Außer Atem: Das Berlinale Blog

Verspielter Furor heiligen Ernsts - Fernando Birris Experimentalfilm-Epos ORG (Forum)

Von Thomas Groh
09.02.2017. Ein Ungetüm, ein Monster, eine Wiederentdeckung des Forums aus den siebziger Jahren: Fast drei Stunden dauert der über zehn Jahre  erstellte Experimentalfilm ORG von Fernando Birri. Eine lohnenswerte Zumutung, deren anarchische Kraft auch heute noch vital wirkt.


"ORG" ist arg. Ein Ungetüm, ein Monster, das sich allenfalls in seinen Konturen ertasten lässt, aber kaum durchdringen. Man muss "ORG" durchstehen, der Film ist eine Zumutung - im positiven Sinn: Er mutet einem was zu. Allein die äußeren Parameter schon: Fast drei Stunden Spielzeit, zehn Jahre Produktion, Aberhunderte von Tonspuren, die in den finalen Mix eingegangen sind, ein aus 26.000 Eingriffen ins Material bestehendes Schnitt-Staccato, aber dann auch wieder: Passagen, in denen minutenlang die Leinwand komplett schwarz (oder weiß) bleibt und kein Mucks aus den Lautsprechern kommt. Am Ende: Rotes Bild, irgendwer lallt auf der Tonspur die "Internationale", das Licht im Saal geht an, der Film aber - oder was davon übrig geblieben ist - geht weiter.

Dann diese Aufführungsgeschichte: Weltpremiere 1979 bei den Filmfestspielen in Venedig, danach versinkt der Film in der Obskurität. Und das obwohl der populäre Schauspieler Mario Girotti (besser bekannt als, ja genau, der Terence Hill) an dem Film beteiligt ist, sowohl vor der Kamera, als auch - mit dem Geldbeutel - dahinter. Eine "kommerzielle", auf zwei Stunden eingedampfte Fassung des Films wurde zwecks Kinoauswertung erstellt, was dem Film aber auch nicht mehr zur Sichtbarkeit verhalf. 1991 schließlich landet eine der zwei überlieferten Kopien zwecks Hinterlegung in den Katakomben des Arsenal, wo die Berliner Gruppe Entuziazm (bestehend aus Michael Baute, Volker Pantenburg und Stefan Pethke, die gemeinsam auch das Blog new filmkritik betreiben) den Film in einer filmarchäologischen Grabung im Jahr 2012 wieder zu Tage und vors Projektorlicht bringen. Begeisterung, Restaurierung, Digitalisierung, Wiederaufführung, Überforderung. ung, ung, ung, org, org, org.


Schön und gut, doch was sieht man? Puh. Viel, sehr viel. Einen wilden Zauberer, satte Farben, Pop-Art-Italoquatsch, Dada-Surrealism-Pulp-Pop-Philosophy, Sixties Zeug, Seventies Zeug. Performancekunst, Hippie-Weirdo-Psycho-Shit, auf geht's hoch zum Mond, dazwischen mal sowas wie ein Plot: Ein Mann, eine Frau, noch ein Mann, Liebe im Dreieck und Unbill dessentwegen, die Männer verlieren ihre Köpfe, die Frau setzt sie ihnen wieder auf, da der eine aber weiß und der andere schwarz ist, sieht man, dass der weiße Kopf nun auf dem schwarzen Körper steckt und umgekehrt, der eine Mann will daher seinen Schwanz zurück, denn erst sein eigener Schwanz macht den Mann zum Individuum. "ORG" kommt mal auf den Plot zu sprechen dann minutenlang auch wieder gar nicht, dann gibt es da Lenin-Zitate, Terence Hill spaziert mal als Parodie seiner Star-Persona als Italowesternheld durchs Bild, ziemlich mittig sprechen die großen Modernisierer des Kinos der Sechziger (Godard, Rocha, ein paar andere) über ihre Programmatik, man müsse nicht mehr politische Filme, sondern Filme politisch machen, sowas eben, deklamiert wird auch das kosmunistische Manifest usw. usf. dies das links rechts schwarz weiß bunt oben unten vorne hinten rüberrum.


