Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 7. Tag

Von Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
11.02.2004. Romuald Karmakar beschert dem Wettbewerb mit seinem Virtuosenstück "Die Nacht singt ihre Lieder" einen denkwürdigen Tag. Joshua Marston zeichnet "Maria voll der Gnade" das harte Schicksal einer kolumbianischen Drogenkurierin weich. Richard Linklater glänzt in "Before Sunset" durch Charme. Cedric Kahn glänzt in "Feux Rouges" durch Abwesenheit. Sabu schlägt mit "Hard Luck Hero" Fiction zu Pulp.
Romuald Karmakars Wettbewerbsfilm "Die Nacht singt ihre Lieder" ist ein großer, mitunter komischer Film über den Schmerz

Volle Konzentration auf Wort, Schauspieler und die Kamera. Gestern, in "Before Sunset", auf den Straßen von Paris, die naive Version, die den Worten glaubt und der hart erarbeiteten Natürlichkeit der Darsteller, und der Zuschauer, der von einer ganz funktionalen Kamera sanft zum Eindruck begleitet wird, hier sehe er das Leben selbst. Ein schöner Traum, ein Konversationsstück und der Charme der Komödie. Heute dagegen: Eine Berliner Wohnung, eine Art Weißblende am Beginn, die ersten Worte der Darstellerin, zu sich, zu einem anderen, der nicht im Blick ist. Dem anderen, der da sitzen wird und wenig sagen. Nein und ja. Er liest, er blättert, er spricht finster, er wiederholt die Worte, die er schon wiederholt hat.

Zugrunde liegt "Die Nacht singt ihre Lieder" ein Stück des Norwegers Jon Fosse, der weltweit gefeiert wird als Meister sprachlicher Verknappung. Romuald Karmakar hat den Worten in seinen höchst präzisen Rauminszenierungen eine Form gegeben und die hervorragenden Darsteller auf eine Weise geführt, gegeneinander, aneinander vorbei, die ein ums andere Mal die Sprache verschlägt. Ihnen. Und dem Zuschauer. Nichts in diesem Film geschieht hier ohne Bedacht, nicht das Zucken der Wimper, nicht einmal das Ausbleiben einer Regung. Ein Virtuosenstück aller Beteiligten, indem die Sprache in der Kettung, Verwindung, Verknüpfung zu Effekten gelangt, die sogleich in Affekte umschlagen.

Es geht um das Ende einer Beziehung. Er, ein erfolgloser Schreiber, verstummt beinahe, kaum noch fähig, die Wohnung zu verlassen. Sie, was man verstehen kann, mit den Nerven am Ende. Es gibt ein Baby, das gelegentlich schreit. Man redet aufs Intensivste aneinander vorbei, dreht sich im Kreis, immer dasselbe, in minimalen Variationen. Der Generalbass dieser sprachlichen minimal music aber ist der Schmerz. Das geht nicht ohne Komik ab, es balanciert auf dem Grat zwischen Lachen und Weinen, und die Regie und die Darsteller sind so klug, diese Unentschiedenheit, dieses Kippmoment an keiner Stelle zu verraten.

Es kommen die Eltern vorbei, eine von drei Unterbrechungen des Texts durch Musik, rabiat, leicht komödiantisch. Eine Stippvisite, das Baby sieht dir gar nicht ähnlich, hast du jetzt einen Job, Schweigen, Papi, willst du das Baby nicht sehen. Ja. Nein. Das immer wieder, auch im weiteren. Ein Ja, das kein Ja ist, ein Nein, das kein Nein ist. Aus dem Nichts, das diese Worte bedeuten, entsteht so die Wahrheit eines Verhältnisses, für das es keine Rettung mehr gibt. Große Unterbrechung, die Frau, die die Wohnung verlässt, in eine Disco geht. Anschließend: Gespräche, die um sich selbst kreisen, Worte, die, so stumpf sie sind, einen Sog erzeugen, der nichts, was geschieht, im mindesten unplausibel scheinen lässt.

