Außer Atem: Das Berlinale Blog

Gegenbilder: Jan Soldats Haftanlage 4614 (Panorama)

Von Thomas Groh
07.02.2015. Eine Haftanlage für Masochisten: Jan Soldats Dokumentarfilm erarbeitet sich jede Einstellung - ein behutsames Porträt, das seinem Publikum einiges zutraut.


Was man so mitkriegt, dürfte diese Haftanlage wohl idyllisch gelegen sein. Sicher lässt sich das freilich nicht sagen. Jan Soldat hat sich bereits in einer beeindruckenden Vielzahl von experimentellen und essayistischen, kurzen und mittellangen Dokumentarfilmen mit Varianten des sexuellen Begehrens jenseits dessen, was der heteronormative Konsens als "normal" erachtet, auseinandergesetzt. Hier zeigt er kein Äußeres dieses Mikrokosmos, in dem sich Gleichgesinnte verabreden, um ein paar Tage lang zum Lustgewinn Gefängnis zu spielen. Wie würde eine TV-Reportage sich dem nähern? Wohl schon eher vermittelnd, mindestens mit Voice-Over: Dort also ist diese Haftanlage, dort gehen "die" hin, das machen "die" aber nur zum Spaß und das hat diesen und jenen Grund. Und so weiter.

Nichts davon bei Jan Soldat. Zum Glück. Seine Filme gehen in medias res, muten und trauen dem Publikum was zu. Die rohe Kargheit seiner Bilder, die spröde Lakonie seiner Porträtfilme sind dabei sicher auch den Produktionsbedingungen geschuldet - sie lassen sich aber auch als Gegenbilder lesen, denen die Spektakel- und Skandalpotenziale der gängigen Medienökonomien so gründlich wie wohltuend entzogen wurden. Es sind Bilder, die gar nicht erst versuchen, eine Welt, die ihren eigenen, konsensuellen Regeln folgt, einer anderen vermittels Zurichtung zuzuführen. Die strenge Kadrierung erinnert an Ulrich Seidl, der beobachtende Gestus wenigstens ein kleines bisschen an Frederick Wiseman. Auch wenn Jan Soldat, anders als Wiseman, keinen Zweifel daran lässt, dass er in den Settings präsent ist: Manchmal hört man ihn hinter der Kamera, gelegentlich spricht er mit den "Inhaftierten", die für einen Moment lang das Spiel hinter sich lassen und einfach sprechen.

Soldats Filme sind Außenseiter-Filme - nicht nur, weil sie Leute zeigen, die im Mainstream kaum repräsentiert sind, sondern auch, was Finanzierung und Ästhetik betrifft. Dennoch sind sie ungeheuer reich und kostbar: Weil sie den Luxus ermöglichen, etwas von der Welt kennenzulernen, eine Erfahrung zu machen, ohne dabei in Marktschreier-Rhetorik zu verfallen. Man befindet sich hier in den Händen eines strikt ethischen Filmemachers, dem sichtlich an jeder Einstellung gelegen ist, weil es der Standpunkt der Kamera ist, der die Rahmenbedingungen dafür setzt, wie ein Kennenlernen im Film möglich ist. In "Der Unfertige" (hier unsere Kurzbesprechung) porträtierte er den Sklaven Klaus - zu Beginn sieht man ihn auf seinem Bett in einer Totalen, am Ende steht die Nahaufnahme seines Gesichts. Klaus sagt selbst: Er wünscht sich, dass die Leute ihn erkennen und sagen: "Ah, der ist so." Ohne dass das erklärt werden müsste, warum der so ist, weil es das schlicht nicht braucht, um einen Menschen auch in seinem sexuellen Begehren respektvoll anzunehmen.

In "Haftanlage 4616" fehlt diese persönliche Intimität zwar etwas. Liegt dem "Unfertigen" sichtlich eine langfristige, intensive Auseinandersetzung zugrunde, standen hier nur wenige Tage zur Verfügung. In den losen Betrachtungen der einzelnen Bilder entsteht daher weniger ein Porträt der Wärter und Inhaftierten, als die Kontur dieser Haftanlage, nach der ja auch der Film selbst betitelt ist. Ohne dass es Jan Soldat um griffige Vermittlungspädagogik ginge, zeichnet sich hier das Bild einer intakt gelassenen Subkultur ab, die für sich stehen, für sich reden kann: Das erste, sehr drastische Bild einer "Misshandlung" wird im Nachhinein durch zahlreiche Brüche und teils witzige, dann wieder sehr zärtliche Szenen ganz organisch aus sich heraus neu konfiguriert, ohne dass es langwierige Erklärungen dafür bräuchte.

Nicht zuletzt für den Zuschauer ist diese Sprödheit, dieser Mangel an Aufhebens und Aufladung des Materials ein Gewinn: In den Filmen von Jan Soldat darf man etwas sehen, man darf sich eigene Gedanken machen, man kann etwas kennenlernen und erfahren. Wie er gegenüber den Menschen, die er zeigt, ein bemerkenswertes Ethos an den Tag legt, gewährt Jan Soldat auch seinem Publikum ein großes Maß an Freiheit. Diese Souveränität ist in ihrer Behutsamkeit beeindruckend - Jan Soldats Filme sind ein Geschenk.

Hinweis: Für die taz habe ich außerdem ein Interview mit dem Regisseur geführt.

Thomas Groh

"Haftanlage 4614" Regie: Jan Soldat. Deutschland 2015, 60 Min. (Vorführtermine)