18.02.2017. Das Festival ist gelaufen, die Kritiker ziehen Bilanz: Allzu große Begeisterung angesichts des Wettbewerbs herrscht nicht, dafür halten die Nebensektionen einige Perlen und viel Diskussionsstoff parat. Außerdem steht die Frage im Raum: Wer wird Kosslicks Nachfolger?
"I Am Not Your Negro" von Raoul PeckDie
Berlinale ist de facto zu Ende: Keine Premieren mehr, ab heute wird wiederholt und am Abend der Goldene Bär verliehen. Ziemlich gute Chancen
rechnet Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche
Sally Potters "The Party",
Iliko Enyedis "On Body And Soul" und
Alain Gomis'
"Félicité" aus. Das Festival habe einmal mehr seinen "Ruf als
Trutzburg des Kinorealismus bestätigt", schreibt Andreas Kilb in seinem Fazit in der
FAZ. Thomas Groh
bescheinigt dem Wettbewerb im
Perlentaucher einen
Rückzug aufs sichere Areal und eine mangelnde Spürnase für den Kino-Nachwuchs: Das Durchschnittsalter der Wettbewerbsregisseure liege bei
irgendwo jenseits der 50 - und fast alle wälzen sie in der einen oder anderen Form
Beziehungsprobleme.
Für Anja Seeliger (ebenfalls
Perlentaucher, zweiter Text
hier) stachen zwei Filme aus dem Programm heraus:
Nicolas Wackerbarths "Casting" und Raoul Pecks
"I Am Not Your Negro" über
James Baldwin und die Rassismuserfahrungen der schwarzen US-Bevölkerung. Über letzteren hätte sie sich eine engagiertere Debatte gewünscht. Auch im Wettbewerb wäre Pecks Film gut aufgehoben gewesen,
meint dazu Verena Lueken in der
FAZ: Der Regisseur schöpfe "aus einem
nicht versiegenden Reservoir von Material, das einerseits die Kontinuität von Gewalt und von staatlicher Gewalt zeigt, unter der die Afroamerikaner lebten und leben, das andererseits aber auch die weiße Fiktion einer sauberen Welt hinterm Gartenzaun in der Werbung, den Soaps und im Kino abbildet. Gerade in der Gegenüberstellung etwa von Doris Day und Ray Charles und in der schieren Masse fügt sich das alles zu einer
Collage des Horrors." Dazu passend
führt Philipp Stadelmaier in der
SZ durch die Festivalfilme, die sich thematisch mit der Geschichte und der Lebensrealität der afroamerikanischen Bevölkerung befassen. Und in der
FAZ bilanziert Andreas Platthaus die
fernöstlichen Wettbewerbsfilme, von denen ihn allerdings nur
"Mr. Long" des japanischen Regisseurs
Sabu überzeugen konnte.
Berlinale-Versäumnis: Nicolette Krebitz' "Wild"Auch
Grundsatzkritik gibt es natürlich. Auf
Artechock etwa
fordert Rüdiger Suchsland einmal mehr Dieter Kosslicks Kopf, wenigstens aber dessen vorzeitigen Rücktritt: "Es geht so einfach nicht (mehr).
Das Festival hat keine Würde. Keinen Begriff von Kino. Keine Wertschätzung für Besucher und Publikum." Als Nachfolgerin bringt er im übrigen Kirsten Niehuus vom Medienboard Berlin-Brandenburg ins Gespräch. Etwas differenzierter
formuliert das Matthias Dell im
Freitag, der auch andere Schlüsse zieht: Die Berlinale zeichne sich längst durch
Kunstferne aus, gerade was
deutsches Kino betrifft: "Mit dem letzten, ziemlich aufregenden Kinojahr hatten die größten Filmfestspiele des Landes nichts zu tun. Weder auf Nicolette Krebitz' eigenwillige Redomestizierungsfantasie
'Wild' (der Film lief dann beim Sundance-Festival) noch auf Maria Schraders Stefan-Zweig-Biopic 'Vor der Morgenröte' legte die Berlinale Wert." Dell hofft daher, dass "bei der Nachfolgeregelung die Möglichkeit mitgedacht wird, dass es nicht nur
jemand '
gut Vernetztes'
aus der deutschen Filmförderverwaltung werden kann, der schon mal auf Fotos mit Stars zu sehen war und den Laden am Laufen hält."
