Benoit Jacquot, Brillante Mendoza, Miguel Gomes, Ursula Meier

Nicht jeder kann alles mögen. Klaus Lemke und Doris Dörrie zum Beispiel mögen die Berlinale nicht. Dem einen ist sie zu risikoscheu, der anderen zu avantgardistisch. Auch die Filmkritik, die überregionale und internationale zumal, ist zunehmend verstimmt, die Berlinale sei, das war der letztjährige Tenor, in Bezug auf das aktuelle Weltkino längst minderrelevante Provinz. Festivalleiter Dieter Kosslick, schon seit 2001 im Amt, ließ seinen Vertrag, davon unbeeindruckt, kürzlich verlängern, bis 2016 vorerst. Die Kritik an seiner kuratorischen Praxis weist er nicht einmal unbedingt zurück, er stellt sich ihr gar nicht erst (so sagte er die Teilnahme an einem Symposium des Verbands der Deutschen Filmkritik im letzten Herbst kurzfristig ab), vielleicht, weil im System Kosslick das Kuratorische ohnehin zweitrangig ist, es geht eher um effektives und maximal sichtbares Eventmanagement. Da auch die anderen wichtigen Sektionen derzeit wenig Reformdruck zu verspüren scheinen, kann man davon ausgehen, dass die Berlinale sich mittelfristig eher nicht verändern wird - oder höchstens ihr ungerichtet wirkendes Wachstum in alle Richtungen gleichzeitig fortsetzt.


Bence Fliegauf, Edwin, Alain Gomis, Billy Bob Thornton

Der Wettbewerb, auf den sich letztes Jahr die Kritik besonders einschoss, besteht dieses Jahr aus 18 Filmen, zwei mehr als im letzten Jahr sind das, aber immer noch deutlich weniger als in der Vergangenheit. Ein erster Überblick deutet an, dass es sich um einen der interessanteren Jahrgänge handeln könnte. Schon vom Eröffnungsfilm - Benoit Jacquots "Les adieux a la Reine", ein Revolutionsdrama mit Diane Kruger als Marie Antoinette - darf man sich mehr erhoffen als in den letzten Jahren. Und dass zum Beispiel der philippinische Regisseur Brillante Mendoza, zuletzt Stammgast in Cannes und Venedig, sein Entführungsdrama "Captive" (mit Isabelle Huppert) in Berlin präsentieren würde, darauf hätten wohl nur wenige gewettet. Auch Miguel Gomes (2010 mit dem außergewöhnlichen "Our Beloved Month of August" in den deutschen Kinos) schien sich bislang außerhalb der ästhetischen Reichweite Dieter Kosslicks zu bewegen. Sein neuer Film "Tabu" nimmt seinen Ausgangspunkt in einem portugiesischen Mietshaus und unternimmt dann Abstecher nach Afrika. Auch auf die neuen Filme der Schweizerin Ursula Meier (im Wettbewerb mit dem in einem alpinen Skigebiet angesiedelten Drama "L'enfant d'en haut") und des Ungarn Bence Fliegauf ("Just the Wind") kann man gespannt sein. Besonders außergewöhnlich erscheint die Einladung des Indonesiers Edwin ("A Day at the Zoo"), nicht nur aufgrund seines in den Wettbewerben der A-Festivals bislang kaum präsenten Heimatlands; nach seinem Erstling und Vorgänger mit dem angemessen skurrilen Titel "Blind Pig Who Wants to Fly", einer queeren, mal faszinierenden, mal nervtötenden Kunstfilm-Fantasie, hätte man den Mann eher im Forum, als im Wettbewerb vermutet. Ähnliches gilt für den senegalesischen Beitrag "Aujourd'hui" von Alain Gomis. Billy Bob Thorntons "Jayne Mansfield's Car" hat zumindest schon einmal eine tolle Besetzung: neben dem Regisseur selbst wirken unter anderen Robert Duvall, John Hurt und Kevin Bacon mit.


Christian Petzold, Matthias Glasner, Kim Nguyen, Nicolaj Arcel

Bei den deutschen Wettbewerbsbeiträgen geht man auf Nummer sicher, alle drei Beiträge stammen von Regisseuren mit Wettbewerbserfahrung. Besonders gespannt sein darf man auf "Barbara", den neuen Film Christian Petzolds (zum dritten Mal im Wettbewerb). Zum ersten Mal in seiner Karriere versucht Petzold sich an einem historischen Sujet: Nina Hoss bereitet in den frühen Achtzigern eine Flucht aus der DDR vor. Bei "Was bleibt" von Hans-Christian Schmid (zum vierten Mal im Wettbewerb), dessen Inhaltsangabe auf ein eher konventionelles Familiendrama schließen lässt, muss man abwarten, wie sich sein Regisseur vom Tiefschlag "Storm" erholt hat. Matthias Glasner (zum zweiten Mal im Wettbewerb) ist wohl eher so etwas wie eine loose cannon. Der Titel seines Beitrags - "Gnade", mit Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel - ist zumindest in verschiedene Richtungen auslegbar.


