Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die Leinwand wird zu Fell - Die Berlinale-Presseschau zum 13.02.2017

Von Thomas Groh
13.02.2017. Nicolas Wackerbarths "Casting" ist ein Kritikererfolg, nicht nur beim Perlentaucher: "  Eine Satire auf die senderdominierte Filmproduktion in Deutschland, eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Neuen Deutschen Films, ein Spiel mit Machtkonstellationen und Geschlechterrollen." Andere Zeitungen vergeben schon Goldene Bären, zum Beispiel an Agnieszka Holland.

Auf zur Bärenjagd: "Pokot" von Agnieszka Holland

Die Berlinale läuft sich (lau-)warm. Von großen Konsensfavoriten fehlt bislang allerdings noch jede Spur. Für Susanne Ostwald von der NZZ ist Agnieszka Hollands im polnisch-tschechischen Grenzland spielender Kimi "Pokot" um eine wunderliche alte Tierschützerin immerhin schon der erste aussichtsreiche Bärenkandidat: "Holland ist nichts heilig, und sie schafft in ihrem Film eine unbequeme Atmosphäre der moralischen Ambiguität, bei der ausnahmslos alle ethischen Standards auf den Prüfstand gestellt werden - eines jeden Motive sind egoistisch, Altruismus bleibt ein wohlfeiler Traum. Es ist eine ätzende Gesellschaftssatire, die Holland uns präsentiert." In der FAZ moniert Andreas Kilb allerdings, dass sich Holland bis zum Schluss nicht entscheidet, ob ihr Film eine Öko-Thriller-Farce sein soll oder eine politische Allegorie: "Und das ist in ihrem Fall keine Tugend, sondern ein Handicap, denn weil der Film keine klare Haltung zu seinem Stoff hat, findet er auch in seinen Bildern keinen Halt." Auch Philipp Schwarz winkt auf critic.de ab: Hier werde der "Strom des Unausweichlichen zu einem sachten Rinnsal verdünnt" - und das über die Länge des gesamten Films. Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche sah einen "auf entspannte Weise ambitionslosen" Film. In der FR fragt Daniel Kothenschulte ungläubig: "Sollte dieser bemüht augenzwinkernde Film das Beste sein, was vom bis vor kurzem blühenden polnischen Kino derzeit zu ernten ist?"

Besprochen aus dem Wettbewerb werden weiterhin Stanley Tuccis Biopic über den Bildhauer Alberto Giacometti (Tagesspiegel, kino-zeit.de), Josef Haders "Wilde Maus" (taz, Berliner Zeitung, Welt, unsere Kritik hier), Alain Gomis' "Félicité" (taz, kino-zeit.de, Perlentaucher), Gurinder  Chadhas "Viceroy's House" (taz, Tagesspiegel),  "The Dinner" mit Richard Gere (Tagesspiegel, unsere Kritik hier) und das außer Konkurrenz gezeigte "Trainspotting"-Sequel (ZeitOnline, taz, unsere Kritik hier). Dominik Kamalzadeh (Standard), Bert Rebhandl (FAS) und Daniel Kothenschulte (FR) resümieren das bisherige Festival.


Festivalhighlight: "Casting" von Nicolas Wackerbarth im Forum

Die kleinen, aber feinen Perlen findet man unterdessen im Forum. "Casting" von Nicolas Wackerbarth zum Beispiel ist für Perlentaucherin Anja Seeliger der bislang beste Film des Festivals. Darin geht es um die abstruse Idee, zum 75. Geburtstag Fassbinders seine "Bitteren Tränen der Petra von Kant" fürs Fernsehen neu zu drehen. Der Film beobachtet die oft schmerzlichen Dynamiken zwischen Regie und Schauspielern, schreibt Seeliger: "Es ist ganz sinnlos, seine Sympathien auf eine Figur zu setzen, denn das Machtgefüge verändert sich ständig: Mal ist der eine obenauf, mal der andere. Und die, die gerade noch verzweifelt waren, werden, sobald sie obenauf sind, sofort selbst zu Arschlöchern. Der Film führt das ohne Zynismus vor. Er zeigt vielmehr, dass auch der Prozess zwischen Drehvorbereitungen und Film fließend ist." Philipp Schwarz von critic.de fühlt sich fast etwas überfordert von dem Film: "Eine Satire auf die senderdominierte Filmproduktion in Deutschland, eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Neuen Deutschen Films, ein Spiel mit Machtkonstellationen und Geschlechterrollen - der Film wechselt so beständig seine Gestalt, dass man oft unschlüssig ist, wie man sich zu ihm verhalten soll, mit welchen Fragen und in welcher Sprache man sich ihm nähern soll."


Offen und frei: "Aus einem Jahr der Nichtereignisse"

Großen Anklang findet auch Ann Carolin Renningers und René Frölkes Super8-Porträtfilm "Aus einem Jahr der Nichtereignisse" über einen 90 Jahre alten Bauern und dessen verfallenden Bauernhof. "Eine unglaubliche Zähigkeit und Sturheit bildet sich da ab", schwärmt Lukas Foerster im Perlentaucher und frohlockt darüber, dass sich hier kaum unterscheiden lässt, wo Katzenhaar im Filmbild aufhört und das Filmkorn anfängt: Mal kommt man den Katzen auch "so nahe, dass die ganze Leinwand Fell wird." Sehr angetan ist auch Katrin Doerksen von dem Film: "Dem rücksichtslosen Voranschreiten der Zeit, ihren hinterlassenen Spuren haftet aber auch etwas Tröstliches an", schreibt sie auf kino-zeit.de. "Halten Nachwuchsfilmemacher die Kamera auf die Alten, ist meist familiärer Ballast die Intention - man leistet Traumabewältigung oder Trauerarbeit, erliegt in Torschlusspanik einem zu spät erkannten Konservierungszwang. 'Aus einem Jahr der Nichtereignisse' ist in dieser Hinsicht bemerkenswert offen und frei. Er dokumentiert, ohne daraus bemühte Schlussfolgerungen abzuleiten, zu bekehren oder erziehen."

Besprochen werden ferner unter anderem die im Forum gezeigte Restaurierung von Fernando Birris dreistündigem Experimentalfilmepos "ORG" aus dem Jahr 1977 (Welt, unsere Kritik hier) und die arktischen Filme der NATIVe-Reihe (taz). Weiteres und mehr über den Tag verteilt in den Berlinale-Schwerpunkten der berichterstattenden Zeitungen und Magazine, namentlich FAZ, taz, Tagesspiegel, critic.de, kino-zeit.de, epdFilm und Filmdienst. Unverzichtbar für schnelle Updates: Der Kritikerspiegel von critic.de und die SMS der Cargo-Kritiker. Unser Berlinaleblog finden Sie hier.

Bonus: Bei der "Woche der Kritik" diskutieren die Filmemacherin Jutta Brückner, der Filmkritiker Didi Cheeka und der nigerianische Regisseur Abba T. Makama, dessen Film "Green White Green" die "Woche" zeigt, unter der Moderation des Filmkritikers Nino Klingler - eine Videoaufzeichnung: