Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 9. Tag

Von Sascha Josuweit, Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
14.02.2002. Universale Werte: "War and Peace" von Anand Patwardhan. Framing Reality: Die Theorie-Begleitkonferenz zur Berlinale. Luftwurzeln: "Piedras" von Ramon Salazars. Schwindlig in Rom: Carola Spadonis "Drehungen".
Donnerstag, 15 Uhr

Universale Werte: "War and Peace" von Anand Patwardhan (Panorama)


Friedensbewegung? Ach du lieber Himmel! Denkt man erst mal, und ist eine halbe Stunde später zu Tränen gerührt. Nicht über die Bilder von einäugigen Kindern oder mit Tumoren besetzten Schienbeinen, die von Dorfbewohnern nahe einer Plutoniumfabrik in die Kamera gehalten werden. Sondern von dem kleinen Grüppchen aus höchstens 50 Leuten, das sich singend auf einen kilometerweiten Friedensmarsch begibt.

Der indische Regisseur Anand Patwardhan dokumentiert in seinem Film "War and Peace" die Atomwaffentests in Indien und Pakistan und ihre Folgen in den letzten drei Jahren. Er zeigt die Nationalisten auf beiden Seiten und Vertreter der Friedensbewegungen. Er spricht mit "einfachen" Menschen, um zu erfahren, ob sie die andere Seite wirklich hassen (sie tun es meist nicht), besucht das Hiroshima Peace Memorial in Japan und das National Air and Space Museum in Washington. Patwardhan macht kein Hehl daraus, dass er auf der Seite der Friedensbewegung steht. Das schadet dem Film nicht.

Denn was man vor allem daraus lernt ist, dass es eben doch universelle Werte gibt. Im Guten wie im Bösen. Es gibt Menschen wie die Friedensmarschierer oder den Japaner, der seine Eltern bei der Bombardierung Nagasakis verloren hat und sich auch an die Tauben erinnert, die immer auf einem großen Platz dort gesessen haben: "All die Tiere, die verschwunden sind. Keiner fragt danach." Und dann gibt es solche wie die Inder und Pakistanis, die nach Atomwaffentests stolz verkünden: "Die Welt weiß jetzt, wo Indien (Pakistan) auf der Landkarte liegt." Man sieht nicht den geringsten Unterschied zwischen ihnen und dem amerikanischen Prediger, der einer jubelnden Menge verkündet, es seien Amerikas Waffen, die es zur "größten Nation" der Welt gemacht haben. Auch der Nationalstolz ist ein universeller Wert.
Anja Seeliger
"War and Peace", von Anand Patwardhan, 172 Minuten.


Donnerstag, 15 Uhr

Die Theorie-Begleitkonferenz zur Berlinale: Framing Reality

Catherine David, die Vorzeige-Intellektuelle des Kunstbetriebs, hat's mit der letzten Documenta vorgemacht, die Berlinale macht diesmal (ausgerechnet beim Debüt des bekennenden Nicht-Intellektuellen Dieter Kosslick) einen ersten kleinen Hüpfer hinterher: mit Hilfe des in Potsdam beheimateten Einstein-Forums gibt es, erstmals, einen Beigeschmack von Theorie zur Leistungsschau des Films. Was Rang und Namen hat in jenem (vor allem in Deutschland) sehr schmalen Bereich, in dem sich Film und Theorie kreuzen, hat man unter dem beziehungsreichen englischen Titel "Framing Reality" zusammengerufen und im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek versammelt.

Tatsächlich hatte man den Eindruck, dass, wenigstens in der Sektion, die ich gesehen habe, kaum Berührungen stattfanden, zwischen den Filmjournalisten einerseits und den Theorie-Groupies andererseits, die, wie man mutmaßen darf, vor allem gekommen waren, um ihren Star Slavoj Zizek in Aktion zu erleben. Daneben verblassten die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, die beiden Filmer Andres Veiel ("Black Box BRD") und Christopher Roth ("Baader"), während der Doku-/Essay-Filmer Harun Farocki von links außen den Eindruck zu vermitteln verstand, dass er über allem irgendwie drüber stehe. Zizek enttäuschte nicht: aus eher katatonisch wirkenden Ruhezuständen fuhr er immer wieder mit einem Schachtelteufel-Furor empor, der an nichts so sehr erinnerte wie einen Reich-Ranicki-Auftritt.

In der von Christiane Peitz moderierten Diskussion ging es um das Verhältnis von Dokumentar- und Spielfilm, um die Frage, in welcher Weise welche Formen von Realität beim einen wie beim anderen ins Spiel kommen. Andres Veiel, der zur Zeit vielleicht bekannteste deutsche Dokumentarfilmer, vertrat dabei die humanistische Schule, sprach von der Suche nach "inneren Wahrheiten" und plädierte für den fürsorglichen Umgang des Dokumentaristen mit den Menschen in seinen Filmen. Christopher Roth, dessen Baader-Biopic morgen im Wettbewerb läuft und mit Spannung erwartet wird, setzt dagegen auf eine Strategie der Verstörung: Indem er seinen Film mit einer faustdicken historischen Lüge enden lasse, werde nachträglich die Richtigkeit des zuvor Gezeigten in Frage gestellt. Harun Farocki versucht der Wahrheit in seinen Filmen wiederum auf dem reflexiven Umweg über die reine Meta-Ebene auf die Schliche zu kommen, arrangiert - wie in seinen "Gefängnisbildern" (mehr hier) - vorgefundenes Material, analysiert Strukturen und interessiert sich nicht für Menschen als Privatpersonen.

Zizek - der bei Nennung eines Lieblingsstichworts sofort in die zu erwartende Richtung losstürmt - versicherte, dass er nichts für weniger aufschlussreich hält als das Private, in dem sich dann angeblich die ganze Wahrheit zeigt. Das Private, so seine dialektische Wendung, ist gerade die Maske. Die Wahrheit finde man nicht in den Bildern mehr oder weniger naiv dokumentarischer Wirklichkeitsabbildung, sondern - gut lacanianisch - nur in den Phantasmen. Der Glaube, man könne im Dokumentarfilm einer unverstellten Authentizität auf die Spur kommen, sei genau deshalb verfehlt. Wir alle spielen immer schon Theater. Nicht gerade eine umwerfende Erkenntnis, das wusste der Soziologe Erving Goffman schon vor dreißig Jahren. Gertrud Koch dagegen fragte sich und die Runde, welcher Natur denn eigentlich dieses nicht tot zu kriegende Interesse eines jeden, auch des Theoretikers, an der Wirklichkeit des Gesehenen in jeder Reportage, in jedem Dokumentarfilm sei. Auf diese entscheidende Frage bekam sie leider keine Antwort.


Donnerstag, 15 Uhr

Luftwurzeln: "Piedras" von Ramon Salazars (Wettbewerb)

Zu den wirklich schlimmen Festivalerfahrungen gehören oft gar nicht so sehr die ärgerlichen Filme, die einem tief contre coeur gehen, denn die fordern wenigstens zur Auseinandersetzung heraus. Ärger sind meist die mediokren Werke, die einem nichts entlocken können als ein heftiges Gähnen. "Piedras" ist ein solcher Fall. Man sieht dem Film an, was er sein will, es steht ihm auf die Stirn (und für die ganz Langsamen auch ins Presseheft) geschrieben: ein spanisches "Short Cuts" nämlich, eine Variante von Robert Altmans Vielpersonenstück, diesmal mit Frauen in den Hauptrollen.

Leider ist der junge Spanier Ramon Salazar, um dessen Debütfilm es sich handelt, als Regisseur weder Robert Altman noch als Drehbuchautor Raymond Carver. Für keine einzige der fünf zentralen Geschichten kann man sich wirklich interessieren - um ehrlich zu sein, fällt es oftmals sogar schwer, sich zu erinnern, wer genau nun wer war und mit welchem Schicksalsschlag zu kämpfen hatte. Seinen Grund hat das darin, dass fast alles, was Piedras erzählt, bloße Luftwurzeln schlägt in einer Scheinwirklichkeit.

Salazar zwingt, was anders nicht zueinander finden will, in einem durchgehenden Leitmotiv zusammen: Schuhe. Isabel (Angela Molina), von ihrem reichen Mann betrogene Ehefrau, ist eine Schuhfanatikerin beinahe vom Schlage Imelda Marcos. Sie kauft und stiehlt Schuhe in großer Zahl, aber in zu kleinen Größen. Maricarmen (Vicky Pena), die Taxifahrerin, trägt grundsätzlich nur Hauspantoffeln, ihr Sohn setzt sich in den Kopf, mit roten Gummistiefeln Fußball zu spielen. Da hat er aber Pech. Leire (Najwa Nimri), eine weitere Protagonistin (mit gestohlenen Schuhen), trennt sich von ihrem Freund und landet am Ende in Lissabon. Außerdem ist sie die Stieftochter von Maricarmen. So oder so ähnlich versucht Salazar sein Personal nach und nach zu verschwippen und verschwägern, aber mehr als ein Erzähltrick ist das nie. Auf der Habenseite hat der mit 130 Minuten unendlich lang scheinende Film ein paar clevere Schnitte und den schnellsten Fick des Festivals.
Ekkehard Knörer (von Jump-cut)

Piedras - Steine, von Ramon Salazar, mit Angela Molina, Najwa Nimri, Vicky Pena, Spanien 2001, 130 Min.
Termine



Donnerstag, 11 Uhr

Und heute die Presse

In sämtlichen Feuilletons wird heute Constantin Costa-Gavras "Amen" ordentlich verrissen, die Verfilmung von Rolf Hochhuths "Stellvertreter". In der FAZ, aber leider nicht im Netz, schreibt Peter Körte, der Film renne "mit Furor offene Türen" ein: "Fast vierzig Jahre nach dem Stück wirkt das alles nur furchtbar anämisch."

In der SZ muss Tobias Kniebe sogar um Erbarmen bitten: "Es ist, als würde uns der Holzhammer kraftvoll übergezogen, aber immer nur auf dieselbe Stelle am Hinterkopf. Wir fordern hiermit, auch mal von rechts und links und von vorn getroffen zu werden.Im Tagesspiegel stellt Peter von Becker fest, dass der Film einen trotz vorzüglicher Schauspieler kalt lasse." Alle Figuren agieren als Typen vom Reißbrett, ohne einen Hauch Luft um die Menschen, ohne privaten Atem, ohne jede überraschende Wendung." (mehr Berichte zur Berlinale hier)

In der Berliner Zeitung fragt Jens Balzer: "Welche Bilder kann ein Filmregisseur heute in diesem Text finden, die wir noch nicht gesehen haben? Die Antwort ist so schlicht wie bedrückend: Costa-Gavras hat nichts gesucht, und er hat nichts gefunden." Nur in der taz interessiert sich Andreas Busche ernsthaft für den Film, bemängelt aber, dass der Film nicht eindeutig Stellung zur individuellen Schuldfrage beziehe (mehr Berlinale hier).

Und die Blätter, die es gestern noch nicht getan haben, besprechen heute Wes Andersons "Royal Tenenbaums, überwiegend gut. In der FAZ meint Bert Rebhandl: "'The Royal Tenenbaums' sind die erste relevante Antwort auf Quentin Tarantinos "Pulp Fiction", die Tarantino nicht selbst geben musste." In der taz kritisiert Barbara Schweizerhof, dass die Handlung die meiste Zeit vor sich hindümpele, lobt aber die vielen Details am Rande und die größte Entdeckung des Films: Gene Hackman als genialer Komiker.



Donnerstag, 8.58 Uhr

Schwindlig in Rom: Carola Spadonis "Drehungen" (Forum)

Wenn das Berlusconi wüsste! Ausgerechnet ein Film über Outlaws und Lebenskünstler (die aus den Reihen des Cavaliere schon mal als Pack beschimpft werden) stellt den einzigen rein italienischen Forums-Beitrag des Festivals dar. Ganz bewusst zeigt Carola Spadoni in ihrer häufig improvisiert wirkenden, zum Teil mit Laiendarstellern verwirklichten Arbeit ein Rom "jenseits von geregelten Berufen, Mietverhältnissen, Handys, Autos, Familie". Die Stadt am Tiber von den Rändern her gesehen.

Nachdem der Film zunächst wie eine Tagversion der Schlusssequenz von Fellinis "Roma" anläuft, und wir die Bellezza der Stadt für ein paar Minuten aus der Mopedperspektive erleben, ist rasch Ernüchterung angesagt. Vergiss mal Fellini, vergiss vor allem das Rom, das du kennst, und folge diesem Blick.

Den Duktus des Zeigens behält Spadoni bei. Zeigt uns die Flussmenschen, die unter Brückenbögen hausen, beim Pastaessen und Palavern (die titelgebende Sequenz muss das sein, fährt die Kamera doch lange, zu lange um den Tisch herum), den nomadisierenden Dichter Victor Cavallo, der aussieht wie der frühe Joschka Fischer und der sich auf dem Flohmarkt in Porta Portese mit erstaunlichem Charme als Bürgermeisterkandidat promotet, schließlich die Bar, in der sich zur blauen Stunde die üblichen Nachtgestalten einfinden.

Spektakulär ist das alles nicht. Von Duchamps "Energie der Seitenblicke", die die Regisseurin gern nutzen möchte, ist nur selten etwas zu spüren (so bei der Vereitelung eines Selbstmords unter der Brücke und in den kurzen Slow-mo-Shots, in denen Victor auf dem Moped durch die Stadt zu schweben scheint), das "dogmatische" Geschaukel mit der Kamera nervt bloß, und wieso sich das Ganze "Großstadt-Abenteuerfilm" nennt, bleibt die längste Zeit der Vorführung ein Rätsel. Wer nicht aufsteht und geht, ist entweder zu müde oder hat sich von "Joschka" charmieren lassen. Der immerhin weiß, wo's nett ist - in der Kneipe nämlich. Hier, gegen Ende des Films, gelingt endlich auch, was Spadoni vorgeschwebt haben mag: Das Biotop zeigt Leben. Aber da ist es schon reichlich spät in Rom. Sascha Josuweit
"Giravolte - Drehungen" von Carola Spadoni, mit Victor Cavallo u.a., Italien 2001, 85 Min.
Termine.