Außer Atem: Das Berlinale Blog

Aus der blondierten Mitte der Gesellschaft: Anne Zohra Berracheds '24 Wochen' (Wettbewerb)

Von Lukas Foerster
15.02.2016. Eine Kabarettistin muss sich der Frage stellen, ob sie ihr Kind mit Down-Syndrom bekommen will oder abtreibt.


Auf den "medizinischen Realismus" wies mich der Kollege Matthias Dell in einem gestrigen Gespräch über "24 Wochen" hin. Tatsächlich setzt der einzige deutsche Film im diesjährigen Wettbewerbsbeitrag nicht nur ausführlich medizinische Räume, Personal und Gerätschaften ins Bild und sucht in den entsprechenden Szenen nach einem halbwegs nüchternen Tonfall, er traut sich sogar, vermutliche Laiendarsteller in Arztrollen zu besetzen. Aber im Zweifelsfall ist das deutsche Gesundheitswesen für die Regisseurin Anna Zohra Berrahed doch stets nur Mittel zum Zweck. Beziehungsweise Funktion einer Fragestellung, die ausführlich und Punkt für Punkt durchgearbeitet werden muss.

Die Fragestellung: Man nehme Astrid (Julia Jentsch); eine beruflich erfolgreiche und im Privatleben erfüllte Frau; Astrid erwartet und freut sich auf ein zweites Kind; erfährt dann aber, dass es höchstwahrscheinlich mit Down-Syndrom zur Welt kommen wird (und auch noch, aus eskalationsdramaturgischen Gründen mit einem Herzfehler). Die Optionen: Geburt oder Abtreibung. Wie wird sie sich entscheiden? Alles andere im Film ist eben, siehe oben, Funktion dieser Fragestellung. Der bärtige boyfriend, dem die christliche Moral im Hinterkopf herumspukt, die wasserstoffblonde Mutter mit dem durchdringenden Blick, die ebenfalls außergewöhnlich blonde Babysitterin, der die Aufgabe zuteil wird, Menschen mit Behinderung "eklig" zu finden: Jedes Element, jede einzelne Szene des Films dient ausschließlich der Durcharbeitung des gesetzten Problems. Gleichzeitig wird das Lehrstückhafte des Films nicht etwa ausgestellt (und damit zu einer Form, mit der vielleicht etwas Interessantes geschehen könnte), sondern in Gesten konventionalisierter Lebendigkeit neutralisiert.

Ich bin auch deshalb bei der Fragestellung schnell ausgestiegen und habe mich statt dessen auf die Dekors konzentriert. "24 Wochen" ist ein Film, der sich komplett in der wenn nicht blonden, dann blondierten Mitte der deutschen Gesellschaft bewegt (bis hin zum Charts-Mitgröhlen in der Großraumdisco; auf der Heimfahrt wird dann bei einem Autounfall dem weniger distinguierten "Asi" erst die Vorfahrt genommen, anschließend wird er beschimpft). Weil die Hauptfigur erfolgreiche, populäre Kabarettistin in einschlägigen Fernsehshows auftritt (ihre komplett uninspirierten Prollgöre-mit-Herz-Nummern vermessen unfreiwillig den nach wie vor erschreckenden Abstand zwischen deutschen und amerikanischen Stand-up-Formaten), rückt "24 Wochen" gleich noch die zugehörigen medialen Oberflächen ins Bild: Markus Lanz, Nuhr im Ersten, Hitradio 104.6 RTL.

Und auch ästhetisch bleibt alles middle of the road nach öffentlich-rechtlicher Normvorgabe, von der Wackelkameraintensität nach der Schocknachricht über die unbedingte Problemorientierung, die keinerlei Raum für Seitenblicke auf die Kontingenz von Alltag lässt, bis hin zur knallharten Instrumentalisierung der ganz besonders blonden Erstgeborenen. Ein Film, der sich durch und durch deutsch anfühlt, deutsch bis weit jenseits der Schmerzgrenze. (Gut möglich, sogar hochgradig wahrscheinlich, dass da meine Ressentiments mit mir durchgehen; aber ich habe schon lange keinen Film mehr gesehen, der ihnen so willig entgegenkommt…) So gesehen: Vielleicht kann man aus "24 Wochen" tatsächlich etwas lernen über das Land, in dem wir leben, über seine glattgebügelten Texturen, über die Geschmacksverirrungen seines Fernsehprogramms, seinen Humorbegriff, seinen oftmals erschreckend beschränkten Horizont. Aber all das erledigt eine halbe Stunde Zapping im TV-Nachmittagsprogramm genauso gründlich, billiger und (zumindest etwas) nervenschonender.

24 Wochen. Regie: Anne Zohra Berrached. Mit Julia Jentsch, Bjarne Mädel, Johanna Gastdorf, Emilia Pieske, Maria Dragus. Deutschland 2016, 102 Minuten. (Vorführtermine)