Die Brüder Taviani, Spiros Stathoulopoulos, Tsui Hark, Zhang Yimou

Soweit, so vielversprechend. Es gibt dann freilich doch auch wieder einen Kindersoldatenfilm ("Rebelle") von Kim Nguyen, einen allem Anschein nach reichlich überflüssigen dänischen Kostümfilm namens "A Royal Affair" von Nicolaj Arcel und der Chinese Wang Qua'an, der nun wirklich nicht zu den interessantesten Regisseuren seines Heimatlandes gehört, ist mit "White Deer Plain" aus unerfindlichen Gründen bereits zum dritten Mal mit dabei. Die Brüder Taviani, deren letzter relevanter Film nun auch schon einige Jahrzehnte zurück liegt, sind ebenfalls Stammgäste, warum auch immer (ihr diesjähriger Beitrag "Caesar Must Die", ein dokumentarischer Film über eine Shakespeare-Inszenierung in einem Gefängnis, hört sich allerdings nicht ganz uninteressant an). Es gibt daneben noch eine Reihe weiterer Filme eher unbekannter Regisseure, die teilweise sehr schwer einzuschätzen sind, unter anderem eine griechische Produktion namens "Meteora" (Spiros Stathoulopoulos), in der sich ein Mönch und eine Nonne näher kommen. Von den außer Konkurrenz präsentierten Filmen dürften höchstens die beiden chinesischen Produktionen "Flying Swords of Dragon Gate" (Tsui Hark) und "The Flowers of War" (Zhang Yimou) von gesteigertem Interesse sein.


Plakate zu den Filmen "Moskau glaubt den Tränen nicht" und "Das Fest des heiligen Jürgen"

Das Missverhältnis zwischen dem anhaltenden Erfolg der Berlinale beim Publikum und ihrem schweren Stand in der Presse dürfte zum Teil auch daher rühren, dass weite Teile der Filmkritik strikt auf den Wettbewerb fixiert sind, dort alles sehen, über die, im Vergleich zu Cannes und Venedig schwache Ausbeute schimpfen und den Rest des Festivals links liegen lassen. Vielleicht wäre es auch für die Kritik sinnvoller, der Berlinale eher in der Art zu begegnen, die der des normalen Festivalgängers entspricht: nicht so sehr entlang der Sektionsgrenzen, als entlang eigener Vorlieben und des eigenen cinephilen Spürsinns. Im Perlentaucher werden wir deshalb diesmal noch mehr als in den Jahren zuvor versuchen, das Festival auch in seiner Breite abzubilden. Es wird uns sicher nicht gelingen, jede einzelne Verästelung im Blick zu behalten, aber schon die drei größten Nebensektionen - Retrospektive, Forum, Panorama - erweitern das Feld, das das Festival als ganzes eröffnet, ins kaum noch Überschaubare.


Plakate zu den Filmen "Aelita" und "Der Untergang der Sensation"

Von besonderem Interesse erscheint dieses Jahr die zuletzt oft etwas behäbig anmutende Retrospektive. Gewidmet ist sie der "roten Traumfabrik: Meschrabpom-Film und Prometheus 1921-1936". Dahinter verbirgt sich ein russisches Filmstudio mit deutschem Ableger, das in den zwanziger und dreißiger Jahre für viele, zu weiten Teilen vergessene Klassiker des späten Stumm- und frühen Tonfilms verantwortlich war. Innerhalb des sowietischen Kinos seiner Zeit nahm es eine Sonderstellung ein, war von der offiziellen Kulturpolitik Lenins und Stalins relativ unabhängig (unter ersterem mehr, unter zweiterem weniger) und produzierte fast nach marktwirtschaftlichen Kriterien. Ideologiefrei waren die Meschrabpom-Filme deswegen nicht (welcher Film ist das schon?), aber viele zeichnen sich durch ein kreatives Spiel mit Genreformeln aus, wie man es im sowjetischen Kino nicht unbedingt vermutet. Mit der Space opera "Aelita" (Jakow Protasanow, 1924) und dem Roboter-Thriller "Der Untergang der Sensation" (Aleksandr Andrejewski, 1935) sind zum Beispiel zwei waschechte Science-Fiction-Filme im Programm. Boris Barnet, einen der Meisterregisseure seiner Zeit, kann man mit gleich einer ganzen Reihe von Filmen entdecken, darunter die federleicht-spielerische Komödie "Das Haus in der Trubnaja-Straße". Das umfangreiche, mit viel Sachverstand kuratierte Programm lässt mit Sicherheit noch viele weitere Entdeckungen zu und kann den Blick öffnen für die Vielfalt des frühen sowjetischen Kinos auch jenseits der grandiosen Montageexperimente Dsiga Wertows oder Sergej Eisensteins (die natürlich ebenfalls mit je einem Film im Programm vertreten sind).


