Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die die Dosentomaten ernten: Markus Imhoofs Doku "Eldorado" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
23.02.2018.


Die Goldfolie, auf die die Anfangstitel projiziert werden, sagt im Grunde schon alles: Dieses Gold, in das die Flüchtlinge eingepackt werden, wenn sie unterkühlt sind, ist das einzige, das der Goldene Norden ihnen geben wird. Markus Imhoofs Haltung ist allerdings weder anklägerisch, obwohl er eindeutig für die Flüchtlinge Stellung nimmt, noch sarkastisch, obwohl er den Zynismus der europäischen Politik am Ende in aller Klarheit offenlegt.

Davor schützt ihn, dass er ein Filmemacher und Erzähler ist: Er ist zu neugierig, als dass ihm die tragische Zwiespältigkeit des Geschehens entginge. Die Subjektivität seines Blicks unterstreicht er durch seine persönliche Geschichte: Sein Film ist so etwas wie ein Brief an seine italienische Flüchtlingsschwester Giovanna, denn seine Familie gehörte zu jenen Schweizern, die während des Zweiten Weltkriegs arme und verlauste Kinder aus Italien aufnahmen. Und auch hier verschweigt er die tragische Zwiespältigkeit des Arrangements nicht: Die Schweizer päppelten diese Kinder für eine begrenzte Zeit auf, weil die faschistischen Behörden es als Preis dafür verlangten, dass sie flüchtigen Juden die Transithäfen öffneten und damit eine Reise nach Amerika - statt der Schweiz! - ermöglichten.

Imhoof kommt mit seiner Kamera erstaunlich nahe ans Geschehen. Er begleitet ein Schiff der italienischen Marine und zeigt, wie routiniert die Rettungen inzwischen organisiert sind. Es ist ein Metier! Schon das Schiff scheint wie speziell dafür gebaut. Es öffnet ein riesiges Maul und entlässt daraus die Landungsboote, in denen die Flüchtlinge eingesammelt werden. Selbst die Flüchtlinge scheinen vorbereitet. Zunächst werden ihnen Rettungswesten gereicht, dann werden sie auf das Landungsboot gehievt. Die Soldaten sind von bewundernswerter Menschenfreundlichkeit angesichts des Elends, das ihnen in solchen Massen, zugeschoben von Schleppern, exklusiv gereicht wird: Immer noch ist es so, dass das EU-Land, in dem ein Flüchtling zuerst den Boden betritt, auch für das weitere Asylverfahren zuständig ist. Keine Verteilung auf andere europäische Länder.

Als das Schiff dann in einem sizilianischen oder süditalienischen Hafen landet, sind 1.800 Flüchtlinge an Bord. Eine reiche Ernte!

Die Aufnahme an Bord, die medizinische Untersuchung, die Abnahme der Fingerabdrücke - ja, jedem Flüchtling werden sie abgenommen, und es gibt eine europäische Datenbank - die Zuwendung, das Wasser, die Nahrung: Das Schiff ist eigentlich das beste, was Europa ihnen gibt. So gut wie keiner von ihnen hat eine Chance auf dauerhafte Aufnahme in Europa. Übrigens verschweigt Imhoof auch nicht, dass so mancher Mann seine Fingerabdrücke lieber nicht abgeben will.

Geduldig schildert Imhoof auch den Weg danach: Er führt bergab. Erste Station ist ein Flüchtlingslager mit Stacheldraht, dösenden Hunden und Nichtstun. Zweite Station, wenn die Flüchtlinge die Nase vom Lager voll haben, die Hölle der Tomatenproduktion. Sowohl die Flüchtlingslager, so scheint es, als auch die Tomatenproduktion sind von der Mafia organisiert. Als Landarbeiter sind die Afrikaner quasi Sklaven. Sie sind es, die die Dosentomaten ernten, die am Ende in unserer Nudelsoße blubbern. Sie leben in einem staubigen Ghetto aus notdürftigen Hütten. Ein Gewerkschafter hat Imhoof in dieses Dorf geführt. Seine Bilder sind mehr oder weniger heimlich gedreht. Er trifft dort auch einen jungen Mann von der Elfenbeinküste, der in bestens artikuliertem Französisch seinen Traum erzählt, in Italien zu studieren, um dann in sein Land zurückzugehen, um etwas aufzubauen.

Den Frauen ergeht es noch schlimmer: Sie müssen sich in dem Ghetto prostituieren. Imhoof konnte nicht filmen, was der Gewerkschafter erzählt: Am Sonntag bilden sich vor dem Ghetto mitten auf eine staubigen Ebene in Süditalien lange Schlangen von Italienern, die zu den Prostituierten gehen.

Manche Flüchtlinge schaffen es in die Schweiz, auch sie ohne Chance. Imhoof zeigt die Reduits aus Zeiten des Kalten Krieges, in die sie gepfercht werden, die freundliche Aufnahme in Putzkolonnen, die Interviews durch das Amt für Migration: In entwaffnender Naivität gibt der zuständige Beamte zu, dass er noch nicht einem einzigen Flüchtling aus Afrika einen dauerhaften Status als Flüchtling gegeben hat. Also werden sie abgeschoben, mit einem Flugticket und 3.000 Franken auf die Hand.

Es ist erstaunlich, aber bewundernswert, wie sanft Imhoof bis in die letzten Minuten seines Films bleibt, bewundernswert, weil es die Überzeugungskraft seines Films nur noch steigert. Bis zum Schluss verzichtet er aufs Appellative, setzt auf die Fähigkeit seiner Zuschauer zum Selberdenken und streut immer wieder die schöne und traurige Geschichte seiner italienischen Flüchtlingsschwester ein.

Aber Illusionen gestattet er nicht. Ein Milchbauer ist mit 3.000 Franken in den Senegal zurückgekehrt und hat sich für das Geld zwei Kühe gekauft, und zugleich kommt die Meldung, dass die EU-Milch dort nun nach Verhandlungen zollfrei verkauft wird. Die EU unterbietet den Preis ortsansässigen Bauern: Sie schafft selbst die Bedingungen, die die Leute zur Flucht treibt.

Der Film endet in Düsternis, wieder auf dem Meer. Die italienische Marine versucht nun die Flüchtlinge nicht mehr aufzunehmen, sondern übergibt sie den Libyern. Dabei kooperiert sie mit  gewendeten Schleppern. Diesen Flüchtlingen blühen Gefängnis und Sklaverei.

Dieser Film sollte im Bundestag gezeigt werden. Mit Anwesenheitspflicht für die Abgeordneten.

Eldorado. Regie: Markus Imhoof. Dokumentarfilm. Schweiz / Deutschland 2018. 92 Minuten (Vorführtermine).