Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 2. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl
10.02.2006. Regisseur Stephen Gaghan hat es mit "Syriana" geschafft: Er sieht jetzt besser aus als George Clooney. Amos Gitai erzählt in seinem Dokumentarfilm "News from House, News from Home" die eindrucksvolle Geschichte eines Hauses in Jerusalem. Im dänischen Wettbewerbsbeitrag badet ein präoperativer Transsexueller seine Füße "en soap". Wie bitte sieht ein Araber aus? In dem israelischen Film "Close to Home" geht Soldatin Mirit lieber zum Frisör, als solche Fragen zu beantworten. Durch Teheran führt uns Nasser Refaies "Another Morning". In Pepe/Fultuns "Brothers of the Head" rockt ein siamesisches Zwillingspaar London. Sono Sions "Strange Circus" führt durch die blutrote schizoide Welt einer jungen Frau. Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
Einführungsseminar mit guter Besetzung: Stephen Gaghans "Syriana" (Wettbewerb)

Die Welt ist verdammt kompliziert. Das sieht man "Syriana" an. Während Geheimdienstler Bob den Konvoi aufhält und versucht, den idealistischen Prinzen zu warnen, träumt der aufstrebende Finanzexperte an dessen Seite von einem demokratischen Emirat, verrät der aktenfressende Anwalt seinen Chef, wird die Fusion zweier Ölkonzerne unter Dach und Fach gebracht, und der alte Strippenzieher nippt an seinem Whiskey, weil er weiß, auf wen genau in diesem Moment die CIA mit einer ferngesteuerten Rakete zielt - auf Bob natürlich, ihren Kollegen. Alles ist verbunden, heißt es auf dem Filmplakat, und niemand blickt so richtig durch, wer mit wem. Besonders, wenn es wie hier um die amerikanischen Interessen am Persischen Golf geht, um hohe Politik also, nationale Interessen, und natürlich verdammt viel Geld.

Filmemachen an sich ist eine chronologische Sache. Auf der Leinwand kann nur eines nach dem anderen gezeigt werden. Im besten Fall ergibt das eine Geschichte. Regisseur Stephen Gaghan, der auch das Drehbuch geschrieben hat, will dieses Gesetz außer Kraft setzen. Er will das große todernste Spiel darstellen, als hätte er es unter einen gigantischen Computertomographen geschoben. Auf dem entstehenden Bild sieht man einen Organismus, dessen einzelne Zellen scheinbar chaotisch miteinander agieren. Sie verbünden sich, um sich kurz darauf wieder zu bekämpfen, sie helfen sich, um sich dann gegenseitig auszulöschen. Aus der Entfernung betrachtet gibt alles einen Sinn. Es gewinnt, wer am meisten Geld hat. Oder am meisten Glaube, da ist sich Gaghan noch nicht sicher. Sicher ist, dass dieses Konzept des parallelen Erzählens, wie es bei Gaghans Meisterstück "Traffic" noch funktioniert hat, hier scheitert.

Warum? Es sind einfach zu viele Mitspieler, die Gaghan unterbringen will. Dutzende von Namen, die Authentizität, aber kein Drama bringen. Mit niemanden kann man sich identifizieren, weil alles nach Plan läuft. Der ganze Film wirkt wie ein Einführungsseminar in das dreckige Geschäft mit dem Öl. Und als uns der Regisseur endlich reif hält für die Handlung, als eine der zahllosen Geschichten nach all den endlosen Geheimdiensteinsätzen, Familiendramen, Ermittlungen und Hintergrundgesprächen gerade abheben will, wird das Fenster zugeschlagen. Oder der rote Knopf gedrückt. Der Reset-Befehl. Es kommt alles, wie es für einen politischen Film aus der demokratischen Ecke Hollywood kommen musste. The winner is: Bad Big Business.

