Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 5. Tag

Von Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl, Anja Seeliger
13.02.2007. Hal Hartleys "Fay Grim" treibt seinen Plot ziemlich intelligent in haarsträubende Höhen. Ariel Rotters Wettbewerbsfilm "Der Andere" zeigt Argentiniens neue Langsamkeit. Yau Nai Hois "Eye in the Sky" macht einen gruseln. In Richard Eyres "Notes on a Scandal" brilliert Judi Dench als unterberührte Liebesterroristin. Angela Schanelecs "Nachmittag" zeigt uns die unerträgliche Schwere des Seins. Thomas Arslans "Ferien" ist sehr uckermärkisch. Eine Liste aller besprochenen Filme finden Sie hier.
Smart: Hal Hartleys "Fay Grim" (Panorama)

Hal Hartley hat ein Sequel gedreht, zu "Henry Fool" (1997), zehn Jahre später. "Henry Fool" war die Geschichte des mephistophelischen Titelhelden mit dem sprechenden Namen (Thomas Jay Ryan), der den Müllmann Simon Grim (James Urbaniak) zu nobelpreiswürdiger Poesie inspiriert. Am Ende ist Henry auf der Flucht, seine Frau Fay (Parker Posey) - die Schwester Simons - allein mit einem Sohn und Simon als Helfershelfer im Knast.

Zehn Jahre später. Henry ist noch immer verschwunden, Simon noch immer im Knast und Fay schlägt sich herum mit ihrem nun 14-jährigen Sohn, der von der Schule fliegt, weil man ihn dabei erwischt, wie zwei Mitschülerinnen ihm einen blasen. Die Zusammenfassung täuscht. In "Fay Grim" herrscht ein anderer, entschieden farcenhafterer Ton als in der skatologischen Unterwelttragikomödie, die der Vorgänger war. Es liegen Filme dazwischen - unter anderem "No Such Thing", "The Girl From Monday" -, die keiner mehr mochte, die kaum jemand mehr sah. (In deutsche Kinos gelangten sie nicht.) Hartley zog nach Berlin und hat nun auch die Teile, die in Queens spielen, überzeugend übrigens, in Berlin gedreht.

Objekte kommen ins Spiel und diese Objekte bringen einen haarsträubenden Plot in Gang. Ein kleiner, handtellergroßer Projektionsapparat mit Kurbel an der Seite ist in der Post. Wenn man dreht, läuft ein Pornofilm mit Schrift an der Wand, die nach Entzifferung ruft. Und dann sind da die Tagebücher des Henry Fool. Literarisch taugen sie nichts, da hat niemand Zweifel. Jedoch, stellt sich heraus, sind sie ein in altmodischer Technik verschlüsselter Text, hinter dem alsbald die Geheimdienste der Welt herjagen, der undurchsichtige Mr. Fullbright (Jeff Goldblum) vornedran. Diese Objekte sind, erst einmal, das, was Hitchcock McGuffin nannte, an sich bedeutungslose Dinge, die die Handlung in Gang, die Spannung hoch halten.

Auch bei Hal Hartley sind sie McGuffins und gewiss nimmt er den ganzen Spionagezinnober auch keine Sekunde lang ernst. Und doch funktioniert das Verhältnis von Handlung und McGuffin gerade umgekehrt wie beim Meister des Suspense. Es ist nämlich der Unernst, der den Film infiziert und den Plot ins Absurde treibt. Alles, was geschieht, hängt daran, dass alle den McGuffin, Schriften in Büchern, an Wänden, ganz und gar buchstäblich ernst nehmen. Dieser Ernst, der alle gefangen nimmt, ist jedoch nicht der Ernst des Films selbst. Hartley ist noch immer ein Meister absurder, aber in ihrer Absurdität nur gelegentlich auf tatsächliche komische Pointen zugespitzter Dialoge. Und es ist ein großer Genuss, den Bewegungen und dem Sprechen der Darstellerinnen und Darstellern auch der Nebenrollen zuzusehen, von Elina Löwensohn bis Jasmin Tabatabei.