Etwas befremdlich
mutet unterdessen die Abrechnung des
Philosophen Byung-
Chul Han an, der in der
Welt mit einer wild um sich schlagenden Polemik auf sein Missfallen des Festivals aufmerksam macht. Festival, Filme, Psychologie,
Seelennudismus - alles eins, alles fürchterlich. Einmal verirrte er sich im Berlinalegebäude: "Unfreiwillig befand ich mich mitten im Betrieb, ja im Inneren der Berlinale. All ihre Mitarbeiter erschienen mir
wie Zombies, wie Fachidioten, die nichts sahen außerhalb des kleinen Bildschirmes, den sie vor sich hatten. Das Gebäude der Berlinale erschien mir wie das 'Schloss' von Kafka, dessen Schlossherr nun Dieter Kosslick heißt." Vielleicht ist der Philosoph aber auch einfach bloß gekränkt, weil das Festival seinen im letzten Sommer gedrehten Liebesfilm nicht zeigen wollte?
Besprochen werden die letzten Wettbewerbspremieren vom Donnerstag: Liu Jians Animationsfilm "Have a iNice Day" (
taz,
Tagesspiegel,
Berliner Zeitung, unsere Kritik
hier) und
Călin Peter Netzers "Ana, mon amour" (
taz,
Tagesspiegel).
Mit
Julian Radlmaiers "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" hatte die Berlinale in der Nebensektion "Perspektive Deutsches Kino" in allerletzter Minute noch ein echtes Highlight versteckt, schreiben die Kritiker. In dem dffb-Abschlussfilm geht es um einen arbeitslosen Jungregisseur, der Mädchen imponieren will und sich deshalb als
beinharter Kommunist ausgibt. Eine tolle, intelligente Satire,
meint Gunda Bartels im
Tagesspiegel: "Radlmaier [beackert] die Utopie ebenso wie das Bemühen linker Kreise, sich im Reden darüber einen
radical chic zu verleihen. Die dafür gewählte komödiantische,
freie essayistische Form entspringt einer langen Ahnenreihe filmischer Vorbilder, die der theoretisch wie historisch beschlagene Radlmaier aus dem Effeff zu nennen weiß. Von Chaplin über Renoir, Godard über Pasolini bis Fassbinder ist alles dabei."
Perlentaucherin Thekla Dannenberg
sah "natürlichen echten Absolventenstoff: Filmtheorie und revolutionäre Praxis, Hipstertum und Ironie, Betriebssatire und Selbstreflexion in schlichten und schönen Bildern.
Sehr meta. Aber auch sehr doppelbödig,
sehr intelligent und vor allem
ungeheuer komisch. Ein sympathischer und passender Film am Ende der Berlinale. So viel Kritik am System Kunst wird bestimmt
mit begeisterter Umarmung bestraft werden!"
Weiteres: Für
Cargo hat Ekkehard Knörer ein sehr schönes, da
konstruktiv-kritisches Gespräch mit
Josef Hader über dessen Wettbewerbsfilm
"Wilde Maus" geführt. Im
FAZ-Blog
empfiehlt Bert Rebhandl den im Forum gezeigten, kollektiv produzierten "Spell Reel" über den Befreiungskampf in Guinea-Bissau in den 70ern. Für die
taz spricht Fabian Tietke mit
Gurinder Chadha, deren Wettbewerbsfilm
"Viceroy's House" vom Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien handelt.
Fabian Federl
spricht für den
Tagesspiegel mit der Schauspielerin
Lolita Chammah, die in zwei Festivalfilmen zu sehen war.
Welt-Kritikerin Cosima Lutz
lässt es sich in der Neben-Nebensektion "Kulinarisches Kino" schmecken.