Für jeden aufrichtigen Demokraten ist das deprimierend, ohne Zweifel. Für jeden Kinobesucher aber auch recht fad. Denn man ahnt ja spätestens seit dem ersten Vorstellungsgespräch, dass die Besten nicht unbedingt den Job bekommen. Zwei Überraschungen gibt es aber doch, und für beide sorgt George Clooney. Mit ihm gibt es eine Folterszene, die einem im wahrsten Sinne des Wortes die Zehennägel aufbiegt. Außerdem beweist er, dass ein Vollbart und dreißig angefutterte Pfund sogar Dr Douglas Ross etwas unauffälliger machen können.

Christoph Mayerl

"Syriana" Regie: Stephen Gaghan. Mit George Clooney, Matt Damon, Jeffrey Wright, Chris Cooper u.a., USA 2005, 126 Minuten. (Wettbewerb außer Konkurrenz)


Sublim: Amos Gitais Dokumentarfilm "News From House / News From Home"

Filme sind auch Erfahrungen, die man macht, wenn man sie sieht. Manche Filme bleiben fad von Anfang bis Ende. Manche packen dich und lassen dich nicht mehr los. Andere bauen ab oder hängen durch. Amos Gitais "News From House / News From Home" fand ich erst so langweilig, dass ich nach zehn Minuten raus wollte, um vielleicht doch lieber George Clooney in "Syriana" zu sehen. Ich blieb. Der Film wurde halbwegs interessant. Dann verblüffend. Dann umwerfend. Dann war ich den Tränen nah.

"News From House / News From Home" ist ein Dokumentarfilm. Der sehr renommierte israelische Regisseur Amos Gitai, ein gelernter Architekt, besucht einen eigenen Film, zwei Filme sogar, genauer gesagt. Der erste entstand im Jahr 1979, der zweite vor neun Jahren. Stets ging es um ein Haus in Jerusalem, das bis 1948 einer palästinensischen Familie gehörte. Seither leben Israelis darin. Vor 27 Jahren wurde daran gebaut, heute wird weitergebaut. Vor neun Jahren besuchte Gitai die Familie Dajani, die seit 700 Jahren in Jerusalem lebt, der einst das Haus gehörte. Für seinen neuen Film besucht er sie ein weiteres Mal, viel hat sich nicht verändert. Ratlos saßen sie auf der Couch, ratlos öffnen sie ihm heute die Türen. Später wird Gitai Dr. Dajani auf die Straße vor dem Haus begleiten, das ihm lange nicht mehr gehört.

Dann sucht Gitai eine Verwandte der Dajanis auf, sie lebt in Amman, Jordanien, ist nach 1948 nur zweimal nach Jerusalem zurückgekehrt. Sie ist eine formidable alte Dame von achtzig Jahren, hat sich ihr riesiges Haus zum orientalischen Salon staffiert, mit Teppichen an den Wänden, Blumen überall, Schmuck und Ornament, Plüsch und Fotos der Herrscherfamilie von Jordanien. Sie erzählt aus ihrem Leben, ist geistig präsent. Sie zeigt Fotos, wie fast alle, die Amos Gitai immer Fotos zeigen, zu denen sie Geschichten erzählen, von Toten meist.

Noch eindrucksvoller der Besuch bei der heutigen Bewohnerin des Hauses, das hier als zentrale Metapher fungiert, als Metapher des Verhältnisses von Palästinensern und Israelis. Sie ist in der Türkei geboren, erzählt von der Toleranz, die dort den Juden entgegengebracht wurde, vom friedlichen Zusammenleben von Moslems und Juden und Christen. Ihr Vater war ein Uhrmacher aus Deutschland, der die Uhren in den türkischen Moscheen reparierte. Sie findet es nicht gerecht, dass sie nun dies Haus besitzt, das einem anderen gehörte. "Es ist die Geschichte", sagt sie. "Ich habe sie nicht gemacht, ich kann sie nicht rückgängig machen."

Beim Besuch bei einem der Nachbarn, Herrn Kichka, er wohnt gleich gegenüber, stockt einem der Atem. Ein Israeli, der von einem bronzenen Schlüssel erzählt, den ein Enkel des früheren Bewohners des Hauses bei einem Besuch sehen wollte. Der Schlüssel, erklärt Herr Kichka, ist bei den Palästinensern das Symbol des Rückgabeanspruchs. Er erzählt von einer bekannten palästinensischen Karikaturistin, die mit einem Schlüssel signiert. "Das ist die Bedeutung des Schlüssels", sagt der Mann. "Sie erhalten den Anspruch auf ihr einstiges Eigentum aufrecht." Furchtbare Karikaturen hat sie gezeichnet, erzählt er, wie die von Sharon, der im Blut der Palästinenser badet. "Karikaturen sind wichtig", insistiert er, "sie sagen uns, was die Leute denken." Dann zeigt er Fotos, auch er, schwarz-weiß, seine Großeltern, Großtante, alle von den Nazis ermordet.

Amos Gitai rechtet nicht. Er lässt beide Seiten zu Wort kommen. Niemand eifert hier, alle wissen um das Ausmaß des Unglücks. Die meisten Szenen sind mit der Steadycam gefilmt - und das kommt einem bald vor wie eine subtile ästhetische Metapher. Keine Reißschwenks, kein Gefuchtel. Gitai will die Ruhe bewahren im Auge des Sturms. Er macht außerdem Sachen, die man bedenklich finden könnte. Seine Stimme meditiert im Voiceover aufdringlich über das Haus als Metapher, es klingt, als hätte man aus Versehen den Audiokommentar einer DVD eingeschaltet. Unter vielen Bildern liegt Musik, Klaviergeklimper. Das ist aber alles ziemlich egal am Ende.

Sublim ist der Schluss. Man sieht das Gesicht von Natalie Portman auf der Fahrt durch das Tal des Jordan. Mit ihr hat Gitai seinen letzten Spielfilm gedreht, "Free Zone". Sie sagt nichts, sie hält nur die Augen offen, zeigt einmal hinaus in die vorbeifliegende Landschaft. Man weiß nicht, was sie da gesehen hat.

Ekkehard Knörer

"News From House / News From Home". Regie: Amos Gitai. Dokumentarfilm, Israel, Frankreich, Belgien, 2006, 93 Minuten (Forum)


Heteronormativitätskritische Toleranzbotschaft: Pernille Fischer Christensens "En Soap" (Wettbewerb)

Es gibt langweilige Filme und es gibt belanglose Filme. Der Unterschied? Keine Ahnung. Der dänische Wettbewerbsbeitrag "En Soap" ist jedenfalls beides.

Ein Kammerspiel zwischen zwei Wohnungen. Oben wohnt Charlotte (Trine Dyrholm), die nach vier Jahren Kristian (Frank Thiel) verlassen hat und nun einen neuen Anfang sucht. Unten wohnt Veronica (David Dencik), die Ulrik heißt, ein präoperativer Transsexueller, schüchtern, mit Hund und hübscher Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Charlotte klopft an Veronicas Tür, so lernen sie sich kennen. Im Folgenden lernen sie sich dann näher kennen. Sie sehen gemeinsam die amerikanischen Soap Operas, die Veronica so liebt. Sie kommen sich näher. Und näher. Zwischendurch gibt es Widerstände, innere und äußere. Die Mutter, zum Beispiel, die nicht wahrhaben will, dass ihr Ulrik Veronica ist.

Wie bei Dogma selig wackelt die Handkamera bei natürlicher Beleuchtung und produziert hässliche Bilder. Die Einfallslosigkeit des Drehbuchs überträgt sich so immerhin unmittelbar. Das ist alles gut gemeint und gespielt, ohne jeden Wagemut, dümpelt dahin unter der Flagge seiner heteronormativitätskritischen Toleranzbotschaft. Und weil Regisseurin Pernille Fischer Christensen dann doch gemerkt hat, wie belanglos das alles ist, eine Transsexuellensoap eben, hat sie eine Ebene draufgesattelt und unterbricht das Programm in Schwarz-Weiß mit Zusammenfassungen des Geschehenen und zu Erwartenden. Aber in Klischee und Drehbuch-Not bringt auch der Meta-Weg nur den Tod.