Die ganze Welt von heute in ihrem Irrsinn kommt vor in "Fay Grim", aber sie ist neu zusammengebaut aus Worten, die den Figuren, die Hartley virtuos durch seine schräg gelegten Bilder choreografiert, aus den Mündern purzeln. Oft so, als wüssten sie nicht wie. Keine Natürlichkeitsprätentionen hier und keine Menschen aus Fleisch und Blut. Und doch agieren sie mit großer Präzision in einem Spiel, dessen Regeln wir, die wir nur zusehen, nicht wirklich durchschauen. Es ist eine geschlossene, total unwirkliche Welt, die randvoll ist mit Stücken und Teilen der aber auch wieder nicht komplett umgearbeiteten Realität von heute.

Worauf es hinausläuft, im Endeffekt, ist schwer zu sagen. Mal abgesehen von Istanbul und einem islamischen Fundamentalisten, einer zionistischen Extremistin und einer russischen Stewardess, die leider ums Leben kommt. Es ist, als blickte man einem hochkonzentrierten, virtuosen Drahtseilakt zu, ohne dass man auch nur ahnte, in welcher Höhe er sich abspielt. Ist da Boden unter den Füßen? Oder lauern tiefe Abgründe, zwischen, unter, in oder hinter jedem Wort? Ich weiß es nicht zu sagen. Ich weiß nur: es ist smart und gekonnt, ein Vergnügen vom ersten Satz bis zum letzten. Und was ich auch weiß: Im Wettbewerb habe ich dieses Jahr noch keinen so intelligenten Film gesehen.

Ekkehard Knörer

"Fay Grim"
. Regie: Hal Hartley. Mit Parker Posey, Jeff Goldblum, Jasmin Tabatabei, Saffron Burrwos, Sibek Kekilli und anderen. USA 2006, 118 Minuten (Panorama)


Freudlos: Ariel Rotters "Der Andere"


Was für ein großartiger Vorspann: Unversehens gehen die Namen der Förderer dieser Produktion in Buchstabensalat über. Dieselbe Schrifttype, dreireihig, die Buchstaben werden Reihe für Reihe kleiner. Ein Mann liest vor und es wird klar, dass er beim Augenarzt ist. Erste Dialoge, aus denen sich erschließt, dass es sich erstens um eine Augenärztin handelt, die zweitens seine Frau ist und drittens Grund zur Vermutung hat, schwanger zu sein. Großartiger Vorspann also, aber im Wesentlichen war es das.

Der Held des Films, der 46-jährige Juan Desouza, ist Anwalt und verlässt im Bus Buenos Aires, die Stadt, in der er wohnt, und fährt, von Berufs wegen, in eine kleine Stadt in der Provinz. Auf dem Weg dahin stirbt im Sitz neben ihm ein alter Mann, dessen Namen er auf dem Etikett von dessen Reisetasche liest. Desouza beschließt, weiß der Teufel warum, dessen Identität anzunehmen. Oder jedenfalls: eine andere Identität als die eigene. Eine Namensproliferation bei der Anmeldung in mehr als einem Hotel. Es folgt aus alledem so wenig wie es im engeren Sinne erklärt wird. Freudlos schleicht Desouza alias Salazar alias Barillo (oder so) durch die Straßen der Provinzstadt. Gewiss, er schläft dann später mit mutmaßlich der Tochter des verstorbenen Salazar. Hinterher guckt er genauso freudlos wie zuvor.