Szene aus Tea Lim Kouns "Peov Chuk sor" (1967) und aus Ly Bun Yims "12 Sisters" (1968)

Auch im Forumsprogramm springen zunächst die Repertoire-Filme ins Auge, die dort Jahr für Jahr das aktuelle Programm ergänzen und perspektivieren. Gleich drei historische Schwerpunkte setzen die Kuratoren dieses Jahr. Die erstaunlichsten Filmerfahrungen - vielleicht des gesamten Festivals - versprechen drei Filme des klassischen kambodschanischen Kinos, aus der Zeit vor der Terrorherrschaft der Roten Khmer. Zu sehen sind die Reste eines zu weiten Teilen zerstörten filmischen Erbes - die Kopien von "12 Sisters", "The Snake Man" und "Peov Chouk Sor" fanden nur nach mühseliger Recherche und zähen Verhandlungen ihren Weg nach Berlin. Ergänzt wird der Schwerpunkt durch den aktuellen Dokumentarfilm "Golden Slumbers", der sich mit den Folgen des Verschwindens einer ganzen visuellen Kultur auseinandersetzt. Außerdem im Programm: zwei Arbeiten der großen amerikanischen Dokumentaristin Shirley Clarke, darunter ihre letzte, der wundervolle Free-Jazz-Montagefilm "Ornette: Made in America". Eine schöne Tradition sind die Miniretrospektiven zum klassischen japanischen Kino, die das Forum seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit der Tokyo FILMeX präsentiert. Dieses Jahr laufen drei Filme des Regisseurs Yuzo Kawashima, eines Zeitgenossen Akira Kurosawas.


Shirley Clarke, Yuzo Kawashima, Shunji Iwai, Rosalind Nashashibi

Auch im aktuellen Programm des Forums gibt es einen Schwerpunkt japanisches Kino: insbesondere dokumentarische Filme, die sich mit den Natur- und Strahlenkatastrophen beschäftigen, die das Land 2011 heimgesucht haben. Besonders gespannt sein darf man auf "friends after 3.11" von Shunji Iwai, der vor allem für hoch ästhetisierte Jugenddramen bekannt ist, Filme, die einer dokumentarischen Ästhetik fast schon diametral entgegen stehen. Auch im restlichen Programm trifft man auf einige alte Bekannte, vor allem, was die deutschen Beiträge angeht: Dominik Graf, Heinz Emigholz, Thomas Heise und Philipp Scheffner präsentieren neue Arbeiten. Daneben stehen wie immer eine ganze Reihe von Erstlingsfilmen und Arbeiten hierzulande kaum bekannter Regisseure; wer echte Entdeckungen machen will, kommt am Forum nach wie vor nicht vorbei. Die Untersektion Forum Expanded erweitert derweil das Spektrum der Berlinale nicht nur in Richtung Videokunst, sondern exportiert das Kino auch in die Kunsträume der Stadt. Eine Empfehlung hier: "Carlo's Vision" von Rosalind Nashashibi, eine kurze, tagtraumartige Fantasie nach Pasolinis Romanfragment "Petrolio".


Peter Kern, Romuald Karmakar, Kang Je-kyu, Pen-ek Ratanaruang

Das Panorama ist einerseits von allen Sektionen am schwersten zu fassen, weil es ständig Gefahr läuft, zwischen Wettbewerb und Forum zerrieben zu werden - insbesondere, da diese beiden Sektionen sich inzwischen nicht mehr so unnachgiebig voneinander abgrenzen, wie sie das einmal getan haben. Andererseits hat es mit seinem Fokus auf dem queeren Kino als einzige der drei Sektionen einen über lange Jahre erarbeiteten, bei aller notwendigen Kritik an seiner konkreten Ausrichtung sehr verdienstvollen inhaltlichen Schwerpunkt etabliert. Davon abgesehen ist das diesjährige Programm wieder extrem unübersichtlich geraten. Interessant werden dürften auf jeden Fall die neuen Filme von Peter Kern ("Glaube Liebe Tod") und Romuald Karmakar, der den im Anschluss an eine Diskussionsveranstaltung im Berliner Haus der Kulturen der Welt in nur wenigen Tagen entstandenen Montagefilm "Angriff auf die Demokratie - Eine Intervention" beisteuert. Die aktuellen Arbeiten von Pen-ek Ratanaruang ("Headshot") und Kang Je-kyu ("My Way") dürften für Freunde des formalästhetisch ambitionierten populären asiatischen Kinos einen Blick wert sein.


Szenen aus Naoko Ogigamis "Rent-a-Cat" (Panorama)

Was gibt es sonst noch? Berlinale Special, die beliebigste aller Sektionen, zeigt neue Filme von Werner Herzog (die Fernsehproduktion "Death Row" über zum Tode verurteilte Häftlinge in den USA, eine Art Ergänzung zum letztjährigen Kinofilm "Into the Abyss", der noch immer keinen deutschen Starttermin hat) und Guy Maddin ("Keyhole"). Das Kinderfilmfest Generationen geht nicht selten (und gewöhnlich leider auch im Perlentaucher) zwischen den anderen Sektionen unter, die Kosslick-Erfindungen Perspektive Deutsches Kino und Kulinarisches Kino machen munter weiter. Man lasse sich auch davon nicht abschrecken - es wird eine schöne Berlinale werden.