Das ganze, verstehen wir, ist nichts als en soap, eine Soap also, oder doch eine Seifenlauge. Zwischendurch badet Charlotte ihre Füße darin.

Ekkehard Knörer

"En Soap - Eine Soap". Regie: Pernille Fischer Christensen. Mit Trine Dyrholm, David Dencik u.a., Dänemark 2006, 102 Minuten (Wettbewerb)


Wie bitte sieht ein Araber aus? "Close to Home" von Dalia Hager und Vidi Bilu (Forum)

Smadar und Mirit sind zwei junge Mädchen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Draufgängerisch und rebellisch die eine, die andere angepasst und ehrgeizig. In der Schule, an der Universität hätten sie nichts miteinander zu schaffen. Doch sie leisten ihren Wehrdienst in der israelischen Armee ab und müssen gemeinsam die Straße von Jerusalem patroullieren. Ihre Aufgabe besteht darin, sich von jedem Palästinenser, der ihnen über den Weg läuft, die Papiere zeigen lassen. Für den Fall eines Anschlags sollen die Identitäten von so vielen jungen, arabischen Männern festgehalten sein wie möglich.

Mirit erledigt ihren Auftrag ergeben, die übergeordneten Staatsinteressen ebenso im Blick wie ihr eigenes Fortkommen, weniger dagegen, welche Demütigung diese Prozedur für die Palästinenser bedeutet. Smadar geht im Zweifel lieber zum Friseur, als unbescholtene Menschen so herablassend zu behandeln: "Woher soll ich bitte wissen, wie ein Araber aussieht?" Bis die nächste Bombe in der Fußgängerzone hochgeht. Und die brave Mirit sich verknallt.

Widerstrebend entwickeln die beiden Mädchen Freundschaft zueinander, merken dass sie aufeinander angewiesen, um nicht fahrlässig und verantwortungslos zu werden. Aber auch um nicht in der militärischen Logik aufzugehen, die in jeder Gefühlsregung eines Teenagers eine Gefährdung der nationalen Sicherheitslage sieht.

"Close to Home" (Karov la Bayit) erzählt recht gerade, ohne viel Aufhebens die Geschichte dieser beiden Mädchen, die sich dagegen sträuben, in Israels sankrosankter Institution, der Armee, völlig aufzugehen. Sie stellen sie aber auch nicht in Frage. Sie sind nur einfach mit ihren 18 Jahren völlig überfordert, Sicherheit zu garantieren und dabei gewisse menschliche Standards nicht zu verlieren.

Es ist die alte Geschichte von der Freundschaft unter Kameraden, von Verbiegung und Selbstbehauptung , die mit männlicher Besetzung oft genug erzählt worden ist. Ungewöhnlich ist für europäische Augen natürlich, in diesen Rollen Frauen zu sehen. Und die beiden Autorinnen Dalia Hager und Vidi Bilu wollen mit ihrem Film vor allem zeigen, dass die israelische Armee nicht nur ein männlicher Mythos ist, sondern auch weibliche Realität. Allerdings tun sich die Schauspielerinnen am Anfang auffallend schwer, einen überzeugenden Kommandoton anzuschlagen.

Thekla Dannenberg

"Karov la bayit - Close to Home". Regie: Dalia Hager und Vidi Bilu. Mit Smadar Sayar, Naama Schnedar, Irit Suki u.a., Israel 2006, 90 Minuten (Forum).