Ariel Rotter, der Regisseur, ist offenkundig ein Vertreter der argentinischen Schule der neuen Langsamkeit. Er kadriert recht streng, er legt großen Wert darauf, dass wir Bilder und Töne wahrnehmen, aber Freiheit für den Betrachter ist was anderes. Überraschungen bleiben mehr oder weniger aus. Und nichts nimmt einen ein für diesen Protagonisten, der wenig spricht und gerne jungen Frauen beim Baden zusieht und später einer alten Frau im Hotel womöglich das Leben rettet als der andere, der er wäre. Oder auch nicht. Wir wissen es nicht, wir erfahren es nicht, wir sehen ihm zu bei den Dingen, die er so treibt, aber es ist bald seltsam egal. Singulär ist an "El Otro" nur die große Diskrepanz zwischen Witz und Intelligenz des Vorspanns - und dem Rest, den man absitzt in der Hoffnung auf Wendungen, die nicht eintreten.

Ekkehard Knörer

"El Otro - Der Andre"
. Mit Julio Chavez, Osvaldo Bonet, Maria Oneto, Maria Ucedo und anderen. Argentinien 2006, 83 Minuten (Wettbewerb)



Jagdhunde: Yau Nai Hois "Eye in the Sky" (Forum)

Dieser Polizeifilm hat alle Qualitäten, für die man das Hongkong-Kino liebt. Es ist ein Genrefilm mit Verfolgungsjagden, Gespinsten aus Blicken und Gesten zwischen Verfolgern und Verfolgten, die so elegant choreografiert, mit solcher Leichtigkeit inszeniert sind, wie es Hollywood nicht mehr gelingt. Ganz nebenbei werden wir durch ein sehr unglamouröses Hongkong geführt. Man sieht es quasi mit den Augen seiner Bewohner, für die die Stadt Alltag ist. Es beginnt in einer vollbesetzten Straßenbahn. Leute steigen ein und aus, Blicke werden gewechselt - es dauert eine Weile, bis man versteht, wer die drei Hauptpersonen in dieser Szene sind. Und noch länger dauert es, bis man versteht, wer wen verfolgt. Die ganze Szene ist eine wunderbare Etüde über die Inszenierung einer Verfolgungsjagd.

Nach und nach setzt sich der Zuschauer die Geschichte zusammen: Ein Team von Überwachungsspezialisten observiert eine Räuberbande, die bevorzugt am helllichten Tag Juwelierläden ausraubt. Neu dabei ist eine junge Frau, die hier die harten Regeln des Jägers lernt. Zum Beispiel: Man lässt die Beute nicht entkommen, um einem verblutenden Opfer zu helfen. Das ist alles sehr spannend. Nach einer Stunde begreift man allerdings, dass Yau Nai Hois Filmdebüt den einen großen Fehler hat, der den Zuschauer nach einem Hongkongfilm so oft ratlos lässt. Warum hat der Regisseur ihn gemacht? Die Überwacher haben atemberaubende Möglichkeiten. Überall gibt es Kameras, deren Aufnahmen anscheinend endlos von zentraler Stelle aus abrufbar sind, sekundenschnell werden Kreditkarten überprüft, mühelos Telefonanrufe zurückverfolgt oder abgehört, ohne dass jemals die Worte "richterliche Genehmigung" fallen. Der Film hat dazu keine Haltung. Es ist einfach so.

Nur die junge Polizistin macht einen Lernprozess durch. Als das erste Mal bei einer Verfolgung ein Polizist angeschossen wird, bleibt sie stehen und presst jeden erreichbaren Stofffetzen auf die blutenden Wunden. Vergeblich. Beim zweiten Mal gibt sie - wenn auch unter Tränen - dem Drängen nach, lässt ihren verblutenden Vorgesetzten liegen und rennt dem Verdächtigen hinterher. Ganz am Ende das Films, im letzten Bild, sehen wir sie noch einmal, diesmal bei einer neuen Observation: mit strahlendem Gesicht steht sie auf einer Kreuzung und lauscht den Anweisungen, die ihr über ein Minimikrofon ins Ohr geflüstert werden. Sie wird nie wieder anhalten, sie ist jetzt ein perfekt abgerichteter Jagdhund. Der Zuschauer, der sich neunzig Minuten lang gut unterhalten hat, verlässt das Kino mit einem Grusel, den der Regisseur nicht beabsichtigt hat.