Zuletzt ist ein zweiter Mann im Spiel, die Frau verflucht den ersten, sie beschimpft ihn, zieht ihn in den Dreck. Er zieht sich schweigend zurück. Jetzt zweifelt sie. Jetzt ist das Ja wieder kein Ja mehr, das Nein kein Nein. Sie hat große Worte für die Liebe zum anderen, zu Baste, er hat große Worte für die Liebe zu ihr. Nur vertrauen können sie ihnen nicht. Das tragische Ende ist unausweichlich. Man sieht, zuletzt, das Gesicht der großartigen Anne Ratte-Polle in Großaufnahme, Tränen in ihrem Gesicht. Keine Worte mehr. Der Schmerz ist Bild geworden.

Nachtrag: Ein großer Film, nur hat es keiner gemerkt. Die Presse lacht und höhnt in der Vorstellung, ständige Zwischenrufe, als hätte man einen Kindergarten ins Museum gezwungen. Auf der Pressekonferenz fliegen die Fetzen, Romuald Karmakar, der nichts durch Selbstironie abmildern kann oder will, beschimpft die Journalisten, "das ist mir zu primitiv". Auf dem Podium auch Jon Fosse, der Autor der Vorlage und sein deutscher Übersetzer, der selbst immer wieder wunderschöne Sätze sagt. Karmakar erklärt unterdessen die erste Einstellung des Films, geduldig, er predigt, verzweifelt, bringt alle gegen sich auf. Wenn man ihn für nichts sonst bewundern will, dann doch für den Mut in der Höhle des Löwen. Ein denkwürdiger Nachmittag.

Ekkehard Knörer

"Die Nacht singt ihre Lieder". Regie: Romuald Karmakar. Mit Frank Giering, Anne Ratte-Polle u.a., Deutschland, 2003, 95 Minuten, (Wettbewerb)



Jungfräulich und ahnungslos: Joshua Marstons "Maria voll der Gnade" (Wettbewerb)

"Maria voll der Gnade" erzählt eine einfache Geschichte, und er erzählt sie in einfacher Manier. Es ist die Geschichte der Kolumbianerin Maria, die ihren Job hasst und nach demütigender Behandlung durch ihren Chef hinschmeißt. Dazu ist sie schwanger, den Vater des Kindes liebt sie so wenig wie er sie, sie werfen sich das in erfrischender Freimütigkeit an den Kopf, und eines ist klar: sie muss raus aus dieser Welt, weg von ihrer schwer im Elend versackten Schwester, es bleibt nur die Flucht aus einer prädestinierten Zukunft ohne Hoffnung. So lässt sie sich ein auf ein riskantes Spiel, fliegt als Drogenkurierin nach New York und aus dem Spiel wird schnell Ernst, eine anderer Kurierin, eine Freundin fast, kommt ums Leben durch eine geplatzte Drogenkapsel.

Es ist dies, so einfach sie ist und gerade weil sie so einfach ist, eine glaubwürdige Geschichte. Ähnliche Schicksale gibt es in großer Zahl, die Verhältnisse sind so, wie der Film sie schildert. Nur vielleicht nicht so gut ausgeleuchtet. Und wahrscheinlich sind die Marias dieser Welt auch nicht so wunderschön und bei aller Schwangerschaft jungfräulich wie die von Catalina Sandino Moreno dargestellte Figur. Vermutlich ist die Mühsal, die es bedeutet, diese wie kleine Würste verpackten Drogenkapseln herunterzuwürgen, auch viel größer, als dass es mit ein paar Einstellungen und Schnitten darzustellen wäre. An der Darstellbarkeit dieses Schicksals aber hat der Film, so einfach er ist und gerade weil er so einfach ist, keine Zweifel. Er sucht sein Heil im Erzählen, einen Schritt nach dem anderen, bringt die Schwester der umgekommenen Kurierin ins Spiel und einen dicken und freundlichen Herrn, der ein paar der zu erwartenden Probleme aus dem Weg räumt.