Unser Mann in Teheran: Nasser Refaies Film "Another Morning" (Forum)

Seine Frau ist tot, die Trauergesellschaft verabschiedet sich. Der Mann ist allein, sein Name ist Kamali. Wir sind mit ihm allein, für den Rest des Films, Einstellung für Einstellung. Kamali schweigt. Und schweigt. Kamali wird bis zum Ende des Films kein Wort gesprochen haben. Er ist verstummt. Er tut Dinge. Er tauscht das Trauerfoto seiner Frau auf der Kommode gegen ein anderes, auf dem sie lebendiger aussieht. Er geht in sein Büro, sitzt dort an seinem Tisch, und schweigt. Er eilt, um zu weinen, auf die Toilette. Er rasiert sich und sieht im Spiegel einen neuen Mann. Wir sehen ihn auf dem Friedhof, er weicht den ums Grab versammelten Trauernden aus, nicht beim ersten, aber beim zweiten Mal. Später versucht er sich an der Waschmaschine, aber sie macht keinen Mucks. Also stellt er sich unter die Dusche und wäscht seine Sachen von Hand. Er hängt sie, als der Wäscheständer voll ist, übers Mobiliar.

Bei all diesen Dingen beobachten wir Kamali, den Mann, der schweigt. Man sollte meinen, Nasser Refaies "Another Morning" sei deshalb ein trauriger Film. Ein Film über Trauer. Das ist er auch - aber er ist auch komisch. Und nicht nur das - er ist auch ein recht gewagtes Porträt der iranischen Gegenwartsgesellschaft. Schweigend nämlich ist Kamali unterwegs, zu Fuß und mit dem Auto, auf den Straßen der Stadt und der Vorstadt. Dinge stoßen ihm zu. Einmal beobachtet er eine Drogenübergabe, so sieht es jedenfalls aus. Eine Gruppe junger Männer stürmt an ihm vorbei, er läuft, weiß der Teufel warum, einer spontanen Eingebung folgend, mit ihnen mit und bekommt es mit der Staatssicherheit zu tun. Kamali ist, für uns, das beginnen wir irgendwann zu begreifen, mehr als ein schweigender Mann in Trauer. Er ist auch unser Mann in Teheran.

Seine Augen sind so groß wie die unseren und er bewegt sich durch diese Welt, als wisse er nicht, wie ihm geschieht. Er ist ein wandelnder Distanzierungseffekt und somit die komische Figur par excellence. Durch den Tod seiner Frau ist die Bindung zur Lebenswelt zerstört, also fallen Leben und Welt auseinander. Die Begegnung mit den Dingen des Alltags wird zum komischen Kampf, nicht viel anders als für Monsieur Hulot. Und auch der spricht ja nicht (viel).

Wie sieht die Welt nun aus, wie der Alltag in Teheran, die unser Mann uns zeigt und vor Augen führt? Die Lotterie spielt eine wichtige Rolle, das Fernsehen zeigt Nachrichten und Shows und Filme und Fußball. Die Behörde macht es denen, die zu ihr kommen, nicht leicht. Kriminalität, auch die Klage über die wachsende Kluft zwischen arm und reich, sind gegenwärtig. Am Nationalfeiertag sieht man einen Prediger, Refaie erlaubt sich den Scherz, ihn durch den Glasdurchbruch einer Tür zu filmen. So wird er distanzierend gerahmt vom Holz der Tür. Was er sagt, ist nicht zu hören. Wie hier, zeigt sich die Raffinesse des Films, der strikt auf Einfachheit setzt, im Kleinen. Man könnte sagen: Der Trauer seiner Figur wird er nicht gerecht. Er denunziert sie nicht, aber er nutzt sie um, als verfremdende Beobachterperspektive. Kamali fällt aus der Welt und schließt sie uns dadurch auf.

Ekkehard Knörer

"Sobhi Digar - Another Morning"
. Regie: Nasser Refaie. Mit Majid Jalilian, Raya Nasiri, Nezam Manouchehri, Manouchehr Mobasser u.a., Iran 2005, 90 Minuten (Forum)


Bang Bang: Echter als das Leben - "Brothers of The Head" von Luis Pepe und Keith Fulton (Panorama)

