Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berauschende Meditation: Michael Glawoggers 'Untitled' (Panorama)

Von Thomas Groh
13.02.2017. "Untitled" ist das von Monika Willi fertiggestellte Vermächtnis von Michael Glawogger: Der österreichische Filmemacher erlag während den Dreharbeiten einer Malaria-Erkrankung. Das Ergebnis zählt zu den besten Filmen des Festivals.


Ein Jahr lang um die Welt reisen, immer der eigenen Neugier und Neigung nach - das war die Idee des österreichischen Filmemachers Michael Glawogger, als er sich im Dezember 2013 für sein Dokumentarfilmexperiment "Film ohne Namen" mit Kameramann Attila Boa und dem Tonmann Manuel Siebert in einem VW-Bus auf den Weg machte. Süddeutsche und Standard brachten in losen Abständen sein Reisetagebuch, das teilhaben ließ an der Erkundung der Welt. Entstehen sollte auf diese Weise ein Film ohne Absicht und Thema, eine Ernte von Bildern und Eindrücken - ein simples, wunderbar freies Konzept. Weit gekommen ist Glawogger allerdings nicht. Schon im April des folgenden Jahres erlag er in Liberia der Malaria. Noch am Tag zuvor hatte der Standard einen Text von ihm veröffentlicht, dem nichts abzuspüren war vom baldigen Tod. Die internationale Cinephilie war entsetzt angesichts dieser Unglücksnachricht.

Immerhin 70 Stunden Videomaterial waren bis dahin zusammengekommen. Wie mit diesem brach liegenden Schatz umgehen? Die renommierte Schnittmeisterin Monika Willi ("Wilde Maus" im Wettbewerb hat sie ebenfalls montiert) hat ihn gesichtet und in Form gebracht - ein langer, von argen Zweifeln und Skrupeln belasteter Prozess, wie Willi im Profil-Interview anmerkt. Um den eigenständigen Charakter dieser Vorgehensweise zu markieren, weisen die Credits Willi als Co-Regisseurin aus. Entstanden ist in diesem Prozess "Untitled" - ohne zu übertreiben einer der besten Filme des bisherigen Festivalverlaufs. Einmal mehr fragt man sich, wie die oft kurios anmutenden Entscheidungen der Berlinale zustande kommen. "Untitled" wäre ohne weiteres wettbewerbstauglich. Nicht nur als Geste gegenüber dem tragisch Verstorbenen, dessen Arbeiten regelmäßig in Berlin liefen, wäre dies naheliegend gewesen. Sondern auch als Respektsbekundung gegenüber der oft in die Nebensektion verbannten dokumentarisch-essayistischen Form, der in diesem Jahr sogar ein eigener Preis gewidmet wird, nachdem im letzten Jahr mit "Fuocoammare" bereits ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewonnen hat.



Doch zurück zum Wesentlichen. Begleitet von Michael Mitterers Experimentalmusik und unterlegt von Glawoggers literarischen Notizen und Fragmenten ist "Untitled" eine berauschende Meditation über Welterfahrung im doppelten Sinn des Wortes - als experience und als Fahrt. Oft sind es Menschen in Bewegung, die Glawogger zeigt - oft zielt deren Vektor in die Tiefe des Raums. "Untitled" ist ein Film ohne Lebensmittelpunkt - ein nomadisch entstandener Film über quasi-nomadisches Leben an der Peripherie. "Der schönste Film, den ich mir vorstellen kann, ist einer, der nie zur Ruhe kommt", sagt Glawogger auf der Tonspur zu Beginn.

Damit einher geht etwas, das zum Wertvollsten zählt, was das Kino bietet: Die Fremderfahrung - nicht im Sinn touristisch-postkartenhafter Vermittlungsexotik, sondern als Erfahrung fremder Umstände, fremder Lebenswelten. "Untitled" versucht gar nicht erst zu erklären, sondern belässt es beim Bezeugen: Wo ein gängigerer Film - mit einer Geschichte oder einem Thema - auf das Gezeigte beharrt und normativ in den Status einer Ikone erhebt ("Dies eine - jetzt"), folgt "Untitled" eher zentrifugalen Kräften ("Dies alles - währenddessen"). Und das wohlgemerkt ohne den Synchronizitäts-Schmus, mit dem irgendwelche "Ein Tag in der Welt auf Youtube"-Projekte hausieren gehen. "Untitled" spitzt die Welt nicht zu, ordnet nicht unter - er findet die Welt vor.