Man sieht Maria in den Straßen von Queens, New York - und muss sich unwillkürlich an den im Forum gelaufenen Bollywood-Film "Tomorrow May Not Be" erinnern, der auch da spielte. Auf den ersten Blick liegen Welten, zwischen dem ärmlichen spanischen Queens dieses Films und dem turbulenten, gelegentlich in Gesang und Tanz explodierenden indischen Queens aus Bollywood. Und auf den ersten Blick möchte man das eine für Realismus halten, das andere nicht. Vielleicht ist das aber ganz falsch: die Bollywood-Form weiß um ihre Künstlichkeit und macht daraus ihr Prinzip. Ein Film wie "Maria voll der Gnade" aber zeigt nicht den Hauch einer Ahnung von den Schwierigkeiten, die noch vor dem ersten Bild darin liegen, politische Verhältnisse erzählförmig zu machen. In der Hinsicht war sogar John Boormans verunglückter "Country of my Skull" reflektierter: er ist mit dem vermutlich von Anfang an zum Scheitern verurteilten, aber doch klar als solcher markierten Versuch, der großen Geschichte ein intimes schwarz-weißes Liebes-Vehikel zu bauen, mit Schwung an die Wand gefahren.

Die Schwäche eines Films wie "Maria voll der Gnade" liegt genau darin, dass diese Gefahr nicht einmal besteht. Im schlimmsten Falle langweilt er zu Tode und im besten wird er ein ordentlicher Fernsehfilm. Genau das ist er denn auch, produziert vom amerikanischen Bezahlsender HBO. Man sieht das in jedem Bild und man nähme es ihm nicht einmal sonderlich übel, wäre die Auswahljury der Berlinale nicht auf die verrückte Idee verfallen, ihn in den Wettbewerb des Festivals zu schicken.

Ekkehard Knörer

"Maria voll der Gnade". Regie: Joshua Marston. Mit Catalina Sandino Moreno, Yenny Paola Vega, Guilied Lopez u.a., Kolumbien 2003, 101 Minuten (Wettbewerb)



Texanischer Rohmer: Richard Linklaters "Before Sunset" (Wettbewerb)

Richard Linklater (Bild) ist ein texanischer Auteur. Er ist ein Epigone, aber ein höchst eigensinniger. Mit "Slacker" hat er Anfang der Neunziger auf den Spuren der Nouvelle Vague das Filmen auf eigene Faust neu erfunden, er war damit - in Europa war das nicht so sichtbar wie in den USA - für den amerikanischen Independent-Film der Neunziger nicht weniger wichtig als Steven Soderbergh, auf dessen Konto diese keineswegs weltbewegende Revolution häufiger gebucht wird. Mit "Before Sunrise" (1995) hat Linklater dann auch in Europa so etwas wie den Durchbruch geschafft, die Berlinale-Jury war charmiert, es gab damals, 1995 den Silbernen Bären. Danach kam dies und das, viel Lob für "Waking Life", zuletzt das schwache No-Budget-ein-ganzer-Film-in-einem-Hotelzimmer-Experiment "Tape" (mit Ethan Hawke in einer der drei Rollen und in Deutschland nicht zu sehen) und die Auftragsarbeit "School of Rock" - die gerade in den deutschen Kinos läuft.

Und nun hat Linklater die späte Fortsetzung zu "Before Sunrise" gedreht, mit dem nun endgültig an Gerhart Hauptmann gemahnenden Titel "Before Sunset". Dieselben Figuren, dieselben Darsteller, als Schauplatz jedoch nicht Wien, sondern Paris. Zweifel durften erlaubt sein, Ethan Hawke hat es in der Pressekonferenz selbst gesagt: Wäre der neue daneben gegangen, man hätte den alten Film gleich mitruiniert. Und es war zu befürchten, denn Linklaters große Schwäche war in "Waking Life" sichtbarer denn je gewesen: das Drehbuch. Linklater ist ein Autor, der zum philosophischen Geschwafel neigt, über Gott und die Welt. Rohmer in der texanischen Variante - ohne die Bösartigkeit, die strukturelle Strenge, die Subtilität des Vorbilds. Ein Regisseur, den man für seinen Eigensinn und für seine Experimentierlust noch immer mögen musste, nur zu ertragen war er nicht mehr.

