10.02.2017. Ärger mit der Embargo-Regelung. Enttäuschung über den Eröffnungsfilm. Aber im Forum wartet ein Meisterwerk aus Korea darauf, entdeckt zu werden. Der erste Tag in der Presseschau.
Großer
Ärger bei
critic.de: Die Berlinale hat einem Autor des Magazins damit gedroht, ihm die Akkreditierung zu entziehen. Der Grund: Ein Vorabüberblick über die Filme der Sektion "Perspektive Deutsches Kino", der nach Ansicht des Festivals die
Embargo-
Regelung gebrochen habe. Filme, die auf dem Festival ihre Weltpremiere haben, dürfen nämlich seit einigen Jahren erst zu Beginn der ersten Vorstellung auf dem Festival besprochen werden - eine Regelung, die insbesondere für Online-Redaktionen eine zusätzliche Arbeitsbelastung darstellt. Unüblich sind solche Vorabartikel aber keineswegs,
sagt die Redaktion: "Überblicksartikel mit Wertungen zu einzelnen Filmen veröffentlichen u.a. der Berliner
Tip, die
Berliner Zeitung und viele andere
Printpublikationen. Auch wenn sicher streitbar ist, wo ein solcher Artikel aufhört und eine Kritik beginnt: Angesichts dessen, dass weder unsere Texte aus den Vorjahren noch vergleichbare Artikel von Kollegen ein Problem darstellten, liegt der Verdacht nahe, dass die Berlinale
immer restriktiver wird. ... [Sie] steht bei den großen internationalen Premierenfilmfestivals allerdings allein auf weiter Flur: Weder Cannes noch Venedig kennen vergleichbare
Einschränkungen der Pressefreiheit."
Zurück zum regulären Festivalbetrieb: Mit
Etienne Comars "Django" über eine Episode im Leben des Jazzers
Django Reinhardt zu Zeiten des Nationalsozialismus hat das Festival gestern offiziell die Fahrt aufgenommen. Nach der Pressevorführung herrschten allerdings eher lange Gesichter: "Zu Django Reinhardts großen Liedern (...) kann man sich nur
im Einklang mit den Nazis auf der Leinwand wiegen. Das ist für eine Gala-Vorstellung schon entschieden sperrig",
schreibt Thekla Dannenberg im
Perlentaucher. Richtig eng
fühlte sich Lukas Stern von
critic.de angesichts all der "faden Künstlerklischees" und der vorformatierten Ästhetik des Films: "Musik und Musizieren gehören für Comar ins
Funktionsgefüge wie die trübe Bräune, die über seinen Bildern liegt, oder der mozarteske Geniehabitus seiner Hauptfigur."
Beatrice Behn von
kino-zeit sah in dem Film eine Häufung von Klischees. Der wichtige politische Film, den die Berlinale gerade gut gebrauchen könnte, ist dies gerade nicht, ärgert sie sich: "Ein Werk voller Gesten, das politisch sein will, es sich aber
nicht traut und doch lieber irgendwo zwischen Feel-Good-Movie und Drama changiert." Der Film habe auch rein handwerklich seine Schwächen,
seufzt Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: "Der filmische Rhythmus
holpert und was die Inszenierung an Schwung vermissen lässt, muss mit
überdeutlichen Gesten erzählt werden", doch die Musik Reinhardts entschädige am Ende dafür doch. Immerhin einigermaßen solide
fand den Film
taz-Kritiker Tim Caspar Boehme: "Comar [inszeniert] mit Mitteln, wie man sie vom
historischen Ausstattungskino gewohnt ist." Das ist ja gerade das Problem,
schreibt dazu Dominik Kamalzadeh im
Standard: Der Regisseur lasse "keine
noch so ausgehöhlte Konvention des Historiendramas aus." Josef Engels von der
Welt hingegen
sah den "perfekte Einstieg für die traditionell problembewusste Berlinale, die sonst bei der Eröffnung
gerne mal ein Auge zudrückt". Letzteres wünschen wir uns in Sachen Embargoregelung dann auch vom Festival.
Weiteres: Bei der
Woche der Kritik wurde über
Film und Politik diskutiert und inwiefern die Berlinale nicht einem illustrativen Politikbegriff folgt,
berichtet Christian Blumberg im
Tagesspiegel. Kai Müller
stellt, ebenfalls im
Tagesspiegel, Filme aus der
NATIVE-Reihe vor. Jörg Wunder (
Tagesspiegel) und Thomas Groh (
Perlentaucher) führen durch das Programm der
Science-
Fiction-
Retrospektive. David Steinitz bespricht in der
SZ die heute außer Konkurrenz gezeigte Fortsetzung des 90er-Kultfilms "Trainspotting", der "ein sehr schöner Film geworden [ist], weil er in der Tradition des Originals steht, das vertraute Terrain aber auch verlässt." David Assmann
sichtet für den
Tagesspiegel im Panorama Filme über ein
geschundenes Europa.
Visuelles Meisterwerk aus Korea: Obaltan (1961)Nur wärmstens empfehlen
kann taz-Kritikerin Barbara Wurm den koreanischen Film "Obaltan" von 1961, den das Forum
morgen als restaurierte Wiederaufführung zeigt: "visuell und dramaturgisch ein Meisterwerk ... eine
modernistisch-
neorealistische Asia-
Perle." Wer nicht in Berlin weilt, kann sich
auf Youtube davon überzeugen. Für den
Tagesspiegel stellt Daniela Sannwald die zwei südafrikanischen Filme "Vaya" und "The Wound" (unsere Kritik
hier) vor, die das Panorama zeigt. Für die
taz porträtiert Jenni Zylka die Kostümgestalterin
Milena Canonero, die die Berlinale mit einer Hommage würdigt (siehe dazu auch
unseren Artikel). Daniel Kothenschulte
freut sich in der
FR auf
Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" im Wettbewerb. Außerdem
porträtiert Kothenschulte den Künstler
Ólafur Eliasson, der in der Wettbewerbsjury über die Bärenvergabe mitentscheidet. Carolin Haentjes (
Tagesspiegel) und Elise Graton (
taz) geben Tipps zum Kurzfilmprogramm. Viele Filme, die auf Filmfestivals vollmundig gepriesen werden, schaffen im Anschluss dann doch nicht den
Sprung in den regulären Betrieb, ist Susanne Ostwald von der
NZZ aufgefallen. Für die
Berliner Zeitung spricht Patrick Heidmann mit dem Juryvorsitzenden
Paul Verhoeven, den Matthias Wittmann im
Freitag würdigt.
Besprochen werden aus dem Forum
Ashley McKenzies Drogen- und Entzugsfilm "Werewolf" (
critic.de) und aus der Retrospektive
Konstantin Lopuschanskis postapokalyptisches Drama "Brief eines toten Mannes" (
taz).
Für die Orientierung auf den schnellen Blick lohnt sich wie jedes Jahr der
große KritikerInnen-Spiegel von
critic.de. Unverzichtbar als Tagesbegleiter: Die
SMS-Updates der
Cargo-Kritiker. In unserem Berlinale-Blog
berichten Thekla Dannenberg, Katrin Doerksen, Thomas Groh und Anja Seeliger.