Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die gesprochenen und ungesprochenen Worte - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
13.02.2019. Endlich wahre Filmkunst: Alle schwärmen von Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber" - mit einer prägnanten Gegenstimme. Altmeisterlich geht es derweil in Anatolien zu. Und die neueste Saviano-Verfilmung hypnotisiert den einen und langweilt die Andere. Der sechste Berlinale-Tag im Rückblick.
Traumwandlerische Sicherheit: "Ich war zuhause, aber"

Geht es nach dem Kritikerinnenspiegel von critic.de, dann liegt mit Angela Schanelecs Wettbewerbsfilm "Ich war zuhause, aber" der erste ganz große Konsens-Bärinnenfavorit vor. Ekkehard Knörer schwärmt in der taz von einem "ungefügen, aus allen Fugen strebenden Film", der bereits im Titel auf Ozu anspielt und in dem "die Dinge, die Szenen, die Körper, die gesprochenen und ungesprochenen Worte eigenständig nebeneinander stehen." Dem Film eignet eine "traumwandlerische Sicherheit, mit der Angela Schanelec den Worten, den Bildern, dem Schweigen, den Körpern die Freiheit lässt, sich zu binden und auch sich zu lösen."

Sehr schön findet Michael Kienzl auf critic.de das Schauspiel: Der Film legt "die tiefe Melancholie der Figuren ebenso offen wie die Eigenheiten in der physischen Präsenz der Darsteller. Oft geschieht das nur durch Details wie das Timbre der Stimme, die Körperhaltung oder ein Blinzeln; etwas Individuelles im Ausdruck, das von der Inszenierung nicht bezwungen werden will. ... Erst die strenge Form öffnet die Tür zur Wahrheit."

Weniger verzückt ist hingegen Perlentaucher Thierry Chervel, der lediglich der Bestückung eines Filmkunstreferenz-Baukastensystems beiwohnt, was dann zur Form gerinnt: "Provokation des Statuarischen in einem Medium der Bewegung. Die meiste Zeit stehen die Schauspieler in der Gegend rum. Wenn sie vor Gemälden stehen, starren sie mit Vorliebe daran vorbei." Auch in der FAZ bleibt Andreas Kilb etwas reserviert: "Bei Schanelec geht es nie um ein Thema, es geht um Zustände, Stimmungen, Räume. In einer Nebenhandlung studieren Schulkinder 'Hamlet' ein; sie sprechen die Shakespeare-Verse leise und ehrerbietig, mit entrückten Gesichtern. So entrückt ist auch der Blick des Films auf seine Figuren. Sie leiden, sie bluten, sie zerschlagen Geschirr, aber sie bleiben uns vom Leib." Im critic.de-Podcast tauschen sich Till Kadritzke, Michael Kienzl, Philipp Schwarz, Silvia Szymanski und Hannah Pilarczyk über den Film aus. Andreas Busche hat für den Tagesspiegel mit der Regisseurin gesprochen. Weitere Kritiken im Tagesspiegel und auf ZeitOnline.

Altmeisterlich und komisch zugleich: "A Tale of Three Sisters"

"Etwas altmeisterlich" wirkt Emin Alpers in der anatolischen Provinz angesiedeltes, mit Märchenmotiven durchsetztes Gesellschaftsporträt "A Tale of Three Sisters" ja schon, meint Andreas Busche im Tagesspiegel. Doch gelinge es dem Regisseur auch "immer wieder Komik in den Verwerfungen der sozialen Konstellationen" zu finden. Allerdings blickt der Film vielleicht ein paar Mal zu oft schwelgerisch in die Berge, schreibt auf critic.de Philipp Schwarz: "Die Mauer aus Geröll und Gestein, die sich um die Menschen des Dorfes schließt, und der dichte Nebel, der sich in diesem Kessel festsetzt, lassen zwar jeden Spaziergang wie eine existenzielle Sinnsuche erscheinen - aber eine wirkliche gegenläufige Ebene oder zusätzliche Perspektive eröffnen sie nicht." Perlentaucher Thierry Chervel sieht hier den obligatorischen türkischen Bergfilm vorliegen, wie man ihm auf der Berlinale häufig begegnet, zumal mit Arte- und ZDF-Logos im Vorspann. "Natürlich ist man versucht, ein solches Bergdrama als Parabel zu lesen: Ist das Dorf die Türkei, ist der Traum von der Stadt als der Traum der Türkei von der Moderne und dem Westen zu lesen, wo sie aus lauter Selbstblockade nicht mehr ankommt? Aber Parabeln sind immer auch Chiffrierungen für etwas, das man sich nicht direkt zu sagen traut, Symptom für Zensur. Wie frei ist das türkische Kino noch?"