Wie durch ein Wunder aber ist in "Before Sunset" alles wieder gut. Das von der versammelten Presse überaus freundlich beklatschte Werk ist mindestens so nett wie der Vorgänger, und wer den nicht mochte, wird auch den neuen Film mutmaßlich nicht mögen. Wichtiger aber: Das gilt auch umgekehrt. Wiederum werden große Fragen verhandelt, Liebesdinge in erster Linie, aber es mangelt nicht an ironischer Brechung im rechten Moment und vor allem mangelt es nicht - wie in "Waking Life" - an der Erdung des Geredes in der Bindung an die beiden Charaktere. Die Prämisse des Sequels ist so einfach wie zwingend: Jesse (Ethan Hawke) hat ein Buch geschrieben, über seine Nacht mit Celine, bei der letzten Lesung in Paris steht sie plötzlich da.

Sie kommen ins Gespräch, haben nur eine kurze Frist, sein Flugzeug wartet, sie gehen durch die Straßen von Paris. Sie reden über die Nacht, über sein Buch, über das Ende, das er offen lässt, das auch beim ersten Film offen blieb: Haben sie sich wieder getroffen, sechs Monate später, eine Frage, die die Zuschauer des ersten Films schon immer mitten entzwei geteilt hat in Romantiker und Realisten. "Before Sunset" findet eine salomonische Lösung (er war da, sie nicht, aber wie und warum, das darf natürlich nicht verraten werden) und vor allem nimmt der Film den Faden da wieder auf, wo er abgerissen war. Die beiden sind die, die sie waren und sie sind es nicht. Im glaubwürdigen Umspielen dieses Selbstverhältnisses liegt eine der ganz großen Stärken des Films, - und dass es für den Betrachter ebenfalls neun Jahre her ist, das macht das wahrhaft Bezwingende dieses Fortsetzungs-Experiments aus.

Und das Buch ist gut, geschrieben, in Emails von Koninent zu Kontinent, von Linklater wie seinen Hauptdarstellern gemeinsam. Delpy wie Hawke bringen ein weiteres Mal das große Kunststück fertig, dem Spiel den Schein der Natürlichkeit zu geben. Die Zeit vergeht wie im Flug, die Stadt tut, wie schon damals, wenig zur Sache, und von Minute zu Minute ist man mehr gespannt auf den Ausgang. Der selbstverständlich auch nicht verraten wird, nur soviel: Sehr schön ist das Ende, sehr charmant. Und überhaupt, um einen Schweizer Kollegen auf dem Weg aus dem Berlinale-Palast zu zitieren: "S'isch e wundrbare Film".

Ekkehard Knörer

"Before Sunset". Regie: Richard Linklater. Mit Ethan Hawke, Julie Delpy u.a., USA 2003, 80 Minuten (Wettbewerb)



Wo ist die Regie? "Feux Rouges" von Cedric Kahn

"Feux rouges" ist der langweiligste Film aller Zeiten, und das liegt nicht an Carole Bouquet. Die hat hier nur zwei kurze Auftritte: zu Beginn des Films, wenn sie als Helene mit ihrem Mann Antoine in den Urlaub fährt, und am Ende, wenn er sie in einem Krankenhaus wiederfindet. Dazwischen war sie verschwunden - entnervt von dem Streit mit ihrem Mann, der an jeder Tankstelle hält um einen zu kippen und dann einen wehleidigen Streit vom Zaun bricht ("du behandelst mich nicht wie einen Mann!"). Beim nächsten Halt setzt sich Helene ab. Sie will mit dem Zug weiterfahren. Antoine gabelt derweil in einer Bar einen Mitfahrer auf, ein entflohener Sträfling, wie sich herausstellt, der als besonders brutal gilt. Ein "richtiger" Mann, wie Antoine bewundernd bemerkt. Auch Helene wird diesem Mann begegnen.

