Außer Atem: Das Berlinale Blog

Lob für den großen Fleckenteppich Berlinale

Von Lukas Foerster
19.02.2016. Was sollen die vielen Kritikerbeschwerden über die überladene Berlinale? Als ob für die großen Medien das beschworene "Niveau des Wettbewerbs" und die "Entdeckungen in den Nebenreihen", nach denen man sich sehnt, überhaupt relevant wären. Ein Resümee der Berlinale 2016.
Das wächst sich langsam zu einer regelrechten kognititven Dissonanz aus: Einerseits geht mir vieles an der Berlinale, insbesondere der Eventkrawall und die damit einhergehende kategorische Ungemütlichkeit, die sich am auch sonst nicht gerade heimeligen Potsdamer Platz zehn Tage lang breit gemacht hat, von Jahr zu Jahr mehr auf die Nerven; andererseits habe ich ebenfalls von Jahr zu Jahr mehr das Bedürfnis, das Festival (das das natürlich kein bisschen nötig hat; das sich dafür auch kein bisschen interessiert) zu verteidigen. Zumindest gegen jene Kritiker, die immer wieder vehement darauf verweisen, dass die Berlinale den anderen beiden anderen großen europäischen A-Festivals in Venedig und vor allem Cannes nicht das Wasser reichen könne.

Natürlich stehen die drei großen Festivals in Konkurrenz um besonders heiß gehandeltes Autorenfilmergold. Und tatsächlich zieht die Berlinale da nach wie vor sehr oft den Kürzeren. Aber warum eigentlich soll die Presse die Relevanzkriterien des Betriebs als eigene übernehmen? Mit ein wenig Abstand relativiert sich ohnehin viel. Der Siegerfilm von 2015 zum Beispiel, Jafar Panahis "Taxi", dürfte sich zumindest längerfristig als ein deutlich relevanterer und lebendigerer Film erweisen als die Cannes- und Venedig-Gewinner "Dheepan" beziehungsweise "Desde allá". Auch meine beiden persönlichen Filme des Jahres, Terrence Malicks "Knight of Cups" und Kidlat Tahimiks "Balikbayan #1", feierten auf der Berlinale Premiere.

Gut möglich, dass es mir am Ende diesen Jahres mit meinen drei diesmaligen Berlinale-Favoriten - "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" von Lav Diaz, "Creepy" von Kiyoshi Kurosawa, "L'Avenir" von Mia Hansen-Løve ähnlich gehen wird. Das sind natürlich nur jeweils drei Filme aus mehreren Hundert. Und eben das ist der häufigste, lauteste, aber aus meiner Sicht falscheste Vorwurf, der die Berlinale Jahr für Jahr trifft: Zu viele Filme in zu vielen Sektionen, zu wenig Selektion, zu wenig Qualitätskontrolle.

Mein Problem mit diesem Argument beginnt schon bei der ominösen Qulität. Denn gemeint sind damit für gewöhnlich ausschließlich die Qualitätskriterien des gehobenen Arthauskinos. Was passiert, wenn man die absolut setzt, zeigt der Cannes-Wettbewerb seit Jahren: Wieder und wieder die gleichen Namen. Das Schaulaufen des internationalen - aber wie ja zuletzt immer öfter kritisiert fast ausschließlich männlichen und außerdem sehr überwiegend europäischen - Autorenkinos in Cannes interessiert mich, wenigstens aus der Ferne, weniger als der bunte, kaum auf einen Nenner zu bringende Flickenteppich des Weltkinos, als den sich die Berlinale präsentiert.

So oder so kommen mir viele Kritikerbeschwerden über die überladene Berlinale scheinheilig, oder wenigstens naiv vor. Als ob für die großen Tageszeitungen, Magazine und Fernsehsender das beschworene "Niveau des Wettbewerbs" und die "Entdeckungen in den Nebenreihen", nach denen man sich sehnt, überhaupt relevant wären. Die Berichterstattung der meisten und größten Medien konzentriert sich so oder so auf eine Handvoll Filme: Den mit Abstand größten Raum nimmt das rote-Teppich-Starkino ein, dann kommen irgenwann die deutschen Wettbewerbsbeiträge und vielleicht noch ein wenig Skandal- und Themenfilmerei. Alles andere drängt sich in den Seitenspalten, wenn überhaupt. (Natürlich gibt es nach wie vor zwei, drei kostbare Ausnahmen…)

Wenn sich aber das Gros der Texte eh an den gleichen fünf, sechs Filmen abarbeitet, ist es doch egal, ob nebenan 50 oder 500 andere laufen. Mir sind 500 lieber. Schon deshalb, weil ein solches Überangebot unsere mediale Realität besser abbildet. So gesehen erübrigt sich fast die Frage, ob es sich um einen besseren oder schlechteren Berlinalejahrgang gehandelt hat. Es hängt halt das allermeiste von der eigenen Selektion ab. Ich habe zum Beispiel dieses Jahr die Panorama-Sektion und das Forum Expanded fast komplett links liegen gelassen - und das kein bisschen bereut.

