Außer Atem: Das Berlinale Blog

Flucht in die Poesie: Sylvain L'Espérances 'Combat au bout de la nuit' (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
13.02.2017.
Ganze fünf Stunden lang widmet sich der kanadische Filmemacher Sylvain L'Espérance in seiner Dokumentation der Krise in Griechenland. Kein europäischer Regisseur hat je ein solch ambitioniertes Projekt zustande gebracht. Das muss man gleich in mehrfacher Hinsicht bedauern. Denn diese tiefgreifende Krise hat ja nicht nur das griechische Staatswesen, seine Ökonomie, seine Politik und seine Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs geführt, sondern auch die EU. Es ist fast schon beschämend, dass sich der europäische Dokumentarfilm so wenig für Griechenland interessiert wie die Medien, die sich mit dem Land nur dann befassen, wenn es wieder einmal vor der Zahlungsunfähigkeit steht oder wenn gerade keine andere Krise zur Hand ist.



An den Anfang seiner Dokumentation setzt Sylvain L'Espérance die Schaltzentralen der Politik, das Parlament in Athen und die EU-Kommission in Brüssel in ihrer Undurchdringlichkeit in Szene: Im vielsprachigen Stimmengewirr werden ökonomische Daten, finanzielle Entscheidungen und politische Prozeduren verhandelt. Kein Mensch kann sich einen Reim darauf machen, was diese gesichtslose Technokratie dort verhandelt, sagt uns L'Espérance und schneidet dann die Griechen dagegen, die den sozialen Kollaps ihres Landes erleben, erleiden und aufzuhalten versuchen. Er zeigt soziale Aktivisten aus dem Athener Stadtteil Exarchia, die sich um Obdachlose kümmern; Werftarbeiter, die sich über die Oligarchie der Reeder empören und gemeinsam die alten Kampflieder von Mikis Theodorakis singen; Flüchtlinge aus Westafrika, die ihr ganzes Leben in einer Plastiktüte mit sich herumtragen und auf einem Markt all das verkaufen, was sie aus den Athener Mülltonnen fischen konnten. Ein junger Hirte aus dem Niger, der bereits als Junge mit seiner Herde durch die gesamte Sahelzone zog, sagt ganz ohne Bitterkeit."Das Leben hält für den Menschen viele Lektionen bereit."

Besonders zärtlich erzählt er vom Kampf der 595 Putzfrauen aus dem Finanzministerium, die der einfallsreiche Hausherr als erstes auf die Straße setzen wollte. Über ein halbes Jahr lang haben sie Tag für Tag vor seinem Dienstsitz demonstriert, mit einer Power und einem Temperament, die in anderen Teilen Europas kaum denkbar wären, und das nicht nur nördlich der Alpen: "Geschichte beginnt mit zivilem Ungehorsam", skandieren sie auf ihren bestens organisierten Demonstrationen.

Sehr interessant sind auch die Ärzte aus einer allein über Spenden finanzierten Sozialklinik. Ein Neurologe berichtet, dass in seiner staatlichen Klinik, wo er eigentlich beschäftigt ist, nur noch zehn Ärzte arbeiten, dabei reichte es nicht mal, als sie noch fünfundvierzig waren. Aber sie wissen, es ist nicht die Armut, die das System zerschleißt, sondern Dysfunktionalität: In den Kliniken wimmelt es von Patienten, die zu Fantasiepreisen mit Psychopharmaka behandelt werden, obwohl ihnen rein gar nichts fehlte. Sie konnten halt schlecht schlafen.

In seinen besten Momenten vermittelt L'Espérance in seinem "Kampf durch die Nacht" tatsächlich ein Gespür dafür, wie existenziell die Not der Menschen ist, wie verzweifelt und hoffnungslos ihre Lage. Er lässt die zu Wort kommen, die außen vor bleiben, das ist ehrenwert und bewegend, aber nicht immer ein Vorteil, wenn man sich tiefere Einblicke erhofft. Selten kommen jene zu Wort, die - wie die Ärzte der Sozialklinik - auf echte oder auch neuere Erfahrung zurückgreifen können. Man erfährt an keiner Stelle, was sich in den vergangenen sieben oder acht Jahren verändert hat.

Vieles bleibt Rhetorik in diesem Film, Anklage und Lamento, Arbeiterkampf-Romantik und Revolutionslyrik. L'Espérance rekurriert auf die alten Poeten des Widerstands, auf Iakovos Kambanellis und Tassos Livaditis, die in Griechenland noch immer hoch in Kurs stehen, dabei hätten die heutigen Dichter, Theatermacher oder Intellektuelle doch bestimmt auch etwas zu sagen. Nach fast zehn Jahren Griechenland-Krise, nach Alexis Tsipras' dramatischem Politik-Schwenk, nach Flüchtlingskrise, populistischem Gespensterzug quer durch Europa und Brexit flieht L'Espérance vor der komplizierten Gemengelage in die Poesie. Die Europäer sollten den Film als Aufforderung verstehen, sich mit den griechischen Realitäten auseinanderzusetzen.

Thekla Dannenberg

Combat au bout de la nuit. Regie: Sylvain L'Espérance. Dokumentarfilm. Kanada 2016. 285 Minuten. (Vorführtermine)