Außer Atem: Das Berlinale Blog

Lav Diaz' 'A Lullaby to the Sorrowful Mystery' - zweite Halbzeit

Von Lukas Foerster
19.02.2016. Im zweiten Teil seines Wettbewerbsbeitrags bleibt der philippinische Regisseur Lav Diaz im Dschungel. Die Revolution ist gescheitert. Der Film kreist um eine Art Nullpunkt der modernen philippinischen Geschichte.


"Wird der Film in der zweiten Hälfte den ewigen Dschungel doch noch hinter sich lassen?" hatte ich mich in der einstündigen Pause gefragt, die die Berlinale in den Wettbewerbsfilm "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" eingebaut hatte. Es ist dann, und das spricht unbedingt für den Eigensinn des Films, genau anders herum gekommen: Die zweite Hälfte, noch einmal vier Stunden lange Hälfte spielt noch weitaus ausschließlicher im Urwald als die erste.

Tatsächlich fährt in der ersten Einstellung dieser zweiten Hälfte (man muss dazu sagen, dass Diaz seinen Film gerade nicht in Hälften aufgeteilt hat; das Bild wurde einfach zu einem eher willkürlichen Zeitpunkt eine Stunde lang eingefroren) ein Boot aus der Kulissenstadt heraus, die in den ersten paar Stunden ein ziemlich wichtiger zweiter Schauplatz gewesen war; die dann aber im restlichen Film gar nicht mehr auftaucht. Stattdessen macht sich, eben per Boot, eine zweite Gruppe von Figuren auf in den Dschungel. Zwei ehemals eng befreundete Revolutionäre sind das vor allem: Isagani, ein melancholisch-bedrückter Dichter, auf dessen Schultern das Elend der ganzen Welt zu lasten scheint; sowie ein mysteriöser, düsterer Typ namens Simoun, der sowohl von den Spaniern als auch von den philippinischen Rebellen gejagt wird.

Aber im Urwald spielen all diese politischen Allianzen, Ränke und Eifesüchteleien bald keine Rolle mehr. Simoun und Isagani sind dann nur noch zwei Körper im Dickicht. Der Dschungel bremst diesen vorher erstaunlich schnell erzählten und expansiv ausgreifenden Film gründlich herunter. Weil er die Menschen umschließt und ihnen seine eigene Zeit aufzwingt. Tatsächlich: Sobald erst einmal alle Figuren in den Urwald verfrachtet sind, bewegt sich fast überhaupt nichts mehr. Es gibt nur noch ein paar Männer und ein paar Frauen, die getrennt voneinander durch den Urwald irren und gelegentlich zunehmend verzweifelte Gespräche führen. Die entweder in der Erde nach Leichen buddeln, oder selbst begraben werden.



Im Dschungel kommt das Kino von Lav Diaz ganz zu sich. Schon rein visuell: Der Urwald ist das perfekte Objekt für die über die Jahre perfektionierte Kameraarbeit in atmosphärischem, eher kontrastarmem schwarz-weiß. Unglaublich reiche Bilder sind das, die unterschiedlichen Arten von Blattwerk formen sich zu ständig neuen Texturen (beziehungsweise zu über die gesamte Leinwand arrangierten Texturmustern), die dann auch noch durch Windböen in Bewegung versetzt, durch Lichtwechsel dynamisiert werden können. Diesmal wirft Diaz außerdem auffallend oft die Nebel- und Lichtmaschinen an, fügt dem Dschungel Eigenschaften eines Studiosets hinzu.

Freilich geht es immer darum, dass in diese spektakulären Naturarrangements Menschen hineingestellt werden. Diese Menschen sind offensichtlich nicht die "Herren des Dschungels", sie sind aber auch nicht einfach seine Opfer (keine gefährlichen wilden Tiere gibt es im Diaz-Dschungel, noch nicht einmal besonders viel Dornen oder besonders dichtes Gestrüpp). Der Dschungel ist einfach nur größer als die Menschen. Immer schon, und für immer. In "Lullaby" wird der Dschungel, der die Handlungsmacht der Menschen beschneidet (oder vielleicht einfach nur relativiert), neben vielem anderen zu einer Allegorie auf das gescheiterte, oder jedenfalls immer schon prekäre philippinische nation building: Die Revolution ist gescheitert, die Nationalhelden sind verraten, verkauft und ermordet, jetzt gibt es einfach nur noch eine Handvoll vereinzelter Individuen und kleiner Zweckgemeinschaften, die durch den Urwald irren und schauen müssen, dass sie irgendwie über die Runden kommen.

Gerade im Zusammenspiel von erster und zweiter Filmhälfte, von Revolutionsgroteske und postrevolutionärer Stillstellung, offenbart sich die außerordentliche Ambition des Films: Es geht tatsächlich um eine Art Nullpunkt der modernen philippinischen Geschichte, um einen Anfang, der keiner ist, und um ein Ende, das immer schon begonnen hat. Auch, weil Diaz für all das eine so einnehmend freie, wagemutige filmische Form gefunden hat, gibt es für mich ab sofort nur noch einen ersthaften Kandidaten für den Goldenen Bär.

Hele Sa Hiwagang Hapis - A Lullaby to the Sorrowful Mystery. Regie: Lav Diaz. Mit Piolo Pascual, John Lloyd Cruz, Hazel Orencio, Alessandra De Rossi, Joel Saracho. Philippinen / Singapur 2016, 485 Minuten. (Vorführtermine)