Kurz: "ORG" wühlt sich mit einem verspielten Furor heiligen Ernsts durch die Unterbewusstseins-Mantsche seines Entstehungsjahrzehnts. Es gibt nichts, was sich dieser gefräßige Film an neuen Trieb- und Schubkräften seiner Zeit nicht einverleibt. Er handelt vom Aufbruch: Vom Aufbruch zum Mond, vom Aufbruch zu neuen Beziehung- und Bewusstseinsformen, vom politischen Aufbruch, vom (in jeder Hinsicht) Aufbruch der Filmformen, aber auch vom Aufbruch der semantischen Ketten (ob sie nun drogeninduziert sind oder nicht), vom Aufbruch der Sinnstrukturen, ja von Sinn überhaupt. Der argentinische Regisseur Fernando Birri verarbeitet in diesem Film nach eigener Aussage nicht nur die eigene Exilerfahrung. Auch wollte er mit "ORG" das neue psychische Level markieren, das die Menschheit mit der Mondlandung und weiteren Fortschrittschüben der sechziger Jahre erreicht habe.


Das Ergebnis ist kein Film in dem Sinn, dass man sich für eine festgesetzte zeitliche Einheit einer linear gedachten Abfolge von Sinneseindrücken aussetzt. Selbstbeobachtung: Der Körper wehrt sich gegen diesen Film. Mal will man raus, mal nur die Augen schließen, mal laut rufen, dass der Film doch weitergehen soll, Verwirrung schließlich ringsum, wenn zum roten Schlussbild das Licht schon angeht und man sich der Rezeptionssituation einmal mehr gewahr wird (so wie der Film die Manipuliertheit seines Medienausgangsmaterials stets zuvörderst präsentiert). Vielmehr ist "ORG" eine Art begehbarer Film - und als solcher von Birri auch gedacht. Von mehreren Seiten zugänglich, beliebig neu montierbar, ob man mal raus geht, wann man wieder reingeht: jedem selbst überlassen. Was soll das auch,  mein "ORG", dein "ORG"? "ORG" ist für uns alle da!


Erstaunlich ist dann aber doch, wie wenig fossil verkrustet diese Unternehmung bis heute wirkt, ganz im Gegensatz zu so vielem anderen, was aus den Aufbruchs-Sixties heute zu uns rüberweht. In seiner hyperbolischen Überforderungs-Ästhetik ist "ORG" auch im Zeitalter der Zerstreuung - Moment, ich habe ein Instagram-Like, bei Twitter kommt gerade eine wichtige Nachricht, oh, ein süßes Katzenfoto, mal eben Facebook checken, oh Mann, epic Fail, schau Dir mal das GIF hier an, lol, Moment, wo war ich, ach so - auch im Zeitalter der Zerstreuung durch die sozialen Medien und die second, third und fourth Screens ist "ORG" als Ultra-Monster aus dem Sinneindruck-Blitzgewitter noch immer ziemlich ungeschlagen. In seinem unbändigen Non-Konformismus sowieso. Man fragt sich ja beim Sichten wirklich: Was für ein Aufwand ist das damals gewesen, was für eine Arbeit am schwerfälligen physischen Material. Heute trägt die halbe Welt ein Mini-Filmstudio in der Hosentasche mit sich herum - und dennoch stinkt jedes Youtube-Video (mit Ausnahmen im Mikro-Bereich) nach einem faden, eintönigen, unfreien Professionalismus. Der wuchtige Anarchismus, der sich in "ORG" freie Bahn schlägt, hat uns also auch in dieser Zeit des wiedererstarkten Konformismus als Plädoyer für die Widerständigkeit jede Menge zu sagen.

Thomas Groh

ORG, Italien 1967-1978, Regie und Buch: Fernando Birri, Kamera: Mario Masini, Ugo Piccone, Mario Vulpiani, Houston Simmons, Cesare Ferzi. Mit: Terence Hill (Zohommm), Lidija Juraçik (Shuick), Isaak Twen Obu (Grrr), Nolika Pereda (P.P. (Primer Piano)), Pietro Santalamazza (Toute-la-mémoire-du-monde) und Francesco Di Giacomo (Ave phoenix). 177 Minuten.

Vorführungen am 10.02. (Akademie der Künste), 16.02. (Delphi) und 19.02 (Kino Arsenal). Mehr Materialien zu dem Film im Programmblatt des Forums. Eine DVD des Films erscheint im März bei der Filmgalerie 451.