Was natürlich nicht heißen soll, dass es nichts zu kritisieren gibt an den vielen kleinen und großen kuratorischen Entscheidungen, aus denen sich der Flickenteppich Berlinale zusammensetzt. Wenn es schon einen Wettbewerb braucht, kann man sich zum Beispiel durchaus fragen, warum mit Kurosawas "Creepy", Spike Lees "Chi-Raq" und Terence Davies' "A Quiet Passion" gleich drei Filme vom Wettbewerb um den Goldenen Bären ausgeschlossen (beziehungsweise sogar in die Wettbewerbsabstellkammer "Berlinale Spezial" abgeschoben wurden), die in Sachen Energie und Inspiration den Großteil des restlichen Programs locker in die Tasche stecken. Oder warum ein Wiederholungstäter wie Rafi Pitts das Berlinalepublikum schon zum dritten Mal in Folge an prominenter Programmstelle langweilen darf.

Ansonsten dürfte es, grob überschlagen, weniger echte Wettbewerbs-Ärgernisse als in den letzten Jahren gegeben haben - aber vielleicht auch etwas weniger echte Ausnahmefilme. Ein eindeutiger Bären-Favorit zeichnet sich jedenfalls bislang nicht ab. Meine Begeisterung für die Filme von Diaz und Hansen-Løve teilen längst nicht alle. Der einzige Konsensfilm in meinem diskursiven Umfeld scheint Andre Techines "Quand on a 17 ans" (der leider zu den Filmen zählt, die ich trotz großer Vorfreude nicht in meiner Programmplanung unterbringen konnte; man kann machen, was man will, drei bis vier Fälle dieser Art gibt es jedes Jahr) zu sein, aber ob die Jury das auch so sieht? Ein weiterer heißer Kandidat für die Preisverleihung könnte Gianfranco Rosis "Fuocoammare" sein.

Einen halbwegs umfassenden Eindruck konnte ich ansonsten nur vom Forum gewinnen. Auch da scheinen mir dieses Jahr ein wenig die großen Ausreißer (nach oben und zum Glück auch nach unten) gefehlt zu haben. Auf einen Nenner bringen lässt sich diese Sektion, die sich schon längst nicht mehr als Gegen-Berlinale versteht, sowieso nicht. Nur eine Beobachtung habe ich in gleich mehreren Screenings gemacht: Bei einigen Filmen, auch bei solchen, die mir ansonsten durchaus, zum Teil sogar sehr gefallen haben, irritierte mich ein Drift ins Monumentale.

Die endlose Kolonne von Arbeitern, die in "Eldorado XXI" durch eine in die Mondlandschaft hineingebaute und inzwischen von Müllsäcken regelrecht überschwemmte Minenarbeiterstadt stapfen; das sanft glühende Lagerfeuer, an dem sich Flüchtlinge an der Grenze zwischen Myanmar und China in "Ta'ang" wärmen; die fast Terrence-Malick-artig überhöhten Erfahrungssplitter während einer Reise durch Mexiko in "Tempestad": All das sind zweifellos eindrückliche Bilder, die mir lange im Gedächtnis bleiben werden. Aber gleichzeitig gibt es da ein Moment des stolzen Ausstellens, auch der Isolierung des einen, großartigen Bildes, sowie des sozialen Zusammenhangs, um den es da jeweils geht, der mir ein wenig unsympathisch ist. (Ein interessanter Sonderfall ist Philip Scheffners "Havarie", weil da das Aus- und Herstellen des Monumentalen explizit und reflexiv wird).

Vielleicht würden mir diese Filme (noch) besser gefallen, wenn ich sie "einzeln" gesehen hätte und nicht im Kontext eines Festivals, wo man bisweilen den Eindruck hat, dass sie sich gegenseitig zu überbieten versuchen: Seht her, scheinen die Filme dann zu rufen, ich präsentiere euch eine noch extremere Grenzerfahrung aus einer eurem Alltag noch ferneren Erdregion. Der für mein Kinoerleben äußerst wichtige Freude an Fremderfahrung verkehrt sich auf der Berlinale bisweilen in eine Sehnsucht nach der Normalität des Kinos. Was natürlich auch wieder nicht das Schlechteste ist.