Irgendwo draußen an der englischen Küste wachsen zwei siamesische Zwillinge auf. Sie sind durch einen Wulst aus Fleisch am Bauch verbunden, sie sind Freaks. Eines Tages, die siebziger Jahre haben gerade begonnen, kommt ein Anwalt in die Einöde. Er will Tom und Barry unter Vertrag nehmen, für das Showgeschäft. Er will eine Band aus ihnen machen, eine Band, die sich nie trennen kann. In einer Villa am Rande Londons werden die beiden einquartiert. Tom lernt Gitarre spielen, Barry singt dazu. Sie werden ausgenutzt, gezwungen, geschlagen. Als "The Bang Bang" sollen sie die Londoner Clubs rocken. Und es klappt. Ihre animalische Energie und ihre bodenlose Traurigkeit lassen "The Bang Bang" zur Legende werden. Denn die Zwillinge sind besser als alle anderen. Wilder. Verzweifelter. Anders als alles bisher Dagewesene. Die Zwillinge sind eine Kerze, die an beiden Enden brennt.

Keith Fulton und Luis Pepe lassen Tom und Barry und "The Bang Bang" mit Hilfe von unglaublichem Originalmaterial und konzentrierten Interviews mit den Beteiligten wieder auferstehen, in einer schweißtreibenden, drogenbefeuerten Intensität, die alles so groß und echt werden lässt, dass man zum Bewohner dieser Villa, zum Beobachter dieser Zwillinge, zum Fan auf den Konzerten wird. Nun ist es an der Zeit, eine Warnung auszusprechen: Wer den Film in vollem Umfang genießen will, sollte nicht weiterlesen, sondern sich den Film vormerken.

Letzte Zeile vor der Wahrheit.

Denn natürlich ist alles eine riesige Täuschung. Das körnige Filmmaterial, die verschobenen Farben, die schlechte Beleuchtung, die plötzlich abbrechenden Aufnahmen. Ausnahmslos erfunden sind auch der cholerische, hypernervöse Manager, der sympathische, dauerrauchende Gitarrenlehrer, der lakonische Dokumentarfilmer, die berechnende Geliebte, der eiskalte Produzent - einfach alles. Leider auch die schnelle, harte Punkmusik, von der man kaum glauben will, dass Clive Langer sie im 21. Jahrhundert geschrieben hat.

Luke und Harry Treadaway, die auch im echten Leben Zwillinge sind, scheinen aber tatsächlich mit ihren Figuren verwachsen zu sein. Wie sie aneinander hängen, sich lieben, sich hassen und doch nicht ohne einander können, das lässt sie zu einem erinnerungswerten Paar der Filmgeschichte werden. Sie werden auch gefilmt, wie sie im Schummerlicht nackt in der Badewanne stehen und sich gegenseitig waschen, das hat eine verbotene, intime Vertrautheit. Als sie bemerken, dass sie gefilmt werden, dreht sich erst ein Kopf um, dann der andere, und beide reagieren wie ein Mensch, aus zwei Körpern, der den Eindringling mit der einen Hälfte verbal vertreibt und mit der anderen einen Schwamm wirft. Tom ist ruhiger, während Barry agressiv und unberechenbar ist. Doch beide kämpfen ständig mit den Dämonen, die aus ihrer unmöglichen Verbindung emporwachsen. Man kann den Wahnsinn schmecken, und das nicht nur in den nächtlichen Szenen, wenn sie sich von dem namenlosen Ding erzählen, das ihre Alpträume beherrscht.

Nur im Nachhinein merkt man, dass niemand, selbst die ausgewiesenen Talente Fulton und Pepe, einen derart perfekten Dokumentarfilm abliefern kann. Aber erst nachdem man den Film im Kopf noch einmal durchgegangen ist, scheint die Kamera ein wenig zu präzise, der Schnitt zu stimmig, das Material zu überwältigend. Besser ist es aber, das alles zu vergessen und sich davon zu überzeugen, dass es wirklich so gewesen sein könnte. Dann sind "The Bang Bang" auf der Leinwand wirklich wieder auferstanden, größer als das Leben und deshalb so lebendig wie Menschen nur sein können.