Interview: Michael Glawogger über Reisen und Kino

Und was für grandiose Eindrücke diesem reichen Film glücken. Oft sind es nur Details, die aber völlig gefangen nehmen: Die unfassbar fleischigen, fast tonnenartigen Schenkel eines Ringers etwa. Die ungeheuren Kräfte, die Männer bei der Massage im Hamam aufeinander ausüben, wie sie einander verbiegen, bis an die Grenze zum Brechen des Körpers. Oder ein ungeheuer erhabener Moment: Eine Brache mit Eseln, an in den Boden gerammten Stangen festgezurrt. Einer von ihnen, so scheint es, legt alles je erfahrene Leid in seinen Kehlkopf und presst es in einem laut meckernden Klagelied unter bebenden Flanken wieder hinaus in die Welt - Gänsehaut. Oder: Ein schier endloser Güterzüg, der die Wüste mit seinen stählernen Waggons entzweit.

Einzelne Motivtypen bilden sich heraus: Der menschliche Körper in seinen vielfältigen Formen etwa bildet ein sichtliches Faszinosum. Zu sehen sind ekstatische Körper - die Ringer oder Masseure etwa, ein wild agitierter Prediger, dann Tänzer in afrikanischen Shanty Towns oder ein rasantes, unglaublich elanvolles Fußballspiel zwischen Amputierten am Strand. Und kontrollierte Körper - auf den Müllplätzen der globalen Peripherie etwa, wo die Leute noch das letzte bisschen Rest an Wert aus dem Abfall ziehen, oder in den sandigen Flüssen Afrikas beim Seihen nach kleinsten Diamantenbröseln.



Über Glawoggers im Voice-Over (nicht von ihm) eingelesene Splitter und Fragmente schält sich bald ein bestimmendes Thema heraus: Totales, ungebundenes, riskantes, urwüchsiges Leben jenseits der Komfortzonen bürgerlicher Rückzugsorte. Die Bilder korrespondieren bald damit und machen kontrastiv die Unterschiede kenntlich zwischen dem urbanen Leben und einem Leben unter ökonomisch prekärsten Bedingungen: Ein kleines Mädchen etwa schleppt da im tiefsten Winter die Kettensäge ihres Vaters, der im Wald gerade geholzt hatte, den Hügel hinab - keine Handschuhe, kaum nennenswerte Winterkleidung, die Säge ungeschützt. Jeder rutschbedingte Sturz auf dem Schnee birgt Verletzungsgefahren. Andernorts laufen zwei Männer durch einen im Winter völlig vereisten Rohbau eines Hauses - sehr selbstverständlich steigen sie die schlittrigen, geländelosen Treppen herunter. Irgendwo in Afrika prügeln sich schließlich, unter Gejohle der Leute ringsum, zwei Männer. Nicht bis aufs Blut, aber es geht sichtlich um etwas. Der Ort, an dem sie einander in die Mangel nehmen, ist gesäumt von Felsbrocken, jeder eine offene Einladung, sich bei einem unglücklichen Verlauf der Auseinandersetzung zünftig den Schädel zu brechen.

Die Welt, sagt "Untitled", ist reicher an Erfahrungen, als wir es uns je ausmalen könnten. Und sie ist um ein Vielfaches ärmer, als es uns liberalen, guten Menschen lieb sein kann. "Untitled" rüttelt nicht auf, klagt nicht an - sondern beobachtet, lässt Wirkungen und Intensitäten zu. Er zeigt die Brüchigkeit der Zivilisation, die ganz und gar nicht selbstverständliche Tatsache eines wattiert-kokonisierten Alltags. Er zeigt, auf wie geradezu irrwitzige Weise unwahrscheinlich das heile Überleben eigentlich ist. Mit bekannter, bitterer Konsequenz.

Untitled, Österreich/Deutschland 2017. Regie: Michael Glawogger, Monika Willi. Kamera:Attila Boa. 107 Minuten. (Vorführtermine)