Außer Atem: Das Berlinale Blog

Lässt den Zufall zu: Andre Techines "L'Adieu à la nuit" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
13.02.2019.


"L'Adieu à la nuit" könnte auch in der Serie "Kleines Fernsehspiel" laufen, Abteilung Problemfilm. Er ist schnell erzählt, hat etwas Simples, fast Hingehauenes. Dafür ist man André Téchiné und Catherine Deneuve sehr sehr dankbar. Wie es manchmal mit der Kunstlosigkeit ist: Sie ist das Ergebnis einer Wette.

Téchiné hat sich von David Thomsons Buch "Les Français jihadistes" zu seinem Sujet anregen lassen: Das Buch erzählt in Interviews den Weg junger Franzosen - nicht immer arabischer Herkunft - in den Islamischen Staat, den Hass und den Terrorismus.

Alex (Kacey Mottet Klein) ist der Enkel von Muriel (Catherine Deneuve). Seine Mutter ist tot, sein Vater ist Araber, hat eine neue Familie gegründet, und Alex will nichts mit ihm zu tun haben. Die anmutige Lila (Oulaya Amamra), seine Freundin, hat ihn in das Dschihadisten-Milieu gezogen. Er besucht seine Großmutter, die ihn aufgezogen hat, ein letztes Mal. Man sieht ihn, wie er einen sentimentalen Abschiedsbrief aufsetzt.

Im Presseheft erklärt Téchiné, warum er das malerische Setting gewählt hat: Muriel leitet ein Gestüt im französischen Teil Kataloniens. Téchiné sagt, er wolle nicht soziologisieren. Und er psychologisiert auch nicht: Die Geschichte zwischen Muriel und Alex, ihr Schock über die Konversion des geliebten Enkels, und ihr Intervenieren, um ihn vor seiner Abreise nach Syrien zu bewahren haben, hat etwas Logisches. "L'Adieu à la nuit" hat nicht die alte Atemlosigkeit größerer und berühmterer Téchiné-Filme, aber immer noch den Charakter eines kaum aufzuhaltenden Räderwerks. Dabei steckt mehr Spontaneität drin, als man denkt: Téchiné war früher bekannt dafür, stets mit zwei Kameras zu drehen. Diese Methode hat er aufgegeben, erklärt er im Presseheft, aber mit seinem Kameramann Julien Hirsch hat er immer noch ein improvisatorisches Element eingebaut: Wenn er eine Einstellung neu drehen muss, dann jedes Mal aus einer anderen Perspektive: "Wir wiederholen niemals den selben Shot. Uns geht es nicht um Perfektion, wir suchen nach dem glücklichen Zufall, nach einem Glücksfall." Darin liegt die Wette: das Zulassen des Zufalls - viele der akademischen Autorenfilmer, die die Festivals dominieren, haben dafür nicht die Kraft.

Dazu passt auch, wie Catherine Deneuve, deren Gesicht ein wenig steif wirkt wie von Botox oder Schönheitsoperationen, die Großmutter spielt: ohne jede Sentimentalität. Sie benennt sehr wohl ihre Gefühle, man glaubt sie ihr. Aber als sie kapiert, wo ihr Enkel hindriftet, antwortet sie mit Sachlichkeit und großer Entschlossenheit.

"Es gibt keine Erklärung", sagt Fouad, ein ehemaliger Dschihadist, den Muriel auftut, damit er Alex von Syrien erzählt: Auch dieser Film macht nicht verständlich, wie ein Jugendlicher in den Sog einer so abgrundtief bösen Sekte geraten kann. Das Gesicht der süßen Lila ist im Film der bestürzendste Ausdruck dieses moralischen Sturzes: Sie ist in einem Moment eine hinreißend fröhliches orientalisches Mädchen und dann, ohne Aufhebens, kalt wie ein Eisblock. Diese Beiläufigkeit muss einer jungen Schauspielerin erst mal gelingen. Téchinés Methode hat daran sicher einen Anteil.

Téchiné verschweigt auch nicht die psychischen Kosten für Muriel, die am Ende des Films zusammenbricht: Hoffen wir auf die Kirschen ihres Gartens!

Thierry Chervel

"L'Adieu à la nuit" von André Téchiné, mit Catherine Deneuve, Kacey Mottet Klein, Oulaya Amamra, Stéphane Bak, Mohamed Djouhri. Frankreich / Deutschland 2019  105 Minuten (Alle Vorführtermine).