Außer Atem: Das Berlinale Blog

Kein Horizont in Sicht: Alexey Germans 'Under Electric Clouds' (Wettbewerb)

Von Andrey Arnold
12.02.2015. "Under Electric Clouds" von Alexey German Jr.erzählt vom Leben nach der Apokalypse, wenn alle Utopien gescheitert sind.


Wenn russische Künstler über den Wandel der Zeit sprechen, ist der Tonfall meist melancholisch. Ein gutes Beispiel bietet "Dunkle Alleen", der große Erzählband des Nobelpreisträgers Iwan Bunin: Dieser ist bevölkert von Figuren, die sich fremd und verloren fühlen in ihrer postrevolutionären Heimat und die vergangene Ära als Sehnsuchtsort erträumen. Mit Bunin hat "Under Electric Clouds" von Alexey German Jr. - mal abgesehen von der Struktur einer Kurzgeschichtensammlung - nur wenig gemein, aber der Film steht unleugbar im Zeichen der (apokalyptischen) Wehmut.

Wir schreiben das Jahr 2017. Russland ist eine aufgelassene Baustelle, versunken im Endzeit-Dunst. Orientierungslose Gestalten irren durch die graue Ödnis, auf der Suche nach einem Weg aus der Misere - ob zurück oder nach vorne, ist den meisten von ihnen egal. Unentwegt fällt Schnee. Oder ist es Asche? Im Hintergrund ragt das Rohbau-Skelett eines gewundenen Wolkenkratzers empor, vereinzelte Lenin-Statuen punktieren das Purgatorium. Mahnmale gescheiterter Utopien - kommunistischer wie kapitalistischer. In sieben Kapiteln kartografiert German die Seelenlandschaft seiner Nation. Jedes einzelne präsentiert eine andere Gesellschaftsschicht, aber im Grunde waten alle durch denselben Sumpf, und ab und an läuft man aneinander vorbei: Der sprachlose kirgisische Gastarbeiter, der desillusionierte Abkömmling eines verstorbenen Baumagnaten, der polyglotte Doktorand, in Husaren-Montur zum Touristenführer degradiert - sie alle sind Entwurzelte und stemmen sich mit letzter Kraft gegen den automatisierten Fortschritt, dessen blindwütige Bulldozer die Geschichte applanieren, und womöglich ist es schon der fog of war, der da ins Land gezogen ist.

Soweit, so kulturpessimistisch. Doch der Stil Germans vermittelt dieses historische Zerfließen nicht bloß narrativ, nutzt genuin filmische Mittel auf idiosynkratische Weise: Seine Cinemascope-Totalen schwenken schleichend über die trostlose Szenerie, während die Figuren in pointierte (Selbst-)Gespräche vertieft mal ins Bild schlendern, mal links liegen gelassen werden, mal im Vordergrund ihre Gesichter zeigen, mal im Nebel verschwinden. Gespenstisch ist das alles, kein Horizont in Sicht. Einerseits schließt der Regisseur (wie schon mit seinen früheren Filmen) an eine ganz spezifische Tradition literarisch motivierten, elegisch exekutierten russischen Kunstkinos an: Das Mäandernde in Dialog-, Schauspiel- und Kameraführung hat er etwa von seinem unlängst verstorbenen Vater, dem slawischen Terrence-Malick-Antipoden Alexey German Sr. geerbt. Andererseits erinnert sein Zugang formal auch an den Chinesen Jia Zhangke - namentlich an "Still Life" und "A Touch of Sin", dessen künstlerisch herausragenden Studien sozio-ökonomischen Verfalls - und stellenweise gar an Theo Angelopoulos.

Ein bisserl prätentiös ist das Ganze zweifellos, wie es allegorische Sittengemälde so an sich haben, und im Gegensatz zu Jia Zhangke fehlt German das Gespür für die Gegenwart: Er will mit seiner Kunst die russische Realität offenbaren, gewährt dieser aber keinen Zutritt zu seiner ominösen Konstruktion, denn in seiner Weltsicht gibt es sowas wie "jetzt" nicht: Man kann nur ahnen und erinnern, die Träume der Protagonisten führen sie zuweilen in die (ästhetisch ununterscheidbare) Vergangenheit, das Jahr 2014 fehlt jedoch in ihren Wanderungen durch die Phantomkammern des Gedächtnisses.

Bei der Pressekonferenz gibt German sich als großer Kunstkenner und Russlandversteher. Diesen paternalistischen Habitus ist man von vielen seiner Landsmänner gewohnt: Andrey Tarkovsky, Victor Kossakovsky, und allen voran der König der Bevormundung, Alexander Sokurow. Auch der Anspruch eines politischen Statements, das "Under Electric Clouds" anheischig sein will, scheint angesichts seiner staatlich geförderten Finanzierung dubios ("Whatever it takes", ruft jemand zu Beginn der morgendlichen Vorführung in Berlin). Aber ebenso wie die zuvor genannten russischen Filmemacher hat German eine spannende, originäre Form entwickelt, weshalb man ihm den jovialen Gestus gerne verzeiht.

Alexey German Jr.: "Pod electricheskimi oblakami - Under Electric Clouds". Mit Louis Franck, Merab Ninidze, Viktoriya Korotkova, Chulpan Khamatova, Viktor Bugakov, Karim Pakachakov, Konstantin Zeliger, Anastasiya Melnikova, Piotr Gasowski. Russische Föderation / Ukraine / Polen 2015, 138 Minuten. (Vorführtermine)