Christoph Mayerl

"Brothers of The Head". Regie: Louis Pepe, Keith Fulton. Mit Luke Treadaway und Harry Treadaway. Großbritannien 2005, 90 Minuten (Panorama)


Sex, Blut und Drama: "Strange Circus" von Sono Sion (Forum)

Dieser Film scheint verrückt, erst einmal. Er kehrt Inwendiges nach außen und projiziert es, blutrot, buchstäblich, auf Außenwände. Ein Riesenrad dreht sich, wir wissen nicht wo, wir wissen nicht, wie real es ist. So verrückt der Film scheint, so nüchtern ist er, so viel darf man sagen, am Ende, wenn auch auf seine ganz eigene Art. Vielleicht ist das sogar sein einziger Fehler, dass er einen klaren Kopf behält inmitten der Hölle aus Sex, Blut, inmitten des brutalen Psychodramas, das er heraufbeschwört.

Schon im ersten Bild ist das Versprechen des Titels erfüllt. Wir finden uns wieder in einem, weiß Gott, "seltsamen Zirkus", voller Transvestiten und Artisten, inmitten ansteckender Musik und plüschiger Dekoration. Die Guillotine nicht zu vergessen, die auf der Bühne steht und auf einen Kopf wartet, der rollen wird. Und wir sind es, die auf die Bühne gebeten werden, oder wenigstens scheint es so, für einen Moment. Wir finden uns an der Stelle der Kamera, im nächsten Moment jedoch nimmt die Protagonistin des Films unseren Platz ein. Nennen wir sie der Einfachheit halber Mitsuko. Sie wird sich bald genug als schizoide Persönlichkeit erweisen, die sich auf Arten, die wir nicht glauben, die wir uns nicht vorstellen wollen, mit ihrer Mutter identifiziert. Nennen wir ihre Mutter der Einfachheit halber Sayuri.

Einfach ist hier freilich nichts. Der Plot, der sich in gnadenlos blutigen Details entfaltet und umfaltet, zwingt uns in eine Dreiecksgeschichte aus Liebe, Vergewaltigung, Gewalt, Rache und Blut. Man darf von diesem Plot nur so wenig wie nötig verraten, denn die Art und Weise, wie er sich entwickelt und verwandelt, ist von entscheidender Bedeutung dafür, wie wir wahrnehmen, was wir sehen und zu sehen gezwungen werden. Diese schizoide Geschichte zwingt uns auf Wege und in Korridore, von denen wir hoffen, sie wären nicht real. Sie macht uns schaudern, sie flößt uns Angst ein vor jedem nächsten Bild, aber mit gutem Grund.

Es handelt sich nicht um Gore um seiner selbst willen, wie oft genug in den Filmen von Takashi Miike. Das durchaus psychoanalytisch lesbare Drama, das sich vor unseren Augen entwickelt, ist nur zu plausibel. Der Regisseur Sono Sion - sein Debütfilm trug den Titel "Ich bin Sono Sion" (man mag es nach "Strange Circus" bezweifeln), er hat, so ist zu lesen, auch schon bei Schwulenpornos Regie geführt - weiß, was er tut, er verwendet seine filmischen Mittel kontrolliert. Die Räume, die er entwirft und erfindet, sind präzise Allegorien, nach Außen gewendetes Inneres.

Der delirante Malstrom der Bilder, mit dem "Strange Circus" beginnt, lässt im Verlauf des Films nach. Die zweite Hälfte offeriert dann eine Lesart der ersten, die schrecklichen Sinn macht, und zwar umso schrecklicher, je nüchterner sie daherkommt. Wir befinden uns am Ende am Ort des Beginns, wie es scheint. Auf der Bühne eine Guillotine, die auf einen Kopf wartet, der rollen wird. Ein seltsamer Zirkus fürwahr.

Ekkehard Knörer

"Strange Circus - Kimyo na sakasu". Regie: Sono Sion. Mit Miyazaki Masumi, Ishida Issei, Kuwana Rie u.a., Japan 2005, 108 Minuten. (Forum)