Anja Seeliger


"Eye in the Sky". Regie: Yau Nai Hoi. Mit Tony Leung Ka Fai, Simon Yam Tat Wah, Kate Tsui u.a. Hongkong, China, 2007, 90 Minuten (Forum)



Unterberührt: Richard Eyres "Tagebuch eines Skandals" (Wettbewerb außer Konkurrenz)


Barbara Covett ist nicht gerade jemand, dem man seine Kinder anvertrauen würde. Nur leider ist sie Lehrerin an einer Londoner Schule, und wenn sie anfangs aus dem Fenster ihres Klassenzimmer sieht, um die hereinströmenden Schüler zu betrachten, hört man, was sie von ihnen denkt: "Hier kommen sie, die Klempner und Verkäufer der Zukunft. Ein paar werden auch Terroristen werden." Von Beginn an ist der Zuschauer eingeweiht in das, was Barbara nur ihrem Tagebuch anvertraut. So hat er einen Vorteil gegenüber Sheba, die als Kunstlehrerin neu in das Kollegium kommt und sich bald mit der äußerlich so strengen älteren Kollegin anfreundet.

Richard Eyre geht es aber nicht um Freundschaft, sondern um Macht. Wer dominiert und wer Opfer wird, ist dabei nur auf den ersten Blick klar. Ja, Covett missbraucht das Wissen von der Affäre Shebas mit einem Schüler skrupellos, um diese an sie zu binden. Sie will sie zuerst von ihrem jungen Liebhaber und dann von ihrer Familie isolieren, um sie schließlich ganz für sich zu haben. Dafür ist sie bereit, Sheba und ihr Leben zu vernichten. Das hört sich so teuflisch an, wie es ist. Besonders bei Barbaras Kommentaren aus dem Off - die übrigens in einem so akkurat-pointierten BBC-Englisch vorgetragen werden, das man nur inständig auf eine kongeniale Synchronisierung hoffen kann - ist man froh, dass zwischen ihr und einem selbst eine Leinwand ist. Immer wieder bricht Barbara aber auf, nicht nur beim Tod ihrer Katze, und offenbart eine so verzweifelt einsame und alte Frau, dass man sie am liebsten sofort jeden Sonntag zum Familienessen einladen will. Doch sie fängt sich immer wieder, was traurig für sie selbst ist, aber eine Freude für den Zuschauer. Gut ist diese Ambivalenz auch für die Geschichte, die damit offen bleibt. Wer wird den mephistophelischen Kampf in Barbara gewinnen, fragt Eyre: Der Machtmensch, der keine Schwäche zulässt und die Härte gegen sich und gegen andere wendet oder die alte Frau von nebenan, die einfach nur mal in den Arm genommen werden will, weil sie so "unterberührt" ist, "dass schon die zufällige Berührung eines Busfahrers Wellen der Erregung durch den Körper sendet"?

Verraten werden kann hier nur, dass der Kampf lange genug dauert, den ganzen Film lang wohlige Angst um Barbara als auch um Sheba zu haben. Der Weg dorthin ist deliziös und keineswegs ermüdend. Dafür sorgt Barbaras Zynismus, der immer wieder wie bittersüße Orangenmarmelade aus ihrem Tagebuch tropft. Danach hat man dann wieder Angst, diesmal vor der kleinen Oma in der Nachbarswohnung, die vielleicht ein Leben voller unerfüllter Träume zu einer Liebesterroristin gemacht haben.

Cate Blanchett ist die Rolle der verunsicherten Schönheit, die in ihrer delikaten und offensichtlichen Schwäche einfach unwiderstehlich ist, auf den Leib geschrieben. Judi Dench aber dominiert diesen Film. Sie kontrolliert Barbara in jeder Sekunde, ob diese nun mit Wonne Leben vernichtet oder hemmungslos zu schluchzen beginnt. Sie zeigt beides, Härte und Schwäche. Alles zugleich. Woher Judi Dench aber weiß, dass man die innere Agonie eines beziehungsunfähigen Monsters alleine mit einer zögernden Handbewegung offenbaren kann, weiß nur sie allein.