Eine Ehegeschichte, verpackt in einen Thriller (der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von George Simenon). Die Schauspieler machen ihre Sache gut. Jean Pierre Darrousin, der aussieht wie eine französische Variante von Glenn Ford, spielt den Besoffenen, der sich immer mehr in seine Wehleidigkeit hineinsteigert, ohne lächerliche Übertreibung. Und Carole Bouquet sieht bei aller Schönheit inzwischen leicht verhärmt aus. Wenn sie die Lippen zusammenpresst, und ihrem Mann befiehlt zu schweigen, damit sie die Schilder lesen kann, ist sie so sehr eine erbarmungslose Mutter Vernünftig, das Darrousins Selbstmitleid hinreichend verständlich wird.

Wer in diesem Film keine Idee hat, ist der Regisseur. Der entflohene Sträfling ist besonders gefährlich? Wir müssen es glauben, denn es wird im Fernsehen verkündet. Wenn er auftaucht, ist das einzige, was Gefahr suggeriert, sein Bart, so einer, wie ihn nur Häftlinge und polnische Gewerkschaftsführer tragen. Ansonsten sitzt er auf dem Beifahrersitz und schweigt. Stundenlang - so kommt es einem jedenfalls vor - sieht man die beiden Auto fahren. Stundenlang telefoniert Antoine Helene hinterher, die verschwunden ist. Die Kamera starrt in das Gesicht der Schauspieler und wartet darauf, dass die Gefahr, die überhitzte Atmosphäre, die Angst, sich irgendwie mitteilt. Aber das geschieht nie. Die Schauspieler, vom Regisseur derart im Stich gelassen, gehen einfach unter. Und der Zuschauer? Schläft ein.

Anja Seeliger

"Feux rouges". Regie: Cedric Kahn. Mit Carole Bouquet, Jean-Pierre Darroussin u.a., Frankreich 2003, 106 Minuten (Wettbewerb)



Schlägt Fiction zu Pulp: Sabus "Hard Luck Hero" (Forum)

Ausgangssituation: Boxring. Nun musste der schon für manches stehen, als Ort eines Zweikampfs aufs Blut. Hier aber bleibt, mit einem ersten Schlag, der Kampf aus, es trifft, zu seinem Pech, der Held ins Schwarze und bringt damit die Geschichte in Gang. Nur um diese Struktur scheint es zu gehen. Das Umlegen des Schalters von der Begrenzung des Rings zur Bewegung. Die sechs Helden, zu zwei und zweien, stieben davon, auf die Straße, verfolgt, in rasanter Fahrt durch die Stadt, über Stock und Stein. Sabu fädelt das ein in tarantinesker Manier, aber er entleert die Geschichten zur reinen Abstraktion, der jeder Firnis etwaiger Bedeutung genommen bleibt. Er schlägt die Fiktion zu Pulp.

"Hard Luck Hero" ist ein leerer Film, bloße Struktur. Der Ring, die Fahrt, das Zusammentreffen. Es geht um die Gerade, das Zusammentreffen (des Beginns) und den Kreis, in dem alle sechs in ihren drei Autos fahren. Die Gleichung, die den Film regiert, ist so schlicht wie, bei Lichte betrachtet, genial: Bewegung ist Narration. Punktum. Der Plot ist durch nichts motiviert als die Gesetze dieser Bewegung. Die Narration geht hin und zurück und vor allem im Kreis. Sechs Helden in einem Raum, sechs Helden auf den Straßen, der Zusammenknall, sechs Helden in einem Raum. Dann ein Epilog ins Glück, das dem Pech folgt, aber das nur als Wiederholung von Kreisläufen. Der runde Tisch, die Rennstrecke, der Blick aufs Riesenrad.

