Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dann sind da noch die Tiere: Ildiko Enyedis 'On Body And Soul' (Wettbewerb)

Von Thomas Groh
10.02.2017.


Mária (Alexandra Borbély) ist so elfengleich durchsichtig, dass sie schon vor dem bisschen Sonnenschein, der am Boden auf ihre nackten Zehen fällt, wie ein Reh zurückschreckt, wenn sie in der Arbeitspause im Hof des Schlachthauses an einem Betonpfeiler steht. Vielleicht ist sie aber auch einfach nur ungeheuer darauf bedacht, dass so schnurgerade Linien, wie sie der Schatten auf dem Boden zieht, nicht einfach ohne weiteres unterbrochen werden. Ja, doch, letzteres ist der Fall. Krümel auf dem Tisch sind ihr ein Gräuel. Ist die eben geschlachtete Kuh zwei Millimeter fetter als die Regularien es vorschreiben, landet das Rind unweigerlich in der Qualitätsklasse B. Zwischenmenschlicher Kontakt wird aufgelöst ins Robotische. Berühren geht gar nicht, dafür kann sie aus dem Effeff die Krankheitstage ihrer Jugend referieren oder selbst Wochen später noch den fünften bei der ersten gemeinsamen Begegnung gesprochenen Satz aufsagen.Vielleicht auch deswegen findet der Finanzdirektor des Schlachthauses, Endre (Géza Morcsányi), sie erstmal interessant.

Über den Körper und die Seele. Mária ist seelisch beeinträchtigt - jedenfalls, wenn man gängige gesellschaftliche Maßstäbe anlegt -, Endre dagegen körperlich: Sein rechter Arm ist gelähmt. Beide nähern sich im Verlauf des Films an, stoßen sich ab, nähern sich an.

Und dann sind da noch die Tiere. Nicht nur die Kühe im Schlachthaus, die mit wissend-melancholischem Blick ihrem Schicksal entgegen sehen (aufgepasst, zartbesaitete Mitmenschen, der Film ist nicht eben zimperlich). Sondern auch der Hirsch und die Hirschkuh. Immer wieder schiebt die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi (ziemlich fantastisch fotografierte) Szenen dieser beiden Tiere ins Filmgeschehen ein. Wie sie einander im schneeverwehrten Wald umkreisen und sich beim Trinken am Bach mit der Nase bestupsen. Mal berühren sie einander zärtlich, dann bleiben sie wieder vorsichtig auf Distanz und schauen.

Man könnte das für Metaphorik für Beknackte halten. Tatsächlich funktionieren diese Szenen aber im Sinne eines magischen Realismus: Es handelt sich dabei um die Träume, die Mária und Endre gemeinsam träumen. Dies bringt eine Psychologin ans Tageslicht, die Profile der Mitarbeiter im Schlachthaus erstellt.

Enyedi lässt ihren Film angenehm schweben. Ihren Figuren nähert sie sich mit zugewandter Sympathie. Der Humor ist leise und spröde, manchmal etwas skurril, aber nie so, dass eine Figur desavouiert würde oder gar der Duft parfümierter Arthaus-Einheitsware im Raum steht: Da sind schon die Spitzen ins Körperliche vor, wenn etwa Kühe zerlegt oder andere Menschenkörper in Mitleidenschaft gezogen werden. Schön ist der zärtliche Blick im Detail (Kamera: Máté Herbai), etwa wenn Mária einen Dialog mit Endre für sich zuhause mit Gewürzspendern nachspielt und dabei jede Rille im Holz sichtbar wird - in solchen Momenten entwickelt "On Body and Soul" tolle taktil-konzentrierte Qualitäten.

Grandios aber sind diese Tiere: Wie Hirsch und Kuh umeinander scharwenzeln, erstaunt in die Kamera blicken, dampfend aus- und einatmen - da kommen Freunde sanft mystischer Tier-Kryptik im Kino voll auf ihre Kosten. Kein herausragender Film, aber eine sympathische Nettigkeit im Wettbewerb. Freundlicher Applaus in der Pressevorführung.

On Body and Soul, Ungarn 2017. Regie/Buch: Ildikó Enyedi. Kamera: Máté Herbai. Mit: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi, Réka Tenki, Zoltán Schneider, Ervin Nagy, u.a. 116 Min. (Vorführtermine)