Außer Atem: Das Berlinale Blog

Ein perverses Spektakel - der Montag im Pressespiegel

Von Thomas Groh
20.02.2018. Der Berlinale-Wettbewerb als zeithistorisches Seminar: Filme über die Operation Entebbe, Anders Breiviks Anschlag und die späte Romy Schneider - der Montag im Rückblick.

Szene aus Erik Poppes "Utøya 22. Juli"

Romy Schneider, die Operation Entebbe und der Anschlag auf Utøya: Der gestrige Wettbewerbstag stand eindeutig unter dem Zeichen der zeithistorischen Aufarbeitung. Wenig Verständnis hat dabei Perlentaucherin Thekla Dannenberg für Erik Poppes "Utøya 22. Juli", in dem Anders Breiviks brutaler Anschlag konsequent in Echtzeit und in einer einzigen Einstellung aus Perspektive einer Schülerin auf der Insel Utøya gezeigt wird: "Super professionell, alles ist auf die Minute genau kalkuliert, die Emotion des Zuschauers hält er so fest im Griff wie Breivik sein Gewehr. Aber es ist ein perverses Spektakel". Da solle man lieber nochmal Karl Ove Knausgards Reportage im New Yorker lesen, rät sie. "Künstlerische Meisterleistung oder nur ein Terrorporno", fragt sich David Steinitz in der SZ. Das Setting hat "etwas Obszönes", konstatiert auch Christina Bylow in der Berliner Zeitung: "Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, an das Trauma von Utøya auf eine reflektierte Weise zu erinnern. Dieser Film bleibt ohne Erkenntnis." Im Tagesspiegel hält Christiane Peitz Poppes Inszenierung indessen für "höchst integer": "Vielleicht hält man es deshalb kaum aus. Weil man sich den Film nicht mit ethisch-ästhetischer Kritik und dem Voyeurismus-Vorwurf vom Leib halten kann. Das Leid der Opfer von Utøya wird nicht spekulativ ausgebeutet, es wird der Vorstellungskraft nur so nahe gebracht, wie es einer Kamera eben möglich ist." Hanns-Georg Rodek fand den Film in der Welt "fesselnd". In der FAZ poliert Andreas Kilb schon mal den Goldenen Bären, den er diesem Film am liebsten heute schon verleihen würde.


Rosamund Pike als Terroristin Brigitte Kuhlmann in "7 Tage in Entebbe"

José Padilha versteht sich auf Filme über Sondereinsatzkommandos, erklärt Thekla Dannenberg im Perlentaucher: Vor zehn Jahren triumphierte er in Berlin mit "Tropa de Elite", jetzt ist er mit einem Film über die Entführung des Air-France-Flugs 139 nach Entebbe/Uganda zurück, der eine Elite-Einheit der israelischen Armee ein Ende bereitete. Immerhin "halbwegs wirklichkeitsgetreu" sei der Film geraten, sagt sie. Doch "eine Sache ist erstaunlich: Auch wenn PFLP und RZ unentwegt ihre antiisraelischen Deklarationen verlesen und die Solidarität mit den Palästinensern im Mund führen, interessiert sich der Film kein bisschen für sie. Das Drama machen Franzosen, Deutsche und Israelis unter sich aus." Welt-Kritiker Jan Küveler hat sich unterdessen gediegen gelangweilt: "Ganz nett", lautet sein Fazit. Der Film stelle "die Naivität des westdeutschen Linksradikalismus" gut dar, meint Andreas Fanizadeh in der taz, ohne aber von den filmischen Qualitäten des Films überzeugt zu sein: "Selbst wenn die von Padilha heroisch in Szene gesetzte Befreiungsaktion des israelischen Kommandos in Entebbe dumme Antisemiten auf der ganzen Welt ärgern dürfte, die antiquierte Filmsprache schleppt sich so dahin."