"Piranhas": Schöne Zähne ohne Biss

Claudio Giovannesis
"Piranhas" erinnert Susanne Lenz von der Berliner Zeitung daran, "dass die Mafia selbst aus der Armut erwächst und aus der Perspektivlosigkeit." Giovannesi verfilmt damit Robert Savianos Roman "Der Clan der Kinder". "Nah am Dokumentarischen" verfolgen wir mit, wie ein Teenager zum gejagten Gangster wird, erklärt Michael Meyns in der taz, der sich von der "fließenden Kamera" des Films in den Bann ziehen lässt und dabei eine Welt kennenlernt, die "zwar verführerisch ist, aber auf tönernen Füßen gebaut ist." Tagesspiegel-Kritiker Perter von Becker sieht in diesem im Vergleich zur anderen Saviano-Verfilmung "Gomorrha" eher ruhig gehaltenen Film einen waschechten Bärenkandidaten vorliegen. Viel zu clean findet hingegen Perlentaucherin Anja Seeliger diesen Film, der auch aus Hollywood hätte stammen können: "Sie sind alle hübsch, diese Bengel, mit schicken Frisuren und schönen geraden weißen Zähnen." Fazit: "Hübsch und vollkommen belanglos."

Außerdem besprochen aus dem Wettbewerb (allerdings außer Konkurrenz) wird Andre Techines "L'Adieu à la nuit", der laut Perlentaucher Thierry Chervel "auch in der Serie 'Kleines Fernsehspiel' laufen könnte, Abteilung Problemfilm" (eine weitere Besprechung in der taz).

Alle freuen sich über diese "Frauenberlinale", nur Daniel Haas gibt in der NZZ den Spielverderber: Sehr brüskiert ist er davon, wie sein Geschlecht auf der Leinwand dargestellt wird, er meint gar, es mit einem "Umerziehungskino" zu tun zu haben: "Der Mann war nie fieser, grausamer, depravierter, enthemmter und kaputter als heute. Missbrauchstäter, Terroristen, Serienkiller, machtgeile Opportunisten: Was die moderne Pathologie in petto hat - bei dieser Berlinale findet sich ein Kinowerk dazu."

Traditionell vernachlässigt in den Feuilletons: die Filme der Kinder- und Jugendfilmsektion "Generation". Rochus Wolff vom Kinderfilmblog schafft hier mit fleißiger Arbeit ein wenig Abhilfe.

Weiteres: Carolin Weidner hat für die taz ein Gespräch mit Ute Aurand geführt, die von Jonas Mekas zum Filmemachen inspiriert wurde, mit Vorliebe mit 16mm-Filmmaterial arbeitet und dafür mittlerweile auf ein Kopienwerk in den USA ausweichen muss. Gerhard Midding porträtiert für die Berliner Zeitung Agnès Varda, die in diesem Jahr mit der Berlinale-Kamera geehrt wird. Die FAS hat Peter Körtes Gespräch mit Dominik Graf über dessen restauriert gezeigten Polizeithriller "Die Sieger" online nachgereicht. Christina Bylow (Berliner Zeitung) und Silvia Hallensleben (Tagesspiegel) sichten Panorama-Filme aus Israel. Mit den brasilianischen Beiträgen im Forum und im Panorama beschäftigt sich Simon Rayss für den Tagesspiegel. Jonas Lages berichtet im Tagesspiegel von japanischen Filmen über die Sorgen und Lagen der Twens. Gunda Bartels porträtiert im Tagesspiegel den Schauspieler Hans Löw, der in Edward Bergers "All my loving" zu sehen ist. Kai Müller schreibt im Tagesspiegel über den Schauspieler Jamie Bell, der einst in "Billy Elliott" das Publikum entzückte und mittlerweile mit härteren Rollen auf Distanz zu seinem frühen Image geht.

Sophie Rois in Max Linz' "Weitermachen Sanssouci"

Besprochen werden Max Linz' Mittelbau- und Drittmittelantrags-Satire "Weitermachen Sanssouci" (taz), Lou Yes chinesischer Thriller "The Shadow Play" (taz, Tagesspiegel), Jonah Hills "Mid90s" (Berliner Zeitung), Lemohang Jeremiah Moseses "Mother, I Am Suffocating. This Is My Last Film About You" (Tagesspiegel), Jean-Gabriel Périots "Nos défaites" (FAZ-Blog), Burak Çeviks "Aidiyet" (Tagesspiegel), Lei Leis Doku "Breathless Animals" (Perlentaucher), Igor Drljacas Doku "The Stone Speakers" (Perlentaucher), Florian Kunerts Dokumentarfilm "Fortschritt im Tal der Ahnungslosen" (Tagesspiegel), Santiago Lozas "Breve historia del planeta verde" (Tagesspiegel) und Miriam Blieses "Die Einzelteile der Liebe" (Tagesspiegel).

Für den schnellen Klick im Laufe des Tages immer wieder interessant: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de, die Festival-SMS von Cargo und selbstverständlich unser fortlaufend aktualisiertes Berlinale-Blog.