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Erzählt vom Aussterben einer Industrie: Nikolaus Geyrhalter: 'Über die Jahre' (Forum)

Von David Assmann
12.02.2015. Nikolaus Geyrhalter schildert in seiner Doku den Niedergang der Textilindustrie in Niederösterreich und erzählt von den Arbeitern, die sich neu erfinden.


Das Waldviertel, die nördlichste Region Österreichs, war einst Peripherie, inzwischen liegt es im Herzen Europas. Doch allzu glücklich sind die Bewohner nicht darüber. Was aus Tschechien zu ihnen herüberschwappt, sind vor allem minderwertige Produkte, billige Arbeitskräfte und Hochwasser. Die früher von der Textilbranche geprägte Gegend wurde wirtschaftlich abgehängt. In seiner Langzeitbeobachtung "Über die Jahre" verfolgt der österreichische Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter das Aussterben einer Industrie und seine Auswirkungen auf die Menschen. Das zumindest ist das Konzept, mit dem er an das Projekt herangeht. Doch in zehn Jahren kann viel passieren.

Anderl heißt die Textilfabrik in Schrems, ein traditionsreicher Betrieb mit kontinuierlich sinkendem Umsatz und Personal. In für seine Filme typischen, sorgfältig komponierten Tableaux blickt Geyrhalter erbarmungslos auf die vereinzelten Arbeiter an veralteten Maschinen in viel zu großen Fabrikhallen. Der betagte Chef und die Angestellten haben seit Jahren das Ende vor Augen. Der drohende Konkurs und die Arbeitslosigkeit sind für sie die Katastrophe, gegen die sie einen aussichtslosen Kampf führen. Ein Investor könnte die Firma doch übernehmen und den Maschinenpark aufrüsten, schlägt die Sekretärin vor, aber sie weiß, dass niemand in dieses sinkende Schiff investieren wird. Denn Anderl kann sich nicht nur gegen die billige Konkurrenz aus dem Osten nicht durchsetzen, sondern zieht auch gegen teurere Produkte den Kürzeren. So erklärt eine Arbeiterin die praktischen und hygienischen Vorteile von Pampers, während sie aufwändig von Hand Stoffwindeln in Plastikfolie verpackt.

Als Geyrhalter das nächste Mal vorbeischaut, ist die Fabrik geschlossen, aber eine Katastrophe scheint es nicht zu sein. Während die Frau des Chefs sich damit abfinden muss, mit einem "Konkursler" verheiratet zu sein, nehmen die ehemaligen Angestellten die lästigen Termine im Arbeitsamt auf sich. Aber sie genießen auch ihre neugewonnene Freizeit. Der ehemalige Buchmacher widmet sich seiner Schlagersammlung, deren 13.000 Titel er nun endlich - erst handschriftlich, dann noch einmal am aus vierter Hand erworbenen Computer - in alphabetischer Reihenfolge erfassen kann. Für einen neuen Job ist da schon bald kein Platz mehr. Genauso wenig bei der Windelverpackerin, die nun ihre beiden aus zerrüttetem Elternhaus stammenden Enkel aufzieht. Dagegen begreift die ehemalige Sekräterin die Flexibilität, die der Arbeitsmarkt ihr abverlangt, als Gelegenheit, sich immer wieder neu zu erfinden. Wie sie bei jedem Besuch mit Elan und Kompetenz einem neuen Beruf nachgeht, entwickelt sich gradezu zu einem running gag. Davon, dass die Arbeit die Menschen formt, wie sich der Filmemacher anfangs von seinen Protagonisten bestätigten lässt, ist nichts zu sehen. Anstatt um kollektive Arbeit geht es um individuelle Beschäftigung.

Wenn die inhaltliche Prämisse nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, dann ist es die ästhetische erst recht nicht, und Geyrhalter ist flexibel genug, seine Arbeitsweise an die Verschiebung anzupassen. So weicht die distanzierte Analyse mittels lange stehender Totalen allmählich einer situativ interagierenden Dokumentation. Immer häufiger ist der Regisseur aus dem Off hinter der zunehmend handgehaltenen Kamera zu hören, wie er sich nach der Befindlichkeit seiner Gesprächspartner erkundigt. Im Laufe der Jahre entwickelt er zu jedem seiner Protagonisten eine eigene freundschaftliche Beziehung, und irgendwann handelt der Film mehr von diesen Beziehungen als von industrieller Abrüstung und Arbeitslosigkeit. Im Werk Geyrhalters, der sich vornehmlich Phänomenen (etwa der industriellen Nahrungsmittelproduktion in "Unser täglich Brot") und Institutionen (etwa dem CERN in "CERN") widmet, ist dies sicherlich der persönlichste Film. Seine von aufrichtigem Interesse und Sympathie für die Menschen geleitete Bereitschaft, die Thesen, auf die er es ursprünglich wohl mal abgesehen hatte, zugunsten der Persönlichkeiten seiner Protagonisten und der allgemeinen Unvorhersehbarkeit des Lebens zurückzustellen, macht "Über die Jahre" zu seinem besten Film.

Nikolaus Geyrhalter: "Über die Jahre". Österreich 2015, 188 Minuten (Vorführtermine)