Der Film gelangt nirgend anders hin als zur Allegorie seiner selbst. Er rast im Kreis, unter gehörigem Druck, der sich aber nur strukturell vermittelt. Den möglichen Tod glauben wir sowenig wie die mögliche Liebe. Ja, wir glauben gar nichts, und wir sollen auch nicht glauben. Die Struktur gerinnt immer wieder zu Konstellationen, denen es nicht an Komik fehlt, einer Komik, die aus dem Zusammenprall der Passivität der Helden und dem Schein der Unausweichlichkeit des Geschicks resultieren. Schicksal ist hier aber die schiere Zirkularität und somit von reinem Zufall gar nicht zu unterscheiden. (Was ja strukturell ohnehin wahr ist.) An dem Punkt, an dem beides zur Ununterscheidbarkeit zusammenfällt, entsteht die etwas forcierte, durch keinen tieferen Sinn gedeckte Komik des Films. Eine Pointe aber hat er nicht. Er schlingt sich in sich selbst zur Tautologie, die aus der so konsequent entworfenen Gleichung zwingend folgt: Bewegung ist Narration, Narration Bewegung. Nichts weiter. Das ist alles.

Ekkehard Knörer

"Hard Luck Hero". Regie: Sabu. Mit Sakamoto Masayuki, Nagano Hiroshi, Inohara Yoshihiko, Morita Go, Miyake Ken u.a., Japan 2003, 79 Minuten (Forum)



Linneische Klassifizierungen in "Proteus" von Jack Lewis und John Greyson (Panorama)

"Proteus" erzählt Geschichte als Vorgeschichte. Oder eher: Vorgeschichten, im Plural, denn schon im Titel kommen mehrere Fäden und Motive des Films zusammen. "Proteus" ist der lateinische Name der südafrikanischen Nationalpflanze, die linneische Klassifizierung wird Teil der Narration des Films. Er spielt auf Robben Island, in den Jahren 1725-1735 und stützt sich auf Gerichtsakten, die der Filmemacher Jack Lewis in den Archiven von Kapstadt gefunden hat. Der Prozess, der den Film rahmt, wird einem schwulen Liebespaar gemacht, dem schwarzen Claas Blank (aus dem Stamm der Khoi) und dem holländischen Matrosen Rijkaarts Jakobsz.

Gespiegelt wird die Beziehung der beiden in der Figur des britischen Botanikers auf Linneus' Spuren Virgil Niven, der als Instanz der Klassifikation auftritt und Claas Blank, den zu begehren er nie offen eingesteht, als Hottentotten zwischen Mensch und Affen einordnet. Jedenfalls steht das so im Buch, das Niven mit sich trägt, an dem er, abgrenzend, Namen gebend, aufzeichnend, forschend, Claas Blank als Eingeborenen befragend, weiter schreibt. Niven steht als schwuler Klassifikator freilich selbst zwischen den Fronten, auf höchst prekärem Posten - sein Auftreten im Prozess wird das ebenso schlagend verdeutlichen wie die Tatsache, dass sein eigener Beitrag zur Botanik in der Buchveröffentlichung gelöscht werden wird. Linneus, unter dessen Namen das Buch erscheinen wird, hat die Unterarten der "Proteus"-Pflanze umbenannt. Auch Claas Blank, auf dessen Namen Niven eine der schönsten taufte, ist aus der Klassifikation gestrichen, Blank tritt nur noch auf im Porträt zu Beginn des Buchs als Emblem eines Schwarzen, zum Mythos rückideologisiert.

