Außer Atem: Das Berlinale Blog

Der Einfallslosigkeit eine Chance

Von Ekkehard Knörer
17.02.2007. Die Berlinale gibt im sechsten Jahr unter Dieter Kosslick der Durchschnittlichkeit eine Chance. Sie wirft sich für Langeweile, Einfallslosigkeit und die Konvention in die Bresche. Einige Ausnahmen gab es. Nur von ihnen sei hier die Rede. Und: alle Bären auf einen Blick.
Sprechen wir nochmal (ein letztes Mal) über "Bordertown", den Wettbewerbsfilm, mit dem Jennifer Lopez an der amerikanisch-mexikanischen Grenze Menschenrechts-Credibility anschaffen ging. Ein lächerlicher Film, das war wohl sogar den Kritikern klar, die Sharon Stone im bodenlosesten unter den weiteren Wettbewerbsfilmen mit dem Titel "When a Man Falls in the Forest" die verbitterte Hausfrau noch abnehmen wollten. Es kann für die Aufnahme von "Bordertown" in den Berlinale-Wettbewerb nicht mehr als zwei Gründe geben. Entweder haben die Verantwortlichen geglaubt, es handle sich dabei um einen der Veranstaltung würdigen Film. Dann haben sie von der Filmkunst nicht die leiseste Ahnung. Oder sie wussten um die Nichtswürdigkeit des Machwerks und glauben, der Zweck (Anprangerung schrecklicher Missstände) heilige jedes, wirklich jedes Mittel. Dann haben sie für die Filmkunst nichts als Verachtung übrig.

Man muss sich ja nicht für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden. Der diesjährige Wettbewerb in seiner ganzen Breite macht es sowieso eher wahrscheinlich, dass einfach beides zutrifft. Die Berlinale bietet im sechsten Jahr unter Dieter Kosslick abgehalfterten Superstars ebenso eine Lobby wie deutschen Private-Equity-Fonds. Sie gibt mit großer Freude der Durchschnittlichkeit eine Chance. Sie wirft sich für Langeweile, Einfallslosigkeit und die Konvention in die Bresche. Sie hat ein Herz fürs Schmierige und für die noch während des Festivals in deutschen Kinos anlaufende Hollywood-Großproduktion. Man kann angesichts dieser verheerenden und im Lauf der Jahre mit großer Zielstrebigkeit herbeigeführten Lage eigentlich nur staunen, dass dann zwar kein Meisterwerk, aber wenigstens noch eine Handvoll guter, wagemutiger oder ihrer Mittel souverän sicherer Filme im Wettbewerb zu sehen waren. Nur von ihnen soll noch einmal die Rede sein.

Li Yus "Lost in Beijing", von Zensurmaßnahmen bedroht und wohl eher zufällig - und möglicherweise mit Folgen für die Regisseurin - in der Pressevorführung ohne (oder fast ohne) Schnitte gezeigt, ist ein ziemliches Durcheinander, das einen guten Teil seiner möglichen Wirkung irgendwo auf der Strecke zwischen atmosphärischen Eindrücken aus dem Peking von heute und einer nur bedingt glaubwürdig zusammengezimmerten Vierecksgeschichte verliert. Die mit den Darstellern fiebrig durch die Gegend jagende Handkamera (mit Autofokus und somit immer etwas verspätet scharf), ist ein vielleicht eher hilfloses - und jedenfalls auf Dauer enervierendes - als künstlerisch überzeugendes Mittel zur Anzeige innerer wie gesellschaftlicher Unruhe. Und doch hat der Film eine Dringlichkeit, die sich überträgt. Er hat was zu zeigen, er hat was zu sagen und das allein ließ seine Bilder unter den vielen anderen, mal nur gut gemeinten, mal nur gut gemachten schon herausragen.

Eine Klasse für sich ist immer noch Jacques Rivette, der in diesem Jahr sozusagen nur mit den Trümmern eines nicht finanzierbaren großen Projekts anreiste. Aber was für Trümmer! Jeanne Balibar und Guillaume Depardieu fochten, Honore de Balzacs Novelle "Die Herzogin von Langeais" sehr treu, mit Worten in von der Kamera bestechend eingerichteten und ausgeleuchteten Räumen. Nichts natürlich für all jene, die unbedingt "mitgerissen" werden wollen von dieser oder jener kinematografischen Grobheit, für all jene, die ganz genau wissen, dass das Kino aus "großen Bildern" gemacht ist und nicht aus der denkbar größten Genauigkeit in Wort, Bild und Gedanken. Selbst die Kritiker strömten in Scharen aus dem Saal oder schnarchten unbekümmert vor sich hin.

Eher schmählich übersehen oder aufs Ahnungsloseste hämisch verlacht wurde "In memoria di me", Saverio Costanzos ambitionierte Meditation über den Sinn des Menschenlebens und darüber, ob er sich etwa im Kloster finden lässt. Wie Costanzo fast ausschließlich in beklemmenden Bildern und Tönen denkt und, ohne sie je an bloßen Effekt oder die simple Lösung von Rätseln zu verraten, eine Spannung aufrechterhält bis zum letzten Ende, das den Betrachter so überraschend wie überzeugend mit zwei Formen der Freiheit beschenkt: das war, auch wenn nur wenige - es sei dabei freundlich auf die Kollegen von der NZZ und von indiewire verwiesen - die Augen hatten es zu sehen, ein Höhepunkt des Wettbewerbs.

Dazu wurde, nach den letzten Enttäuschungen in seinem Werk fast schon überraschend, auch Andre Techines "Les Temoins", der mit viel Schwung und formaler Souveränität über die gewiss vorhandenen Drehbuch-Klischees hinwegfegte. Früher gab es aus Frankreich dergleichen Filme im Dutzend, heute freilich muss man schon dankbar sein, wenn einer nicht jeden originellen Gedanken gleich - wie zum Beispiel Francois Ozon mit "Angel" - an die schiere Konfektion verschenkt. Bleibt noch Christian Petzolds "Yella". Man kann an der letztendlichen Schlüssigkeit der Idee zweifeln, Genremomente und scharf eingestellte Kapitalismuskritik einander unvermittelt durchdringen zu lassen - die von Petzold inzwischen erreichte formale Meisterschaft steht jedoch außer Frage. Keiner sonst schafft Bilder, die so gestochen klar und zutiefst rätselhaft zugleich sind, die im selben Moment locken und drohen und die Welt verzaubern, ohne sie im mindesten zu verklären. Wenn ich die Jury wär oder ein Stimmlein hätt: Dies wäre mein Goldener Bär.

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Es kam dann natürlich alles ganz anders: Alle Bären hier auf einen Blick.