Christoph Mayerl

"Notes on a Scandal - Tagebuch eines Skandals". Regie: Richard Eyre. Mit Judi Dench, Cate Blanchett, Bill Nighty, Andrew Simpson und anderen. Großbbritannien 2006, 92 Minuten (Wettbewerb außer Konkurrenz)


Radikal solidarisch: Angela Schanelec: Nachmittag (Forum)


Das erste Bild, eine starre Einstellung: Ein Blick von einer Theaterbühne hinaus, auf die Zuschauerränge. Im Vordergrund - und auf der Bühne - liegt ein Hund. Ihm nähert sich eine Frau, Irene (Angela Schanelec), sie streichelt ihn. Es scheint eine Probe zu sein, auf den Zuschauerplätzen ein paar Leute, etwas unruhig. Ob die Szene, die man sieht, eine geprobte Szene ist oder eine Szene am Rande der Probe, ob sie zum Stück gehört oder nicht, das bleibt unklar. Angela Schanelecs Film "Nachmittag" kehrt nicht zu dieser ersten Einstellung, kehrt nicht ins Theater zurück. Nur einmal wird später eine Figur von eben der Szene erzählen, die sie im Theater gesehen hat. Ein für allemal verlässt der Film das Theater, er spielt dann in einem Haus am See in Potsdam und in den Straßen Berlins; und doch macht spätestens der Abspann klar, dass die erste Szene zugleich einen Raum, einen Spielraum etabliert, der vom Theater kommt. "Nachmittag" ist eine Adaption von Anton Tschechows "Die Möwe". Eine Adaption, die sich ins Freie bewegt.

Ganz gewiss aber ist das Freie in "Nachmittag", als Freiheit, die die Autorin Angela Schanelec mit dem Text und den Figuren Anton Tschechows sich nimmt, kein Freiraum für die Darsteller, die sie durch ihre Einstellungen bewegt. Oder für die Einstellungen der Kamera, die sich um die Figuren bewegt. Die Kamera blickt, im ersten Bild, in den Zuschauerraum, aber da sind keine Zuschauer. Ein ähnliches Bild gibt es später, ein starrer Blick der Kamera hinaus aus der Villa, die der zentrale Handlungsort ist, auf den menschenleeren See, an dessen Ufer die Villa steht. Auf der Terrasse sitzt, kaum zu sehen, verdeckt von Fensterrahmen und -brettern, Irene, neben ihr ihr neuer Freund, der Schriftsteller Max (Mark Waschke).

Es sind diese Einstellungen, die im Rahmen, den sie geben, immer auch Informationen verweigern, die man aus Schanelecs letztem Film "Marseille" kennt. Es gibt sie auch hier, in "Nachmittag", dem Film, der vom Theater kommt. Es dominiert jedoch eine andere Form, Figuren ins Bild zu setzen, ja, es ist, als wären die Regisseurin (und ihr großartiger Kameramann Reinhold Vorschneider) diesmal auf der Suche nach einer Bildsprache der Intimität. Der Raum zieht sich zusammen um Körper, genauer, um Gesichter, die in Großaufnahme sprechen. Dieses Zusammenziehen des Raums ist zwar, im ersten Zug, ein Akt der Verweigerung. Es ist nicht immer klar, wer noch im Raum ist, im Off des Bildes, es wird oft nicht gleich gezeigt, wer adressiert wird mit den Worten, die die Figuren, auf die die Kamera so insistierend blickt, sprechen. Im zweiten Zug aber ist diese Fokussierung ein Akt der Konzentration, der ungeteilten Aufmerksamkeit, beinahe der Liebe. Gewiss, diese Charaktere sind in sich gefangen, mit sich selbst weit mehr beschäftigt als den anderen. Mit ihrem unverwandten Blick jedoch gibt die Kamera diesen Menschen, so egozentrisch sie sind, allen Kredit. Sie folgt ihnen dabei, wie sie sich herausnehmen aus der Welt, wie sie sich zurückbiegen auf sich selbst. Der Film ist solidarisch mit ihnen, und zwar auf der banalsten formalen Ebene, indem er zeigt, wie sie bei sich sind, und indem er spüren macht, wie dieses Beisichsein ein Verlust ist, ein Verlust der Mitwelt.

