Außer Atem: Das Berlinale Blog

Heute noch zu sehen: Emin Alpers 'Beyond the Hill', Kiko Goifmans 'Look at me again' und Zoé Chantres 'Tiens moi droite'

Von Nikolaus Perneczky
18.02.2012. Emin Alpers Erstlingsfilm "Tepenin Ard? - Beyond the Hill" (Forum) beginnt vielversprechend enigmatisch. Ein alter Patriarch verteidigt sein Anwesen in den anatolischen Bergen gegen Nomaden, die ihre Tiere auf sein Weideland führen. Der Kleinkrieg zwischen dem alten Mann, der mit einem seiner Söhne und dessen Familie in einer Talsenke lebt, und den angeblichen Aggressoren, tobt schon eine ganze Weile, als der zweite Sohn zu Besuch kommt. Geschickt relegiert der Film die wahrgenommene Bedrohung ins Off, hinter den Hügel, wo die Nomaden sich aufhalten sollen. Sie sind jedoch nie direkt zu sehen, sondern lediglich in der Phantomgestalt von Gegenschüssen aus dem umliegenden Gebirge, unauffällige Landschaftsaufnahmen jeder für sich, die sich nach und nach zu einer Triangulation des Geschehens im Tal addieren, und so die Frage aufwerfen, wessen Betrachterstandpunkt sich hier mitteilt. Es ist zu bedauern, dass Emin Alper den Konflikt am Ende zur Implosion bringt, indem er die Nomaden als selbstgemachtes, gleichsam kollektiv halluziniertes Feindbild offenbart. Alles betörend Rätselhafte an "Tepenin Ard?" wird so gebändigt zur - allzu didaktischen - politischen Allegorie der türkischen Kurdenpolitik an der ungenau definierten anatolischen Außengrenze. Die umständlich plumpe Tagline des Films: "Scapegoating may unify, but could you control the…


Emin Alpers Erstlingsfilm "Tepenin Ard? - Beyond the Hill" (Forum) beginnt vielversprechend enigmatisch. Ein alter Patriarch verteidigt sein Anwesen in den anatolischen Bergen gegen Nomaden, die ihre Tiere auf sein Weideland führen. Der Kleinkrieg zwischen dem alten Mann, der mit einem seiner Söhne und dessen Familie in einer Talsenke lebt, und den angeblichen Aggressoren, tobt schon eine ganze Weile, als der zweite Sohn zu Besuch kommt. Geschickt relegiert der Film die wahrgenommene Bedrohung ins Off, hinter den Hügel, wo die Nomaden sich aufhalten sollen. Sie sind jedoch nie direkt zu sehen, sondern lediglich in der Phantomgestalt von Gegenschüssen aus dem umliegenden Gebirge, unauffällige Landschaftsaufnahmen jeder für sich, die sich nach und nach zu einer Triangulation des Geschehens im Tal addieren, und so die Frage aufwerfen, wessen Betrachterstandpunkt sich hier mitteilt. Es ist zu bedauern, dass Emin Alper den Konflikt am Ende zur Implosion bringt, indem er die Nomaden als selbstgemachtes, gleichsam kollektiv halluziniertes Feindbild offenbart. Alles betörend Rätselhafte an "Tepenin Ard?" wird so gebändigt zur - allzu didaktischen - politischen Allegorie der türkischen Kurdenpolitik an der ungenau definierten anatolischen Außengrenze. Die umständlich plumpe Tagline des Films: "Scapegoating may unify, but could you control the hate it breeds?"



Kiko Goifmans "Olhe pra mim de novo - Look at me again" (Panorama) ist ein dokumentarisches Roadmovie. An der Seite seines Protagonisten Silvyo, als Frau geboren, aber jetzt auf halbem Weg zur operativ besiegelten Männlichkeit, begeben wir uns auf eine Reise durch den Sertão, einst das phantasmatische Hinterland des Cinema novo. Am Ende wird Silvyo seine Tochter wiedersehen, die für seine Lebensentscheidungen wenig Verständnis aufbringen mag. Unterwegs begegnet er zuerst Menschen mit ähnlichen Geschichten: Schwulen, Lesben, Transgendern. Zum Glück ist Goifman, der sich mit verqueren Hybridfilmen zwischen Fiktion und Dokument, zuletzt: "FilmeFobia" von 2008, einen kleinen Namen gemacht hat, mit diesen Kategorien nicht zufrieden, und bringt Silvyo mit einer Reihe von Personen außerhalb des SchwuLesBiTrans-Spektrums zusammen. Gemeinsam ist ihnen nichts als der trockene Lebensraum und eine sehr allgemein gefasste, oft genetisch begründete Abweichung von der brasilianischen Norm - der Sertão scheint hier also immer noch deviante Figuren und Lebensentwürfe hervorzubringen. Erst in diesen unerwarteten Abstechern kommt "Olhe pra mim de novo" ganz zu sich. Der Rest ist souveränes, aber nicht herausragendes Dokumentarfilmschaffen.



"Tiens moi droite - Keep me upright" (Forum) ist ein verspielter Essayfilm, der uns von den abgefilmten Seiten eines Künstlerbuchs förmlich anspringt. In Zeichnungen und Kritzeleien hat die junge Regisseurin Zoé Chantre ihre Krankengeschichte festgehalten. Etwas an ihrer Wirbelsäule ist nicht so, wie in anatomischen Lehrbücher vorgesehen: Diagnose Skoliose. Chantres hastig angefertigte Zeichnungen, angereichert mit tagebuchartigen Videoaufnahmen, kreisen um ihre Rückenprobleme, aber sie tun es nicht monothematisch, sondern auf der zentrifugalen Bahn einer Obsession, die alles, was ihr ins Gehege kommt, mitnimmt. Wirbel, Säulen, Wendeltreppen, aber auch Abseitigeres wie etwa der Ausbruch eines Vulkans werden Chantres Krankengeschichte anverwandelt. Ihr Leiden transformiert die Welt zu einem unerschöpflichen Reservoir an Motiven und Metaphern, mit dem interessanten Effekt, dass die Verkrümmung ihrer Wirbelsäule vor dem Hintergrund der solcherart überformten Welt sich fast normal ausnimmt. Aus der Krankengeschichte wird so schließlich die Geschichte einer Sensibilisierung. Das ist manchmal ein bisschen zu herzig, aber doch sehenswert.

Nikolaus Perneczky

"Tepenin Ard? - Beyond the Hill". Regie: Emin Alper. Mit Tamer Levent, Reha Özcan, Mehmet Özgür, Berk Hakman, Furkan Berk K?ran, Banu Fotocan u.a., Türkei, Griechenland 2012, 94 Minuten. (Vorführtermine)

"Olhe pra mim de novo - Look At Me Again". Regie: Kiko Goifman, Claudia Priscilla. Dokumentarfilm, Brasilien 2011, 77 Minuten. (Vorführtermine)

"Tiens moi droite - Keep Me Upright". Regie: Zoé Chantre. Dokumentarfilm, Frankreich 2012, 65 Minuten. (Vorführtermine)