Marie Bäumer als Romy Schneider in "3 Tage in Quiberon"

Emily Atefs Romy-Schneider-Film "3 Tage in Quiberon", der sich auf die Entstehung des großen Stern-Interviews von 1981 in einem Kurhotel an der französischen Küste konzentriert, ist vor allem eine große Bühne für Marie Bäumer, die Romy Schneider spielt. Die Kritiker liegen ihr zu Füßen: Sie spielt die große traurige Diva "exzellent, trunken und hellsichtig, taumelnd zwischen Schwermut und Leichtsinn", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel. "Atemberaubend" findet es Thomas Groh im Perlentaucher, wie vollständig Bäumer hier in der Rolle aufgeht. Michael Meyns lobt in der taz die selbstauferlegte Beschränkung des Films: In dieser Momentaufnahme erzeugt der Film "eine Intensität, die in einem viele Jahre umspannenden Film unmöglich wäre. Ohne bekannte Stationen im Leben der Schauspielerin abzuhaken, ohne Aneinanderreihung von Künstlern, mit denen Schneider arbeitete, die sie liebte, gelingt Atef das Psychogramm einer sensiblen Frau, die ihre tiefsten Emotionen nie verbergen konnte." Einen "unglaublichen Sog, eine schwere Seelentiefe" bescheinigt Beatrice Behn dem Film auf Kinozeit. Kritischer sieht das Philipp Schwarz von critic.de: Der Film durchschaut zwar, "dass auch das Bild der tief fühlenden und unendlich traurigen Romy in erster Linie ein mediales Konstrukt ist, ganz auf die Bedürfnisse einer anonymen Öffentlichkeit abgestimmt", meint er. Doch interessiere er sich nicht dafür, dieses Konstrukt "aufzubrechen oder ihm nennenswerte neue Facetten hinzuzufügen, es wird vielmehr nur immer wieder aufs Neue unterfüttert".

Aus dem Wettbewerb besprochen werden außerdem Axel Peterséns und Mans Manssons "The Real Estate" (Tagesspiegel, Kinozeit, critic.de), Cédric Kahns "The Prayer" (critic.de) und Alexei German Jrs "Dovlatov" (Intellectures, Perlentaucher).

Susanne Ostwald kritisiert in der NZZ den Hashtag #BlackCarpetBerlinale, unter dem dazu aufgerufen wird, den Teppich des Festivals in Solidarität mit #MeToo schwarz zu färben. Dass auch Schauspielerinnen sich dazu verabreden könnten, gesammelt in Schwarz aufzutreten, gefällt ihr auch nicht: Das sei "so ungefähr das Gegenteil eines Sichtbarmachens des eigenen Standpunktes, von Freiheit und Selbstbestimmtheit".

Weitere Artikel: Der Berlinale-Wettbewerb huldigt der Literatur, schreibt Felicits Kleiner im Filmdienst. Für die taz spricht Eva-Christina Meier mit der Filmemacherin Katharina Mückstein, die ihren (im Tagesspiegel besprochenen) Film "L'Animale" im Panorama präsentiert. Für ZeitOnline spricht Wenke Husmann mit Franz Rogowski, der als European Shooting Star auf dieser Berlinale unter anderem in Christian Petzolds "Transit" zu sehen ist. Gunda Bartels (Tagesspiegel) und Susanne Lenz (Berliner Zeitung) berichten von einer Veranstaltung zu #MeToo. Sunny Riedel (taz) und Petra Kohse (FR) schreiben Nachrufe auf den Schauspieler Nazif Mujić, der vor fünf Jahren für seine Leistung in Danis Tanovićs "Aus dem Leben eines Schrotthändlers" mit dem Silbernen Bären als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde und jetzt verarmt gestorben ist.

Besprochen werden außerdem Sergei Loznitsas "Victory Day" (taz), Corneliu Porumboius "Fotbal Infinit" (Kinozeit), Kiyoshi Kurosawas "Foreboding" (critic.de), Gerd Kroskes "SPK Komplex" (Kinozeit), Kim Ki-Duks "Human, Space, Time and Human" (Kinozeit, critic.de), Tama Tobias-Machts und Johanna Sunder-Plassmanns Dokumentarfilm "Draußen" über vier Obdachlose (Freitag) und der Dokumentarfilm "Shut Up And Play The Piano" über Chilly Gonzales (Tagesspiegel).

Weiteres in aller Kürze vom Festival im Kritikerspiegel von critic.de und in den Festival-SMS von Cargo, sowie natürlich mehrfach täglich aktualisiert in unserem Berlinale-Blog.