Es geht also um mehrfache Grenzüberschreitungen: die Liebe zwischen zwei Männern, einer schwarz, einer weiß, die Kreuzung biologischer und sozialer Linien, die allerdings - dies eines der Rätsel, die die historischen Akten aufgeben - zehn Jahre lang im Lager geduldet worden ist. Der Film, ein gemeinsames Projekt des kanadischen Videokünstlers John Greyson und des südafrikanischen Dokumentarspezialisten Jack Lewis, zeichnet geduldig, ohne Sentimentalität und mit schönem Sinn für beiläufige Anachronismen die Geschichte einer Liebe nach, konstelliert sie in eine Umwelt aus als Natur verkleideten ideologischen Kräften und fällt kaum ein einziges Mal vom Grat zwischen Exemplarischem und Individuellem.

Ekkehard Knörer

"Proteus". Regie: John Greyson, Jack Lewis. Mit Rouxnet Brown, Shaun Smyth, Neil Sandilands, Kristen Thomson u.a., Kanada/Südafrika 2003, 100 Minuten (Panorama)



In der monochromen Vorhölle: Brad Andersons "The Machinist" (Panorama)

Trevor Reznick ist ein lebender Leichnam, abgemagert zum Skelett. Er arbeitet in einer Fabrik, lebt alleine, hat Sex mit einer Prostituierten,die ihn liebt und verliebt sich in die Bedienung im Flughafencafe. SeineWelt ist aus den Fugen. Er leidet unter Verfolgungswahn - oder er wird tatsächlich verfolgt. Vieles bleibt im unklaren, deshalb teilen wir den Schrecken, den das Unerklärliche Trevor Reznick einjagt. Ein feister Mann,der immer wieder auftaucht. Ein Unfall in der Fabrik, der einen Kollegen den Arm kostet. Post-its, die Trevor an seiner Kühlschranktür vorfindet. Man will ihm, scheint es, an den Kragen.

"The Machinist" ist einer der Filme, die von der Unbestimmtheit des Horrors leben, auf den sie es abgesehen haben. Es gibt ein Geheimnis - und schon im ersten Bild eine Leiche -, die Aufgabe des Helden wie des Betrachters ist es, dahinter zu kommen. Etwas muss geschehen sein, das jedem einzelnen Puzzle-Teil seinen Sinn gibt. Das Problem dabei: So stark die Effekte sind, die auf dem Weg zur Wahrheit, zur Lösung des Rätsels liegen, sie ziehen ihre ganze Kraft doch aus der Tatsache, dass einem das Entscheidende vorenthalten, nur in Andeutungen präsentiert wird. Es kommt der Moment, in dem man begreift und das wird es dann gewesen sein. Die Enttäuschung ist, als Aufklärung, vorprogrammiert.

Die finstere Welt, in die einen "The Machinist" hineinzwingen will, ist zudem auch technisch erzeugt. Licht und Luft und Farbigkeit sind aus den Bildern gefiltert, Trevor Reznick bewegt sich durch eine monochrome Vorhölle aus lärmenden Maschinen, fiesen Kollegen und schmutzigen Wohnungen. Was man vorgeführt bekommt, hat kaum innere Plausibilität, sondern zehrt ganz vom Geheimnis, das den Kern jeder Handlung Reznicks ausmacht. Christian Bale, der für den Film ganzen Körpereinsatz geleistet hat und keine 60 Kilo mehr wiegt (was man, bei Gott, auch sieht), spielt gegen die unerbittliche Enttäuschungslogik der Geschichte an mit allem, was er hat. Allein, es hilft nicht. Wenn einem am Ende klar wird (klar gemacht wird), was los war, was dahinter steckt, dann ist das Geheimnis aufgezehrt und die Bilder, die uns so beeindrucken wollten, fallen in der Erinnerung in sich zusammen wie manch mumifizierter Leichnam bei der ersten Berührung.

Ekkehard Knörer

"The Machinist". Regie: Brad Anderson. Mit Christian Bale, Jennifer Jason Leigh, u.a., Spanien 2003, 102 min (Panorama)