. Wie frei ist das türkische Kino noch?

Thierry Chervel

"Kiz Kardesler" (A Tale of Three Sisters). Türkei 2019. Von Emin Alper. Cemre Ebüzziya (Reyhan), Ece Yüksel (Nurhan), Helin Kandemir (Havva), Kayhan Acikgöz (Veysel). 018 Minuten. (Termine)