Dieser Verlust ist durch das Suchen und Finden von Worten nicht wettzumachen. Zwei Figuren gleich sind Schriftsteller. Wie bei Tschechow. Sehr vieles ist hier wie in der Vorlage, und doch ist "Nachmittag" ganz eigen, eine Adaption, die sich nicht Freiheiten nimmt, aber mit großer Kraft und Anstrengung sich etwas Eigenes erarbeitet. Es gibt Tschechow-Dialoge, die der Film seinen Menschen, die so deutlich in anderen Zeiten leben als die Tschechow-Figuren, nicht einfach in den Mund legt. Er lässt sie, Agnes (Miriam Horwitz) vor allem, um diese Dialoge, um das Gesagte beinahe kämpfen. Es ist wie ein fremdes Eigenes, es ist ein Finden von Dingen, die die Figur nicht unbedingt schon versteht, nur weil sie sie sagt. Sehr lange verweilt in Großaufnahmen im Profil die Kamera auf dem Gesicht von Agnes, die große Worte ausspricht. Aber gerade nicht gelassen, sondern wie eine, die über den Mut zu diesen Worten selber staunt. Und doch nicht zweifelt. Das ist eben die radikale Solidarität dieses Films, der denen, die er zeigt, in den Bildern, in die er sie fasst, eine Heimat gibt auf Zeit. (Übrigens gibt es auch den umgekehrten Fall, dass bloße Banalitäten aufgeladen sind - nicht einmal mit Bedeutung, sondern einfach mit Gewicht. Alles lastet.)

"Nachmittag" ist kein dialogischer Film, nach innen nicht und nicht nach außen. Hier ist niemand auf der Suche nach einem Publikum. Man kann sich abgestoßen fühlen von diesem fast schon obsessiven Eigensinn (und von den Charakteren, mit deren Fixierung auf sich selbst der Film solidarisch bleibt), aber die Kompromisslosigkeit des Films besteht darin, dass ihn das nicht kümmert. Es geht nicht um sozialen Zusammenhalt. Gespräche sind in "Nachmittag" darum nicht Kommunikation, sondern der einsame Kampf der Figur mit dem Wort in Anwesenheit von anderen. Es gibt nicht eine einzige konventionelle Auflösung eines Dialogs in Schuss und Gegenschuss. Unendlich langsam schwenkt stattdessen die Kamera von Gesicht zu Gesicht, bewegt sich und verharrt, bewegt sich und verharrt. Die Bilder, am See, in der Sonne, im Sommer von Potsdam, sind oft außerordentlich klar und licht, aber es lastet von Anfang bis Ende auf den Menschen das Gewicht der Welt. Es geht nicht um eine Erzählung, nicht einmal um einen Prozess, sondern um eine Abfolge von Zuständen. Das Soziale zerfällt, ohne dass dieser Prozess erläutert würde, vor unseren Augen und Ohren. Auch das ist wie bei Tschechow, wenngleich ohne seinen Hang zum Zynismus. Am Ausgang ändert das nichts: Eine entkommt, einer bringt sich um, der Rest ist von Anfang an tot. "Nachmittag" ist ein Film über die unerträgliche Schwere des Seins.

Ekkehard Knörer


"Nachmittag"
. Regie: Angela Schanelec. Mit Jirka Zett, Miriam Horwitz, Angela Schanelec, Fritz Schediwy, Mark Waschke, Agnes Schanelec u.a. Deutschland 2007, 97 Minuten (Forum)



Uckermärkische Tristesse: Thomas Arslans Ferien (Panorama)


Es ist ungerecht, dem Film, der im Titel die Offenheit des Urlaubs anklingen lässt, gleich mit Etiketten zu kommen. Aber natürlich ist Thomas Arslan ein prominenter Vertreter der Berliner Schule, und als deren neuestes Produkt sieht man den Film auch, man kann nicht anders. Das liegt zum einen daran, dass Arslan sich an die Regeln hält. Die Normalität ist Ziel und Fluchtpunkt des Films. Eine Familie kommt im Sommer im Landhaus von Anna und Robert zusammen. Die Tochter Laura und ihr Mann Paul reisen mit den Kindern an, ihre Schwester Sophie kommt alleine aus dem Ausland, und die schwer kranke Mutter von Anna macht die Anordnung nach einigen Minuten komplett. Jetzt wird verfolgt, wie die Ausgangschemikalien miteinander reagieren. Als der Versuch zu Ende ist, sind Laura und Paul getrennt, Annas Mutter tot und Anna selbst hat beschlossen, in die Stadt zu ziehen - natürlich nach Berlin. An die Hauptstadt wird man ständig erinnert, an deren neueste Filmemachergeneration und ihr Interesse für das Unscheinbare, an die Zurückhaltung bei den stilistischen Mitteln, die visuelle Disziplin, das alles zeigende, verdammt helle Licht und die ruhige, fast statische Kamera des bewährten Arslan-Gefährten Michael Wiesweg.

Noch im Kino tütet man den Film also fein säuberlich ein und klebt ein Schildchen drauf, ja das ist die Berliner Schule. Diese vorauseilende Konservierung erfolgt aber nicht aus der Lust am Schubladendenken, sondern aus dem Mangel an Denkanreizen überhaupt. Denn von Anfang an ist klar, worauf das alles hinauslaufen wird. Es wird getrennt werden und es wird gestorben werden. Jede Rolle hat eine Funktion, die Bild für Bild abgearbeitet wird. Wo ist die Liebe zur Offenheit hin, die Arslan noch in "Aus der Ferne" bewiesen hat für die kleinen Zufälle am Wegesrand seiner Reise durch die Türkei? Was ist aus dem Herantasten an die deutsche Wirklichkeit geworden, für die er und seine Kollegen zurecht so gepriesen wurden?

Hier wird gleich am Anfang klar gemacht, woran wir sind. Jeder in der Familie druckst mit Problemen herum, keiner ist so richtig zufrieden mit seinem Leben. Damit das auch rüberkommt, hat das Personal jeden Morgen offenbar in Baldrian gebadet, um danach einen Stock zu verschlucken. Trotz hochsommerlicher Temperaturen auf der Leinwand wirken die Schauspieler wie schockgefrostet, sichtlich gequält von ihren inneren Zweifeln und Ängsten. Aber es kracht eben nicht. Die Dauerspannung bleibt in der Luft und verwandelt sich schließlich in bloße Ödnis und Lebensunslust. Natürlich spielt das ganze in der menschenleeren und sonnenverbrannten Uckermarck, der deutsch-deutschen Vorzeigelandschaft für Zukunftsängste, Auswanderung und Hoffnungslosigkeit. Deutschland mag trist und verstockt und leer sein, aber von so eingespielter Tristesse ist es hoffentlich nur bei Thomas Arslan.

Nun ist das sicherlich ein ordentlicher Film. Für Bewunderer der Berliner Schule, für Freunde einer effizienten und ökonomischen Kamera, für die Liebhaber der Uckermarck. Wer sich aber mit irgendjemand identifizieren will, wer eine Geschichte will, bei der man mitgeht, der ist bei diesem in drei Schichten Berliner Zellophan verpackten Film an der falschen Stelle.

Christoph Mayerl

"Ferien". Regie: Thomas Arslan. Mit Angela Winkler, Karoline Eichhorn, Uwe Bohm, Gudrun Ritter, Anja Schneider und anderen. Deutschland 2006, 91 Minuten (Panorama)

Eine Liste aller besprochenen Filme finden Sie hier.